Читать книгу Die Wäscheleinen-Schaukel - Ahmad Danny Ramadan - Страница 10
Prolog
ОглавлениеDie süßesten Küsse sind jene, die wir an verbotenen Orten tauschen. Jener Kuss, den ich dir im dunklen Fond eines Taxis auf dem Weg durch Damaskus stahl, während der Fahrer über die Kontrollpunkte und den Krieg schimpfte; jener Kuss, als ich dich bei H&M in Beirut zurück in die Umkleide zog und meine Lippen auf deine presste; jener, den du mir gabst, als wir uns am Wreck Beach bei Vancouver im hohen Gras versteckten.
Für uns waren die meisten Orte verboten. Wir lernten uns im kriegsgeschüttelten Damaskus kennen und zogen im religiös gespaltenen Beirut zusammen, bevor wir schließlich in Kanada landeten. Für uns bedeutete das Vorspiel nicht sanfte Berührungen und zärtliche Küsse, sondern einen Platz zu finden, wo uns weder Polizisten noch aufgebrachte Eltern noch neugierige Nachbarn aufspüren würden. Es bedeutete, die Vorhänge fest zuzuziehen und den anderen zum Stillsein zu ermahnen, wenn er vor Lust zu laut stöhnte, was uns, wenn auch nur für kurze Zeit, ein trügerisches Gefühl der Sicherheit verschaffte.
Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, der süßeste von unseren Küssen war der allererste. Dieser Kuss ist mir kostbar, denn er war die erste Blüte in einem Garten verbotener Früchte, den wir gemeinsam pflanzten. Er war der Spross, der durch die Erde unseres banalen Lebens brach und all die anderen Blumen gedeihen ließ.
Ich sehe vor mir, wie wir eines Abends im Spätfrühling 2011 auf dem Berg Qasyun standen und schweigend auf Damaskus hinabblickten. Unter uns säumten immer mehr Lichter das Labyrinth der Straßen; die unzähligen Moscheen wurden neongrün beleuchtet. Am Abendhimmel erschienen die Sterne und funkelten auf dem dunklen Baldachin über uns; wir waren umgeben von einer unvergänglichen Kulisse tanzender Lichter.
»Was auch immer mit dieser Stadt passiert, das hier wird bleiben«, hast du gesagt, die Lichter der Stadt in deinen Augen, als berge ihr Dunkel ein ganzes Universum. »Kein Krieg kann der Schönheit von Damaskus etwas anhaben.«
Du hast auf die Umayyaden-Moschee links von uns gezeigt und mich durch die umliegenden Straßen dirigiert, bis ich dein Elternhaus ausmachen konnte, ein winziges Haus, dessen Mauern mit Weinlaub bewachsen waren. Ich wedelte vage in die Richtung, in der mein dunkles Elternhaus stand, es hob sich ab wie ein kranker Zahn, nur wenige Blocks von eurem entfernt.
Ich zitterte; meine Nase fühlte sich an wie ein Eiswürfel, der in meinem Gesicht schmolz, in meinen Augen standen Tränen. Du zogst mich an dich, legtest mir den Arm um die Schulter und begannst schüchtern zu lächeln. »Ich hatte einen schönen Tag«, flüsterte ich. Du brummtest etwas Zustimmendes.
Dort, unweit des Gipfels, tief in seinem Schatten, küssten wir uns. Meine Lippen verschmolzen nur eine Sekunde lang mit deinen; du zogst meine Oberlippe zwischen deine Zähne, und die Wärme deines Gesichts prickelte an meiner eiskalten Nase. Auf einmal warst du kein Fremder mehr. Du warst kein unbekanntes Wesen mehr, das mich gleichermaßen entzückte und ängstigte.
Du wurdest zu jemand Vertrautem, Sicherem, Einladendem und Warmem.
Aus Angst davor, von Soldaten oder Passanten in unserem Versteck überrascht zu werden, küssten wir uns nur kurz. Du strichst mir noch einmal übers Haar und löstest dich von mir. Dann setztest du dein schiefes, scheues Lächeln auf und seufztest. »Das sollten wir wiederholen«, sagte ich. Du lachtest.
Der Tag, an dessen Ende wir auf dem Berg die Sterne betrachteten, begann im Herzen der Altstadt von Damaskus, wo ich im Pages Café nervös auf dich wartete. Das Café, an der Ecke einer schmalen Gasse neben einer historischen Schule gelegen, war schummrig und gemütlich, und es wurde zum Treffpunkt für Liberale, Freidenker und intellektuelle Rebellen in Damaskus, bevor sie verhaftet oder getötet wurden oder flüchten mussten.
An den Wänden hingen abstrakte Poster und Gemälde. Manche versprachen eine Revolution, andere beschworen ein utopisches Damaskus, das die glorreichen Sechzigerjahre wieder aufleben lassen würde. Der Duft von türkischem Kaffee und frisch gebackenen syrischen Leckereien erfüllte das Café mit einem heimeligen Gefühl und überdeckte irgendwie den durchdringenden Schweißgeruch, den die Geheimpolizisten in Zivil absonderten. Sie hatten sich unter die Rebellen gemischt und belauschten unsere Gespräche, hinterließen mit ihren Stiefeln Dreck auf dem schwarz-weißen Fliesenboden und konnten es kaum erwarten zu gehen, um Freidenker anzuzeigen oder Aktivisten verhaften zu lassen.
»Ich habe eine Geschichte für dich«, sagte ich zu dir, als du an dem Ecktisch neben dem alten Klavier Platz nahmst, Sonnenstrahlen fielen, reflektiert von der Fassade der benachbarten Schule, durch die hohen, schmalen Fenster in das Café. Du hast gelächelt und dein schwarzer, akkurat gestutzter Bart glänzte mit deinen Zähnen um die Wette. Es war unsere allererste Begegnung – ich sah dich durch die Glastür kommen und wusste sofort, dass du es warst. Ich kannte deine Fotos von der Dating-Seite. Als du das schummrige Café betratst, hüllte dich die Sonne in ein engelhaftes Licht.
Du wirktest überrascht, um nicht zu sagen baff. Später erfuhr ich, dass du dachtest, was für ein Idiot du wärst, dich mit diesem Fremden zu treffen. Dass ich auf die üblichen Begrüßungsfloskeln verzichtete, machte dich verlegen, fast ängstlich. Du bist schon immer unsicher geworden, wenn du deine Komfortzone verlassen hast.
»Klar, erzähl mir eine Geschichte«, hast du taktvoll erwidert und im Geist die Schritte gezählt, die du bis zur Tür brauchen würdest.
»Meine früheste Erinnerung ist«, begann ich, »wie ich auf dem Schoß meiner Großmutter saß. Sie hat mich gekitzelt und dabei mit dem Mund so grässliche Geräusche gemacht. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, aber ich weiß noch, dass ich aus vollem Herzen lachte.«
Eine Sekunde lang lag dieser Das kann doch nicht dein Ernst sein-Blick auf deinem Gesicht. Du wusstest nicht, wie du darauf reagieren solltest. Du wusstest nicht, was als Nächstes kommen würde. In der Hoffnung, dass dich ein Anruf vor einem Nachmittag mit diesem Freak retten würde, warfst du einen Blick auf dein Handy-Display.
»Weißt du, ich erzähle dir das, weil ich ein Geschichtenerzähler bin«, sagte ich. »Ich bin ein Fabulierer, ein Dichter, ein hakawati.«
Es dauerte einen Moment. Du schautest mir in die Augen, begannst zu lächeln und sagtest: »Dann erzähl mir eine Geschichte.«
Dieses Lächeln, dieses wunderschöne, intensive, unerträglich süße Lächeln, das sich durch die vielen Schutzschichten deiner Seele einen Weg bahnte, brachte mich dazu, dich zu bitten, mich auf den Berg Qasyun zu begleiten, brachte mich dazu, dich zu küssen, mich in dich zu verlieben, während wir durch eine Stadt fuhren, die im Krieg versank.
Für den Rest unserer gemeinsamen Zeit in Damaskus hast du zweimal pro Woche bei mir übernachtet und deiner Mutter irgendeine Lügengeschichte darüber aufgetischt, wo du bist. Du zogst meine Pyjamahose an, und sie passte wie angegossen. Wir spielten Karten mit meinem Mitbewohner und blieben viel zu lang auf. Wenn dein Bedürfnis nach sozialer Interaktion gestillt war, bekamst du immer diesen speziellen Gesichtsausdruck, den ich sofort registrierte. Ich zog dich am Arm und nahm dich mit in mein Schlafzimmer. Mein Mitbewohner stellte kichernd Vermutungen über unseren Wunsch nach Privatsphäre an. Dabei kuschelten wir den Großteil der Nacht nur, weil wir mitten in der Unterhaltung einschliefen.
Der Genuss des Morgenkaffees auf meinem Balkon wurde oft durch das Schreien und Brüllen von Armeeoffizieren und Polizisten gestört, die jemanden verfolgten, um ihn zu verhaften. Sie zerrten den Flüchtigen am Hemd zu Boden, während die Frauen aus seiner Familie, die vom Fenster aus zusahen, lauthals jammerten und sich ihre weißen Kopftücher fester ums Gesicht zogen. Der Gefangene wurde unter den Blicken der Schaulustigen, darunter auch du und ich, in den Kofferraum gestoßen, dann wurde der Deckel zugeklappt und das Auto fuhr davon. Als wir das erste Mal Zeugen einer solchen Szene wurden, schlug uns das Herz bis zum Hals, und wir versteckten uns zwei Stunden lang in meinem Schlafzimmer. Nach ein paar Verhaftungen gewöhnten wir uns an das Brüllen und Wehklagen, frühstückten einfach weiter und stellten das Radio an.
Ich weiß nicht mehr, wie oft wir um drei Uhr morgens aufwachten, weil es irgendwo am anderen Ende der Stadt knallte. Der Kriegslärm hallte durch die stillen Straßen, und wir schreckten in Panik aus dem Schlaf hoch und fühlten uns sehr verlassen. Eines Nachts hast du gewimmert, noch halb im Schlaf, aus dem Land der Träume gerissen, voller Sorge, die Explosionen könnten zu nah bei uns sein. Ich strich dir übers Haar und beruhigte dich. »Das ist ein Feuerwerk, das ist nur ein Feuerwerk«, flüsterte ich, und du schliefst wieder ein.
Einmal kam die Explosion dann tatsächlich aus nächster Nähe; sie erschütterte die Wohnung und weckte uns beide auf. Wir hatten das Gefühl, es sei direkt vor unserem Haus passiert. Danach knatterten Maschinengewehre auf den Straßen.
Auf allen vieren flüchteten wir aus dem ungeschützten Schlafzimmer ins fensterlose Badezimmer. Ich legte mich in die Badewanne und du legtest dich auf mich drauf. Deine Augen waren weit aufgerissen, sahen aus wie kleine weiße Untertassen. Zitternd kautest du auf deiner Lippe herum. »Mein Rücken tut weh«, sagtest du und zeigtest auf die Narbe an den oberen Rippen, die wie eine Verbrennung aussah. »Ich bin ja da«, flüsterte ich und zog dich enger an mich, bis das Knattern der Maschinengewehre zu einem undefinierbaren Geräusch verklungen war.
In jener Nacht in der Badewanne liebte ich dich, als würde ich Gedichte über die Schönheit von Damaskus rezitieren. Als Eröffnung weckte ich dein Begehren mit sinnlichen Berührungen, schlich mich in deine Welt wie die ersten Tropfen Sonnenlicht auf den Bergen von Damaskus. Ich überzog dein Gesicht mit den Farben des Sonnenaufgangs, als ich mit den Zähnen an deinen Ohrläppchen zog. Ich erkundete jeden Winkel deines Körpers wie ein verirrter Reisender, der durch die alten, verschlafenen Straßen der Stadt wandert, klopfte mit den Fingerspitzen an das Tor zu deiner Seele wie ein schüchterner Botenjunge an die Holztüren der alten Häuser in Sarouja, wenn er warmes Brot und Baladi-Käse bringt. Ich drehte dich herum und kitzelte deine Füße, und du lachtest wie ein Kind, das im al-Jalaa-Park mit dem dowikha fährt. Ich hauchte ein lustvolles Stöhnen in dein Ohr, gleich dem Seufzer einer alten Holzbrücke, die unter dem Gewicht der Seelen, die sie trägt, ächzt. Unsere Körper verschmolzen, und wir bewegten uns, als würden wir die sich schlängelnden Straßen an den Hängen von al-Muhadschirin hinauf- und hinuntergleiten. Ich drückte atemlose Küsse auf deine Stirn, während ich deinen Körper von meinem löste, übersät von Bissspuren und herrlich nass vor Schweiß.
In jener Nacht liebtest du mich, als wärst du eine Invasionsarmee in einem plötzlich aufgeflammten Krieg. Mit ruhiger Hand zogst du mich aus und schmiegtest deinen Kopf an meine Rippen. Du hieltest mir mit der Hand den Mund zu aus Angst vor lauschenden Nachbarn hinter den dünnen Wänden. Ich gab mich deinen Händen hin wie ein verängstigter Teenager, der in einen Abgrund des Schmerzes entführt wird. Wir rangen, kämpften, deine Zähne gruben sich in meine Haut, bis du mir endlich glorreich und blutig deine Seele offenbaren konntest. Du hast gestöhnt und das Stöhnen sofort unterdrückt, wie ein standhafter Häftling, der seinen Wärtern und Folterern den Sieg nicht gönnt. Als du in mich eindrangst, wurde ich stumm, als hätte mein gesamter Körper kapituliert. Ich klammerte mich an dich wie ein Ertrinkender. Schließlich wandtest du dich von mir ab, mit reumütigem Blick und Schuldgefühlen, die du nur mit dir selbst ausmachst. Außer Atem kehrte ich von einer Reise zu deinen innersten Gedanken zurück.
Als wir die Badezimmertür öffneten und zurück ins Bett gingen, war das Knattern der Maschinengewehre längst verklungen.
Nur in diesen Augenblicken konnten wir ganz wir selbst sein, nackt in den Armen des anderen, beinahe blind für die Welt um uns herum. Außerhalb meines Schlafzimmers mussten wir auf jeden Schritt und jede Geste achten, hatten Angst vor dem Krieg, Angst vor unseren Familien, Angst vor allem außer uns beiden.
»Hakawati, geh nicht«, sagtest du, als ich ein paar Tage später aufstand, um mich anzuziehen. Du hast mit nacktem Oberkörper auf meinem Bett gesessen, und wir konnten die Stimmen unserer Freunde hören, die gerade munter wurden. Was war noch mal der Grund gewesen? Hatten wir am Abend zuvor eine Geburtstagsparty gefeiert, und alle waren so lange geblieben, dass der Heimweg quer durch Damaskus zu gefährlich gewesen wäre? Ich erinnere mich nicht mehr. Jedenfalls spielten wir die ganze Nacht Karten und tranken billigen Wodka. »Wir sind acht Leute im Haus, und ich habe nichts zum Frühstücken da«, sagte ich und suchte nach einem sauberen T-Shirt. »Ich bin in zehn Minuten zurück, ich laufe nur eben zum Laden gegenüber.«
»Ich komme mit«, sagtest du, und ich lächelte. Du strecktest mir deine Hand entgegen und ich dir meine. Unsere Finger berührten sich eine Sekunde. Aus der Ferne hörten wir eine kleine Explosion, aber das kümmerte uns nicht. Wir waren schließlich in Damaskus. Du packtest meine Hand und zogst mich zurück zum Bett, ich lachte, rief abwehrend deinen Namen, dann gab ich nach, du öffnetest den Reißverschluss meiner Hose, ich streifte deine herunter. Wir umschlangen einander mit den Armen. Deine Lippen verschmolzen mit meinen, und wir sackten aufs Bett.
»Hier drin wird’s ganz schön heiß«, sagte ich zu dir, und du hobst die Hand zum Fenster. Erst dachte ich, du hättest es zu schnell aufgezogen und dabei die Scheibe zerbrochen. Aus dem Augenwinkel sah ich Flammen, sie breiteten sich über die Straße aus wie eine jäh erblühende Feuerrose. Ein donnernder Lärm dröhnte in meinen Ohren, und Glas- und Holzstücke regneten auf mich herab. Ich packte dich, und wir rollten uns auf den Boden, Glasscherben bohrten sich uns in den Rücken. Ich schrie gellend, aber ich hörte nicht, wie ich schrie.
Dann war die Explosion auf einmal vorbei, und es herrschte wieder Stille, sozusagen die Ruhe nach dem Sturm.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich dich, deine Augen waren weit aufgerissen. »Ja. Und mit dir?« Ich musterte kurz dein Gesicht, dann stand ich auf. Geblendet ging ich zu dem kaputten Fenster. Ich warf einen Blick hinaus, drehte mich zu dir um und sagte: »Das war eine Autobombe, direkt gegenüber. Direkt vor dem Laden.«
Doch all das ist jetzt nur noch eine ferne Erinnerung. Diese Erinnerungen sind mein einziger Trost, während ich hier in diesem Bett liege, im ersten Stock unseres denkmalgeschützten Hauses in einer beschaulichen, stillen Ecke von Vancouvers West End, ein alter Mann von fast achtzig Jahren, der versucht, die Tage des Terrors in Syrien zu vergessen, ohne die Erinnerungen an unsere Liebe zu verlieren, die wir uns gemeinsam geschaffen haben.
Ich habe unzählige schlaflose Nächte damit verbracht, deine Atemzüge zu zählen, während du dich an die letzten Reste von Leben in dir klammerst. Deine wunderschöne Brust, inzwischen mit weißen Haaren bedeckt, bewegt sich rhythmisch auf und ab wie die Wellen am Strand von Beirut, wo du mir einmal das Leben gerettet hast. Damals war dein Brusthaar schwarz, ein Inbegriff der Männlichkeit auf deinen Muskeln. Du hast mich aus der Ferne angeblickt und gelächelt. Ich gestattete meinem Blick, über deinen Körper zu wandern, und rief mir deine Konturen und das Gefühl deiner Haut in Erinnerung, bevor ich zurücklächelte.
Siebenunddreißig Jahre lang war ich der Schwache; ich bin derjenige, der ständig krank wird, sich ins Bett verkriecht und keine Berührungen erträgt. Ich bin derjenige, der jammert, wenn er sich den Zeh an dem verdammten Tischbein anstößt. Ich bin der mit den Knochenbrüchen und der ausgekugelten Schulter. Und jetzt kommst du mir beim Sterben zuvor? Ich fühle mich betrogen, ja, sogar verraten. Dabei habe ich mich doch so angestrengt! Damals am Strand habe ich dir versprochen, das Rauchen aufzugeben und beim Whisky kürzerzutreten. Und schau mich jetzt an, ich bin ein alter, mürrischer Mann, der mit einem Glas in der Hand und einer Zigarette im Mund herumläuft, während du auf dem Totenbett liegst.
Du musstest ja unbedingt eine Million Mal diesen verdammten syrischen Spruch sagen: »Tou’borni inschallah«, mögest du mein Grab schaufeln. Es ist scherzhaft gemeint, und ich antworte darauf mit: »Baid al-shar«, möge das Böse fernbleiben. Was soll daran liebevoll sein, wie kamen unsere Großväter und davor ihre Großväter nur darauf? Man fordert den Tod nicht ungestraft heraus, und offenbar hat der Tod einen makabren Sinn für Humor.
Auch dein Gesicht verrät Überraschung. Du stellst dir dieselben Fragen wie ich. Warum ich, scheinst du zu denken, warum hat sich der Tod ausgerechnet mich herausgepickt? Der Tod ist Willkür schlechthin. Einmal starb vor unserem Haus hier im West End eine Frau mit ihren Kindern. Sie wurden von einem Auto überfahren. Du hast gesagt, du hättest gesehen, wie ihr Geist ihren Körper verließ, während sich die Menschen um sie scharten. Ich konnte ihre Seele nicht sehen, die deinen Worten nach leuchtete wie tausend Sonnen. Ich machte deine Medikamente für deine Wahrnehmung der Realität verantwortlich; sie stürzten dich immer mehr in Verwirrung.
Es ist jetzt fast vierzig Jahre her, dass wir Syrien 2012 verlassen haben. Wir wurden älter in einer Stadt, in der wir nicht geboren wurden. Die Luft, die wir atmeten, war nicht für uns bestimmt. Wir bugsierten uns gegenseitig durch ein Leben, das wir nicht erwartet hatten. Tief im Innern bewahrten wir die Erinnerungen an Syrien, während wir einander dabei zusahen, wie uns die Haare ausfielen, wir Falten bekamen und wie aus jungen, ruhelosen Männern Getriebene wurden. Wir führten hier in Kanada ein einfaches Leben; geradezu ereignislos, als würden sich all unsere Erlebnisse auf die ersten vierzig Jahre unserer Existenz konzentrieren. In den mehr als dreißig Jahren danach standen wir weiterhin im Bann unseres alten Lebens und vergaßen, das neue voll und ganz auszuschöpfen. Jetzt sind wir zwei alte Männer am Rand des Vergessens, bereit, in den Abgrund des Vergangenen zu springen.
Während ich auf deinen letzten Atemzug warte, schwebe ich selbst an der Schwelle des Todes: Ich habe das Gefühl, in einem ruhigen Meer auf dem Rücken zu treiben, die Sonne scheint mir in die Augen, und ich möchte mich den Wellen ergeben – Welle um Welle trägt mich ins Unbekannte. Ich kann den Sandstrand am Horizont nicht sehen, aber ich akzeptiere die kühlen Fluten; sie laden mich ein in die dunklen Tiefen der See. »Du gehörst zu den Wesen der Kälte«, sagen die Stimmen. Meine Nervenenden sind freigelegt wie bei einem Verbrennungsopfer, und die Fluten sind meine Rettung. »Aber ich kann noch nicht gehen«, flüstere ich matt und kraftlos zurück. »Er braucht mich noch.« Die Stimmen lassen nicht locker, und es fühlt sich wie das Richtige an, mich einfach der Kälte zu überlassen. Mein müdes Ich dem letzten Abgrund anheimzugeben. Doch ich widersetze mich, und die Wellen werden wütend, werfen mich ans Ufer und lassen mich zitternd und nach Luft ringend im Sand zurück.
Deine Medikamente machen dich in letzter Zeit nervös; du sprichst kaum mit mir und schläfst fast nicht und verlangst ständige Aufmerksamkeit. Nur in meinen Geschichten findest du Erleichterung. Dabei hast du sie all die Jahre mit mir ignoriert; sie waren dir zu detailreich, oft wolltest du sie nicht hören oder du unterbrachst mich dauernd. Jetzt wachst du in den frühen Morgenstunden auf, hievst dich mühsam hoch, schaltest das Licht ein und weckst mich auf. »Ich kann nicht schlafen. Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du. »Ich habe deine Geschichten immer geliebt.«
Du wirst zu meinem Schahriyar, und ich zu deiner Schahrasad. Der Tod ist der Henker vor der Tür; er wird mich köpfen, wenn meine erschöpften Gehirnzellen deinem Wunsch nach Unterhaltung nicht nachkommen. Wir sind die Reinkarnation von drei Charakteren, die wir nur allzu gut kennen. Schahrasad rettete ihr Leben, indem sie den König neugierig auf die Fortsetzung der Geschichte machte, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass du deine Seele davon abhältst, deinen Körper zu verlassen, weil du wissen willst, wie die Geschichte endet. Du bist sozusagen ein Serienjunkie, der dem Serienfinale entgegenfiebert.
Als ich ein Junge war, schrieb ich Geschichten, um mein Leben zu retten; jetzt erzähle ich dir genau diese Geschichten in der Hoffnung, dich zu retten. Du öffnest die Augen, du bist wach. Du hievst dich hoch, schaltest das Licht ein und blickst mich an. »Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du.