Читать книгу Die Wäscheleinen-Schaukel - Ahmad Danny Ramadan - Страница 12
Die Geschichte des Geliebten, der sich für einen Abenteurer hielt
Оглавление»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagst du; in deiner Stimme liegt ein gewisser Nachdruck. »Schon gut. Du hast dein Bestes getan. Wir wissen alle, dass wir einmal sterben müssen.«
Ich starre dich verständnislos an, während ich in einer kleinen weißen Schüssel Eier verquirle und zusehe, wie sich Eiweiß und Dotter mischen. Ich gebe immer einen oder zwei Teelöffel Mehl in mein Omelett, damit es schön locker wird. Weiches Sonnenlicht fällt durchs Fenster, die angenehm wärmende Spätsommersonne von Vancouver. Der Wasserkessel blubbert auf dem Herd, und ich habe bereits zwei Teebeutel in die schwarz-weißen Becher mit Hundemotiven gelegt.
»Ach, ich habe vergessen, die Eier zu salzen«, antworte ich. Solche Gespräche über den bevorstehenden Tod und Untergang beleben dich; sie geben dir das Gefühl, ein Ziel zu haben. Ich biege bei meiner Reise in den Tod auf die Zielgerade ein, denkst du wahrscheinlich. Da kann ich mich unterwegs ebenso gut amüsieren.
Nur selten unterbrichst du unsere stumme Routine, und wenn doch, dann nur, um eine deiner düsteren Bemerkungen zu machen. Du warst schon immer ein Meister darin, deine Gedanken für dich zu behalten. Du schützt sie eifersüchtig, wie das Drachenweibchen, das seine Eier vor dem hungrigen Sindbad verteidigt. Du baust Mauern aus einsilbigen Antworten, wehrst mit Kopfschütteln und bösen Blicken ab und überlässt mir die Interpretation.
Bin ich in dich verliebt oder in das Abenteuer, dich zu entdecken? Bin ich süchtig nach dem emotionalen Puzzle, das mein Herz zusammenfügen muss? Habe ich die fehlenden Teile mit zutreffenden Darstellungen von dir ausgefüllt, oder habe ich sie in den Farben meiner eigenen Leinwand gemalt? Ich schätze, ich werde keine Zeit mehr haben, es herauszufinden. Ich bin verärgert, und du merkst es. »Scheiße«, sagst du, »du hast deinen Sinn für Humor verloren.« Du warst immer der Komiker von uns beiden.
»Nein. Ich mag nur keine Gespräche über den Tod, während ich Frühstück mache«, entgegne ich und deute mit dem Löffel hinter meinen Rücken, wo unser ständiger Gast in seinem schwarzen Umhang am Tisch sitzt und wie ein Kind mit der Gabel wedelt, während er auf seinen Anteil vom Toast wartet.
Je älter du wurdest, desto kürzer wurden unsere Unterhaltungen. Früher redeten wir über Götter und Könige, Lieder und die Schönheit des Frühlings, jetzt über das Frühstück und den nahenden Tod. Mit zunehmendem Alter wurde dir dein emotionales Chaos zu viel, als wärst du ein Glas, das bis zum Rand mit vergiftetem Wasser gefüllt ist; jetzt läuft es über und ergießt sich auf deine Zunge, und du bespuckst mich damit, wann immer es dich zerfrisst.
Du warst nicht immer so verschlossen. Du warst das Glück deiner Familie, der jüngste von deinen Brüdern, das Nesthäkchen. Alle standen dir zur Seite, schenkten dir Liebe und Aufmerksamkeit. Dein Vater bat deine Brüder, ihre Süßigkeiten mit dir zu teilen, und deine Mutter gab dir das letzte Stück Kuchen. Manchmal frage ich mich, warum du mit mir fast nie so redest wie mit deinen Geschwistern; bin ich eine Enttäuschung für dich? Könnte ich dir einen solchen Kuchen backen wie deine Mutter? Habe ich dir jemals im gleichen Maß wie deine Familie das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein?
»Das riecht gut«, sagst du von deiner Tischseite aus, und ich weiß genau, dass du lügst; du hast vor drei Jahren deinen Geruchssinn verloren. »Damals bei der syrischen Armee gab es kaum jemals frisch gekochte Eier. Wir hatten oft wochen- oder monatelang keine Eier. Habe ich dir von dem Offizier erzählt, der einem Eierdiebstahl in meiner Einheit nachging?« Ich lächle; ich drehe dir den Rücken zu, aber du weißt, dass ich lächle.
»Ach, jetzt kommst du wieder mit deinen Geschichten«, sage ich. »Ja, ich erinnere mich sogar an die Pointe: Wir bei der syrisch-arabischen Armee kalkulieren alles mit ein, Kameraden.« Ich imitiere eine tiefere Stimme. »Wenn ihr mehr als ein Ei pro Tag esst, scheißt ihr das zweite bloß aus.« Wir lachen, und du fängst zu husten an; ich sehe nach, ob mit dir alles in Ordnung ist, dann widme ich mich wieder den Eiern.
»Am schlimmsten war es, wenn der Offizier an unserem Posten auftauchte«, sagst du, den Faden wiederaufnehmend. »Wir waren an der syrisch-jordanischen Grenze stationiert und bekamen häufig Besuch von hochrangigen Offizieren. Angeblich wollten sie Jagd auf Schmuggler machen, aber tatsächlich jagten sie mit ihren Sturmgewehren Kaninchen. Einmal saß ich in Unterwäsche in dem beheizten Bunker und kochte Tee, als der Offizier durch die Tür trat.«
»Das klingt wie der Anfang eines klassischen Militärpornos«, werfe ich ein.
»Du kannst mich mal. Der Kerl war achtundsechzig, potthässlich und fett; ich war neunzehn.«
»Wow. Du bleibst definitiv deinem Beuteschema treu«, sage ich. Es dauert eine Sekunde, bis der Groschen fällt. Du stehst auf und gehst, dich an einer Stuhllehne abstützend, langsam zu mir herüber, und während ich bis zu den Ellbogen in Rührei, Olivenöl und labneh stecke, schlingst du die Arme um mich und drückst mir einen Kuss auf den Rücken. »Für mich wirst du immer jung sein«, sagst du.
Du spielst mit meinen Gefühlen. Mit einem beiläufigen Satz stürzt du mich in deine Dunkelheit, um mich dann mit einer Geste in dein sonniges Licht zu ziehen. Ich folge dir wie ein Idiot. Ich bin deiner rätselhaften Liebe hoffnungslos ausgeliefert. Die Tatsache, dass ich dein erster Liebhaber war, bleibt ein Warnzeichen, das rot in meinem Hinterkopf leuchtet – selbst nach den vielen gemeinsamen Jahren. Ich mache mir Sorgen, dass ich zu prägend für dich bin. Ich mache mir Sorgen, dass ich dein Schicksal, jemand anderen kennenzulernen, verhindere.
Habe ich dich im Stich gelassen? Hätte ich mich mehr anstrengen müssen, dich glücklicher zu machen? Hätte ich dir meine komplexe Geschichte und meine Bürden ersparen sollen? Vielleicht hätte dich dann jemand anderer so glücklich gemacht, wie ich es nicht konnte. Vielleicht würdest du dann nicht sterben, mitten in unserem Gespräch wegsacken.
»Du musst mir keine Blumen bringen«, sagst du beim Abendessen. »Ans Grab, meine ich.« Das dämmrige Licht des Sonnenuntergangs trotzt der Dunkelheit im Haus, sickert durch den Vorhangspalt herein. Im Radio läuft ein alter Jazz-Song. Ich gebe arabische Gewürze zu dem chinesischen Essen, das noch von gestern übrig ist, und wärme es auf.
»Sind wir wieder bei diesem Thema?«, sage ich müde, ich sehne mich nach Ruhe und versuche einfach nur, friedlich zu essen; ich bin nicht in Stimmung für eine erneute Diskussion. Der Tod verlässt den Tisch, um Anrufe bei seinen Agenten in aller Welt zu erledigen. »Wie oft müssen wir dieses Gespräch denn noch führen?«, sage ich nicht zum ersten Mal. Du betrachtest mich schweigend, während meine Miene von Emotionen verzerrt wird. Ich halte meine Zunge einen Augenblick im Zaum, doch dann entschlüpft mir doch ein letzter Satz: »Manchmal hat es keinen Sinn, mit dir zu reden.«
Nachts offenbarst du deine wahren Farben. Du legst dein Lächeln ab wie einen nassen Regenmantel. Deine Fröhlichkeit vom Morgen ist nur schöner Schein, wie eine Falschmünze. Du verlierst dich in Gedanken an dein finsteres Schicksal, liegst hilflos im Bett, wartest auf den Schlaf, der niemals kommt. Du fängst an, den Moment kurz vor Sonnenuntergang zu fürchten, wenn dir bewusst wird, dass eine weitere schlaflose Nacht vor dir liegt. Eine weitere Nacht, in der Pillen und Tränke nutzlos sind. Ich sehe, wie du dich einem Vampir gleich in eine finstere Kreatur verwandelst, die nach Aufmerksamkeit und Streit giert. Deine Stimmung sinkt, wird schwarz wie die Nacht, so wie die Sonne, wenn sie am Horizont versinkt, von einem warmen, verwischten Orange in ein düsteres Blau übergeht.
Je nachdem, wie der Abend läuft, setzen wir uns um diese Tageszeit zusammen und bemitleiden uns gegenseitig, oder ich erzähle dir eine Geschichte, die die Bestie in dir zum Schweigen bringt, sodass du dich problemlos in dein warmes, einladendes Bett bringen lässt, wo dich eine weitere Geschichte ins selige Land der Träume schickt. Diese glorreichen Nächte jedoch sind gezählt.
Nach ausgedehntem Schmollen meinerseits, das du mit ebensolcher Bitterkeit erwiderst, beschließe ich, einen Testballon loszulassen, um abzuschätzen, wie sich der Abend entwickeln wird. »Wenn wir uns streiten«, flüstere ich von der anderen Seite des Tischs, »habe ich das Gefühl, mein Leben ist ein Bild, das ein bisschen schief an einer weißen Wand hängt. Ich kann es eine Weile ignorieren. Aber irgendwann geht es nicht mehr, dann stehe ich von meinem bequemen Sessel auf und rücke es gerade.« Ich halte ein Glas Whisky in der Hand, das ich mir kurz zuvor mit dramatischer Geste eingeschenkt habe. Ist das die Andeutung eines Lächelns auf deinen Lippen? Wirst du heute Nacht friedlich und traumlos schlafen? Ich mache weiter. »Du bist mein wertvollstes Gemälde, mein Rebell gegen rechte Winkel und gerade Linien. Ich ertrage es nicht, dass diese Wut zwischen uns herrscht.«
Ich sage es dir nicht, aber auch wenn der Auslöser unseres Streits war, dass du bei jeder Mahlzeit vom Sterben anfangen musst, was mir zunehmend lästig wird, gibt es noch einen weiteren Grund, warum ich immer mit dir ins Reine kommen möchte: Auch ich merke ja, wie der Tod unsere Zukunft in Beschlag nimmt, während er sich hier im Haus nützlich macht. Was ist, wenn ich im Streit mit dir einschlafe und am Morgen ohne dich aufwache? Weil jeder Moment mit dir unser letzter sein könnte, muss jeder Moment ein großes Finale sein.
»Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich mich als Kind verlaufen habe?«, fragst du über den Tisch hinweg. Ich schmunzle; ja, hast du. »Nein, hast du nicht. Wie ist es dazu gekommen?«
»Ich weiß, warum mir das ausgerechnet jetzt wieder eingefallen ist«, antwortest du lächelnd. Deine Augen strahlen bei der Erinnerung an deine Kindheit. »Es lag an all dem Gerede über Gräber.«
Du sagst es, als wärst nicht du derjenige, der dieses Thema an unseren Esstisch bringt.
Du warst elf, höchstens dreizehn, als du eines Tages in einem tranceartigen Zustand aufgewacht bist; du hattest das Bedürfnis, die Grenzen der dir bekannten Welt auszuloten. An jenem Morgen erlaubte dir dein Geist, innerhalb der geschützten Zone, der Blase, mit der dich deine Familie umgab, so weit zu wandern, wie du konntest. Du warst bis an die inneren Wände gelangt. Alles außerhalb davon erschien dir bunt und zum Greifen nah, und du wolltest die Blase platzen lassen und erkunden, was jenseits davon lag.
Anders als mir ging es dir nicht um Flucht. Du fühltest dich wohl in deinem Königreich und wolltest die Grenzen ausdehnen. Deine Familie schenkte dir die Welt. Deine Mutter, die nachts im Schlaf kicherte und davon träumte, womit sie dich verwöhnen könnte, kochte dir montags und donnerstags immer deine Lieblingsgerichte, ful bi zeit, und molokhia. Deine älteren Brüder brachten dir bei, wie man Mäuse fängt und Katzen versorgt, und wo es das beste Fleisch für das kibbeh nayeh deiner Mutter gab. Deine Tante, die mit einem entfernten Cousin verheiratet war, brachte dir Geschenke mit, wenn sie aus der saudi-arabischen Wüste zurückkehrte: Nike-Turnschuhe und Spielsachen, für die man Batterien brauchte. Von allen Kindern der Familie schenkte sie dir dieses prächtige blaue Pferd: Es begann auf Knopfdruck zu galoppieren und beendete seine Vorführung mit einem Wiehern und Schnauben. Die Welt, die dich umgab, war ein sicherer Hafen. Damaskus nahm dich mit offenen Armen auf, und du ließest dich von ihm umarmen.
Damals vollzog sich in Syrien ein Kurswechsel. Das Land blühte wirtschaftlich auf, nachdem Präsident Hafis al-Assad die angespannten Beziehungen zum Westen normalisiert und die Einladung zu einer Friedenskonferenz mit Israel angenommen hatte. In den Achtzigerjahren hatte es auf den staatlich subventionierten Märkten lange, ermüdende Schlangen gegeben, weil das Land unter den von den USA initiierten Sanktionen litt, aber jetzt verschmähten die Menschen den billigen Reis und den Zucker, von dem der staatliche Tee nicht süß wurde, und griffen zu importierten Waren. Die Fabrik deines Vaters, die Papiere für den Buchdruck und Geschenkverpackungen herstellte, war wieder profitabel. Wenn er von seinem langen Arbeitstag im Büro heimkehrte, brachte er Äpfel, Orangen und kunafa von der Zuckerbäckerei Nabil Nafiseh an der Malki-Ecke Arnous-Straße mit. Er kaufte deinem älteren Bruder sogar ein Auto, einen Mercedes Baujahr 1961, mit dem er röhrend durch die Straßen fuhr und die Mädchen in ihren Hidschabs erschreckte, wenn sie die Koranschule in Bab Sharki verließen.
Damaskus erschien sauber, prickelnd und voller Möglichkeiten. Die Menschen legten ihre sieben Jahre alten Jacken ab, die an den Ellbogen mit Flicken ausgebessert waren, sie konnten sich neue Kleider leisten. In den Läden des Suk al-Hamidiyah gab es wieder Spielsachen und reich verzierte Backgammon-Spiele.
Dein weitester Ausflug führte dich zum Markt Zanket el-Setat, zu dem dich deine Mutter mitnahm. Dort kauften die Frauen ihre Stoffe, um sich Kleider daraus zu nähen. Der Markt war eng, und durch die Tische vor den Läden wurde es noch vollgestopfter. Die Frauen schoben sich mit ihren Kindern an der Hand durch die Menschenmenge und sahen sich nach den besten Stoffen und der neuesten Hidschab- und niqab-Mode um.
Deine Mutter stieß mit einer älteren Frau zusammen, die sie gut kannte. Die alte Frau trug eine Menge Taschen; sie hatte blaue Augen und ein freundliches Lächeln. »Das ist die Schneiderin Samira«, erklärte dir deine Mutter. »Sie ist die Beste ihrer Zunft. Sie näht Kleider für die reichen Frauen von Polizei- und Regierungsbeamten.« Du hast der alten Frau hinterhergesehen und ihren Namen sofort wieder vergessen.
Die Blicke der feilschenden und ihre Waren feilbietenden Männer meidend zog deine Mutter dich in dieser überfüllten Straße in eine Ecke und betrat mit dir ein Geschäft, dessen Tür so niedrig war, dass sie den Kopf einziehen musste. Darin sahst du an den Wänden und unter einer gläsernen Tischplatte Dessous, ordentlich sortiert nach Größe und Farbe. Deine Mutter deutete auf ein Set; es glitzerte nur so vor Gold und falschen Diamanten, und sie fragte nach dem Preis, während du rot anliefst.
»Morgen wird deine Frau sich auch solche Sachen kaufen«, flüsterte dir deine Mutter spöttisch ins Ohr, ein Lächeln im Gesicht. »Sei nicht so schüchtern, Sohn. Es wird dein eheliches Recht sein. Deine Frau wird die Königin aller Bräute sein. Sie wird alles Gold der Welt für dich tragen.«
Du verließest das Geschäft in dem Gefühl, ein rechtmäßiger König auf dem Thron deiner Zukunft zu sein. Damaskus wurde zu deinem Königreich, das du weiter erforschen wolltest.
An jenem schicksalhaften Morgen hinterließ der Regen, der damals, vor der Trockenheit, noch reichlich fiel, glitzernde Pfützen auf den alten Straßen, und du wolltest in jede einzelne hineinhüpfen. Der Duft von Jasmin, der dein Elternhaus in Damaskus umgab, kitzelte deine Sinne mit süßer Verheißung. Am nahe gelegenen Abbasiden-Platz plätscherte noch ein Springbrunnen, er wurde von gelben Taxis umrundet, deren Lack durch die Sonne abplatzte, sodass ihre Metallhaut den Elementen ausgesetzt war. Der Wind trug den Duft der Apfelblüten aus Ghuta zu den Hügeln von Damaskus und erfüllte sie mit einem einladendfrischen Aroma. Das riesige Schwertdenkmal am Umayyaden-Platz im Stadtzentrum glänzte in den Regenbogenfarben unter der heißen Sonne des Spätfrühlings.
An jenem Morgen warst du besonders abenteuerlustig und wolltest auf eigene Faust etwas unternehmen, und so sagtest du zu deiner Schwester: »Wir müssen das Grab unseres Großvaters besuchen.«
Wie kamst du auf diese Idee? Du weißt es nicht mehr. Du warst noch zu jung, um das, was du tun wolltest, begründen zu können. Ich würde sagen, dein Motiv war, dass du dein Erlebnis vom Ramadan-Fest wiederholen wolltest. Beim letzten Ramadan nahm dich dein Vater frühmorgens mit zum Grab deines Großvaters auf dem Friedhof unweit eures Hauses. Die Tradition, die Toten zu besuchen und ihnen ein frohes Fest zu wünschen, ist die demütige Eröffnung eines langen Tages voller Leckereien und Geldgeschenken, gefolgt von zu vielen Süßigkeiten und rassistischen Liedern auf der Schaukel.
»Ali wird niemals sterben, denn seine Töchter sind schwarz und hässlich wie Affen.« Solche Lieder sangen wir zum Ramadan-Fest, in einer Zeit, als es in Syrien noch Feste gab, und ohne Gefühl dafür, wie unangemessen diese Lieder waren.
Du gingst Hand in Hand mit deiner kleinen Schwester in die Richtung, die du für die richtige hieltest. Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, wusste ich schon, dass ihr euch verlaufen würdet; du hast einen lausigen Orientierungssinn. Du gingst die überdachte Straße des Suks Medhat Bascha entlang, in deiner Nase die Düfte exotischer Gewürze aus den Läden zu beiden Seiten. Dann bogst du nach links in die Qanawat-Straße ein. Damals saßen dort alte Männer und tranken schwarzen Tee, während sie taulieh spielten; sie fluchten, wenn sie schlecht würfelten, und immer wieder zog einer an seiner geliebten arjileh. Jeder brachte seine eigene Wasserpfeife mit, stolz auf die wunderschöne Ausführung seines Exemplars. Du gingst mit deiner Schwester an ihnen vorbei, ohne zu ahnen, dass bald dort, wo diese alten Männer saßen, überall Gebrauchtwarenläden entstehen würden. Die Händler in diesen Läden feilschten den lieben langen Tag lautstark mit alten Frauen auf der Suche nach billiger Kleidung für ihre Söhne und Töchter und stritten sich über die Differenz von fünf syrischen Pfund, die verlangt wurden, aber nicht bezahlt werden wollten. Auch die Besitzer der Gebrauchtwarenläden ahnten nicht, dass bald dort, wo sie sich niedergelassen hatten, Demonstranten unterwegs sein würden, die mit grünen Fahnen gegen das syrische Regime protestierten und aus voller Kehle Freiheit forderten. Die Demonstranten wiederum ahnten nicht, dass sie von Soldaten mit Gewehren und Schwertern verdrängt werden würden, die sofort zu schießen anfingen.
Im lieblichen Licht der frühen Morgensonne seid ihr durch das Gewirr der alten Straßen von Damaskus gelaufen. Deine Schwester zitterte ein wenig, aber dir hat Kälte noch nie etwas ausgemacht. Die Kälte erfrischte dich und gab dir einen Energieschub. Du fühltest dich lebendig und allwissend, wie ein Gott auf seinem Thron. Dein Lächeln verzog sich zu einem Grinsen, als du den Eingang des alten Friedhofs erblicktest. Es war die Schwelle zu etwas Verbotenem, schwer Erreichbarem und Besonderem. Als du den ersten Schritt in den Friedhof machtest, fragtest du dich kurz, ob jemand dich und deine Schwester darauf ansprechen würde, was ihr hier zu suchen hattet. Ob jemand zu euch sagen würde: »Jetzt ist doch noch nicht das Ramadan-Fest, mein Sohn«, und euch zurück zu euren Eltern schicken würde.
Niemand hielt euch auf, als ihr den Friedhof betratet.
Morgens verlieren solche Orte ihren Schrecken; sie werden zu einem Hort der Ruhe und des Friedens, wo die Geräusche vorbeifahrender Autos gedämpft klingen. Du gingst auf der rechten Seite an den Gräbern vorbei und sprachst bei jedem einzelnen den islamischen Gruß, wie es dich dein Vater gelehrt hat. In die Grabsteine waren Verse aus dem Koran und die Namen der Verstorbenen eingraviert. Die Grabsteine in Damaskus sind immer sehr formell: Auf ihnen steht der Vor- und Nachname des Verstorbenen, der Name seines Vaters und das Sterbedatum, gefolgt von Gebeten. Es wirkt unpersönlich und einsam.
Aber dann kommt Eid, das Fest des Fastenbrechens, und die Menschen strömen auf die Friedhöfe. Sie bringen Blumen und Myrte und versammeln sich um die Gräber ihrer Lieben. Sie erzählen den Toten Geschichten und das Neueste von ihren Angehörigen, beten für sie und lesen ihnen Passagen aus dem Koran vor. Väter erzählen ihren Söhnen übertriebene Geschichten von ihren toten Großvätern, um ihren Kindern eine glorreiche Vergangenheit mitzugeben.
»Mein Großvater hatte vier Ehefrauen«, sagte dein Vater bei deinem ersten Besuch auf dem Friedhof, und du standst am Grab und hörtest ihm aufmerksam zu. »Er besaß ein kleines Stück Land am Rand von Ghuta, bei Maschrou Dummar. Dort baute er ein Haus mit Garten. Er pflanzte zwei Bäume von jeder Frucht, die er mochte, damit sie sich vermehren konnten.«
»Er nannte es Noahs Garten«, meinte dein Vater schmunzelnd; von fern drang das Gebet einer weinenden Frau zu euch.
Die Ehefrauen deines Urgroßvaters pflegten sich im Garten zu versammeln, wo ihr Ehemann einen Pool gebaut hatte. Sie schätzten einander, versicherte dir dein Vater, standen sich nahe wie Schwestern. »Sie schwammen im Pool, alle vier um meinen Großvater herum, und brachten ihm Kirschen, Äpfel und Feigen, während er im kühlen Wasser lag, um der Augusthitze zu entkommen.« Nicht einmal beim Schwimmen habe sein Großvater die weiße Kopfbedeckung abgenommen, behauptete dein Vater, vermutlich um seine beginnende Glatze zu verdecken.
Zu spät merktest du, dass du dich, während du in der Erinnerung an die Geschichten deines Vaters schwelgtest und ziellos umhergingst, im Friedhof verlaufen hattest. Angst kroch in deinen Blick, und du packtest die Hand deiner Schwester fester. Auf einmal gerietest du in Panik. Du begriffst, dass du dir einen zu großen Bissen von der Welt genehmigt hattest und daran zu ersticken drohtest.
Beim Anblick deiner Tränen fing deine Schwester an zu weinen. Du liefst kreuz und quer, um den Ausgang zu finden. Anstatt deine Schwester zu trösten, hieltest du nach jemandem Ausschau, der sich um sie kümmern sollte. Du wusstest nicht, was du mit ihr machen solltest, und wünschtest dir deine Mutter herbei, die deine Schwester immer auf den Schoß nahm und wiegte, bis sie sich beruhigte. Inzwischen heulte deine Schwester lauthals. Es war auf dem ganzen Friedhof zu hören. Hoch ragten die Grabsteine über euch auf. Sie kamen dir vor wie Türme, die dir die Sicht auf mögliche Retter versperrten, während sie für deine Schwester Monster waren, die sie verschlingen wollten. Diese Vorstellung ließ sie hysterisch aufschreien.
Plötzlich tauchte ein alter Mann hinter einem der Grabsteine auf; er trug ein weißes Hemd und eine kleine weiße Kappe. Du gingst auf ihn zu, und etwas Vertrautes an seinem langen Gesicht, seinem buschigen weißen Schnurrbart und seiner schwarz gerahmten Lesebrille gab dir ein tröstliches Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe.
»Onkel, bitte sag mir, wo ist al-Buzuriyeh?«, fragtest du ihn, und er lächelte.
»Das ist weit von hier. Sehr weit.«
Eure kleinen Herzen rutschten euch in die Kniekehlen, aber während deine Schwester wieder laut aufschluchzte, bliebst du ruhig, wenn auch nur äußerlich. »Wir wollen zur Schule, Onkel, bitte bring uns zur Schule.«
Der Mann wandte sich zum Gehen und winkte euch, ihm zu folgen; er bewegte sich ohne Hast zwischen den Grabsteinen hindurch, berührte dabei jeden einzelnen und sagte as-salaam alaikum. Er sprach mit ihnen wie mit alten Freunden, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ihr beide folgtet ihm vertrauensvoll. Wenige Augenblicke später wart ihr am Friedhofstor angelangt. »Geht diese Straße runter«, sagte er, mit seinem zitternden, knochigen Finger deutend, »dann kennt ihr euch wieder aus.«
Ihr würdet zu spät zum Unterricht kommen, deshalb seid ihr gelaufen, aber du blicktest dich noch einmal um, und da war der Mann verschwunden.
»Ich vermisse Damaskus«, sagst du, und ich spüre deinen Stimmungswandel; wieder einmal verliere ich dich an die Dunkelheit. Der Tod hat sich erneut zu uns gesellt, während wir im Haus unserer Abendroutine nachgehen. Er hilft uns, das Licht zu löschen und uns zu vergewissern, dass wir den Herd auch ausgeschaltet haben. Bei unserem frühabendlichen Tanz unterhalten wir uns weiter. Ich rücke den gelben Teppich gerade, und du bläst die Windlichter in der Sitzecke aus. Ich kontrolliere die Küche, während du im Badezimmer deine Medikamente einnimmst. Die Hunde, ebenso alt wie wir, heften sich erst an unsere Fersen, dann verziehen sie sich in eine Ecke, rollen sich zusammen und schlafen.
»Du vermisst dein Damaskus; ich sage dir schon seit Jahren, dass es nicht mehr existiert.« Dasselbe Gespräch haben wir bereits vor drei Wochen geführt. »Das Damaskus, das du kennst, in dem Großväter durch Geschichten wieder lebendig werden, wo auf den Balkonen wunderschöner rothaariger Frauen Jasmin wächst und wo wir uns kennengelernt haben, ist vom Krieg verschlungen worden.«
Ich trete durch die Tür und sehe dich traurig im Flur stehen. Mir wird klar, dass ich dich noch tiefer in den Abgrund deiner Erinnerungen gestoßen habe. »Du wirst es lebendig erhalten«, sage ich, während ich dich an mich drücke, um dich wieder zu mir zu holen. »Wir werden es gemeinsam lebendig erhalten.«
Der Tod steht in der Ecke und grinst uns zu, bevor er die Ohren der schlafenden Hunde inspiziert. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen.
Als du dich ins Bett legst, machst du nicht sofort das Licht aus, sondern genießt erst die kühlen Laken, dann drehst du dich zu mir. »Bringst du mir Blumen?« fragst du. »Ans Grab?«
»Nein, ich bringe dir meine Geschichten«, antworte ich, und du schmiegst deinen Kopf an meine Schulter. Bevor du mich darum bittest, beginne ich zu erzählen. Du weißt wie der Sultan, dass mir dein Wunsch nach Unterhaltung Befehl ist. »Es war einmal ein Mann, der sein geliebtes Land verließ und in die Ferne ging, und bei seiner Rückkehr hatte sich alles verändert.«
»Im Namen Allahs des Barmherzigen! Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf! Er schlief noch halb, als sie seine Tür aufbrachen und in sein Zimmer stürmten. Vom Bett aus sah er zu, wie sie seine Wohnung durchsuchten; er glaubte wahrhaftig zu träumen. Sie ignorierten ihn, wie er aufrecht im Bett saß, sich mit den Fingernägeln am Kopf kratzte und zu verstehen versuchte, was um ihn herum vorging. Er wehrte sich nicht, als sie ihn packten und durch die Tür zerrten. Er sah, wie sie die Treppe zum Dachgeschoss seines kleinen Hauses hinaufstiegen. Dort oben hatte er seine Leinwände, in einem kleinen Raum, den er in ein Atelier umgewandelt hatte. Hinter zugezogenen schwarzen Vorhängen arbeitete er hier bis in die Morgenstunden. Er verstand, dass dies kein Traum war, als er registrierte, dass einer von ihnen ein Gemälde in Blautönen unter dem Arm davontrug, während sich vom Achselschweiß die Farben vermischten, was dem unfertigen Werk eine ganz eigene Note verlieh.
Als er in den Kofferraum eines Autos gestoßen wurde, vor den Augen wehklagender Frauen mit Kopftüchern auf den Balkonen, war die Morgensonne noch sanft, aber ihre Strahlen kündeten bereits von einem langen, heißen Tag.
Sechs! Sieben! Acht! Neun!
Sie brachten ihn zur Polizeiwache, aber er wusste nicht, weshalb er verhaftet worden war. Da er seine Bilder niemandem zeigte, mussten sie aus einem anderen Grund zu ihm nach Hause gekommen sein. Er versuchte herauszufinden, was sie von ihm wollten und warum sie so wütend waren; welchen Fehler er begangen hatte; irgendeinen Fehler musste er ja gemacht haben. Nervös rief er sich die Ereignisse der vergangenen Woche ins Gedächtnis, aber es war nichts Besonderes vorgefallen. Vielleicht hatte er unabsichtlich ein Mitglied der Königsfamilie beleidigt; vielleicht hatte er einen von ihnen mit dem Auto geschnitten. Er zermarterte sich das Hirn, doch vergeblich. Ich hab ja gewusst, dass mir dieses Auto irgendwann zum Verhängnis werden wird, dachte er. Obwohl seine Fahrkünste erbärmlich waren, sprang er manchmal einfach in sein Auto und raste mit Vollgas los. So lebte er seinen Fluchtinstinkt aus, er hatte dann das Gefühl totaler Selbstbestimmung über sein Leben und vielleicht auch über seinen Tod.
Als der Ermittlungsbeamte in den Raum kam, in der Hand eines seiner Gemälde, wusste er, dass der eigentliche Grund für seine Verhaftung inzwischen keine Rolle mehr spielte.
Zehn! Elf! Zwölf!
Er konnte nicht ahnen, dass sich die Männer nach seiner Inhaftierung eingehend über seine Bilder und die nackte Frau, die darauf in den merkwürdigsten Posen dargestellt war, unterhalten hatten, nicht ohne Allah dafür um Gnade anzurufen.
Um die Identität seiner Musen zu schützen, hütete er sich vor einem allzu genauen Porträt. Die Männer konnten sehen, dass er die Gesichter der Frauen auf den Bildern absichtlich unkenntlich gemacht hatte. Bei den Augen war ihm dies am schwersten gefallen; sie bargen so viele Hoffnungen und Träume, Forderungen und Sehnsüchte. Wenn er die Frauen aus dem Gedächtnis malte, malte er auch ihre Gesichter und verwischte erst danach mit einem kleinen Pinsel die Augen, die Nasen und ihre markanten Gesichtszüge.
Als der für die Asservatenkammer zuständige Beamte ein oder zwei Wochen später Inventur machte, stellte er fest, dass bis auf eines alle Bilder fehlten. Verblüfft sah er noch einmal in seinen Unterlagen nach. Eigentlich sollten es siebzehn Bilder sein!
Der Beamte trat einen Schritt zurück und dachte an den Papierkram, den er nun erledigen musste, doch dann drehte er das Bild um, um es sich anzusehen.
Es zeigte den Rückenakt eines junges Mädchens, das in einem Zimmer stehend durch das hölzerne Fenstergitter nach draußen sah. Auch dieser Beamte konnte den Blick nicht abwenden; mit den Augen verschlang er ihre Kurven, die vollen Pobacken, den nackten Rücken, geschwungen wie der Korpus einer Violine.
Auf dem Rückweg in sein kleines Büro versteckte er das Bild unter seinem Hemd. Im Schutz des Büros zog er es heraus, öffnete die unterste Schreibtischschublade und legte es hinein, dann verschloss er die Schublade mit einem Schlüssel. Den Schlüssel steckte er sich in die Hosentasche, als er in die behelfsmäßige Teeküche der Asservatenkammer ging, um sich Tee zu kochen.
Dreizehn! Vierzehn! Fünfzehn! Sechzehn! Siebzehn!
Der Anwalt des Künstlers reichte ihm die Salbe unter dem Tisch, damit es der Wachmann nicht sah. Er sagte dem Künstler, dass man ihn am nächsten Tag ausweisen würde. Der Künstler verstand nicht, warum, und fragte den Anwalt, ob er seinen Job nicht behalten könne. »Sie wurden gefeuert«, erklärte der Anwalt. »Ihr Chef hat Sie gefeuert, als er von den Bildern hörte.« Der Anwalt sagte, jemand habe ihn wegen rücksichtslosen Fahrens angezeigt, aber als die Polizei die Bilder fand, beschloss man, ihn wegen unsittlichen Verhaltens festzusetzen. Ohne Job verlor er seine Arbeitserlaubnis, und man würde ihn deshalb ausweisen.
Er starrte einen Moment auf die Salbe in seiner Hand, bevor er sie in seine Unterwäsche steckte. Dann dankte er dem Anwalt und ging zu seiner Zelle zurück.
Während der paar Sekunden, die sich die Zellentür öffnete, starrten die anderen Gefangenen auf die kleinen Lichtkreise, die in den dunklen Raum drangen. Die Tür fiel zu und ließ sie ohne Licht und ohne Hoffnungsschimmer zurück, und er suchte mit geschlossenen Augen nach einem freien Platz auf dem Boden.
Müde ließ er sich zu Boden gleiten; auf seinem Rücken fühlte sich der kalte, feuchte Stein angenehm an, linderte das Brennen, das er dort spürte. Kurz stach ihm der Gestank von Kot und Erbrochenem in der Nase, der dem Eimer in der Zellenecke entwich, aber er ignorierte ihn. Nach einer Weile gewöhnte er sich daran und nahm ihn gar nicht mehr wahr.
Er spürte die schweren Atemzüge seiner vielen schlafenden Zellengenossen an seiner Stirn. Vor einer Woche, als er an diesen Ort gekommen war, hatte er seine Mitgefangenen gefürchtet. Vergewaltiger, Diebe und Mörder waren in einem Raum versammelt, und er war körperlich geschwächt. Er versuchte den Harndrang so lange wie möglich zu unterdrücken, scheute ihre Blicke, aber er wusste, dass er sich nur in dem Eimer Erleichterung verschaffen konnte. Schließlich wurde der Ruf der Natur übermächtig, und er ging langsam, jeden Blickkontakt meidend, zum Eimer, um sich zu erleichtern. Von dem Gestank, der ihm entgegenschlug, wurde ihm so übel, dass er fast auf die Knie fiel.
Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich zu den anderen Gefangenen um, erwartete, dass ihn ein Vergewaltiger packen oder eine Gang umbringen würde. Aber auch sie wandten die Augen ab, sahen in eine andere Richtung. Da wurde ihm klar, dass sie sich ebenso nackt fühlten wie er und dass er hier drin sicherer war als draußen, wo er den Wachen ausgeliefert war.
Er lag auf dem Rücken und konnte den Schmerz spüren. Es fühlte sich wie eine V-förmige Verbrennung an, die auf seinem Rücken vor sich hin schwelte. In seiner Vorstellung wurde sie zu einem Vogel, der ihn von diesem Ort wegtrug, zurück in sein Heimatland. Auf einmal fasste eine Hand nach seiner Brust, und er zuckte vor Schmerz zusammen, aber seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und er erkannte einen fünfzehn oder sechzehn Jahre alten Jungen. Das Gesicht des Jungen war mit getrocknetem Blut bedeckt, offenbar war seine Nase gebrochen. Der Künstler lächelte matt und rutschte näher an den Jungen heran, erlaubte ihm, noch einmal seine Brust zu berühren; der Junge ließ seinen Kopf darauf ruhen, seine Tränen strömten ohne Unterlass.
Achtzehn! Neunzehn! Zwanzig! Einundzwanzig! Zweiundzwanzig!
Er hoffte, dass Amal ihn am Flughafen erwarten würde, doch sie war nicht da. Nur Abdul-Salam, sein Freund aus der Oberschule, und Bassem, sein Bruder, holten ihn ab. Er sah ihnen in die Augen und fragte nicht nach, und sie lieferten auch keine Erklärung.
Sie brachten ihn in sein Elternhaus, wo seine Mutter ihn mit Küssen empfing. Ihre Augen waren nass vor Tränen, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn an sich drückte. Sie lächelte ihn an und löste sich von ihm, damit er seinen Vater im Rollstuhl begrüßen konnte. Wortlos trat er zu seinem Vater und küsste als Respektsbezeugung dessen Finger. Der Vater jedoch wandte den Blick ab, bevor er Bassem aufforderte, ihn in sein Schlafzimmer zu schieben, und als er die Tür hinter sich zuschlug, klang es wie ein Pistolenschuss.
Dreiundzwanzig! Vierundzwanzig! Fünfundzwanzig!
Als der Künstler in seinem ehemaligen Zimmer aufwachte, hatte er Angst, und er sah sich um, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich in seinem Elternhaus war. Er sprang aus dem Bett, doch davon wurde ihm schwindlig. Er zog die Vorhänge zurück und ließ die Strahlen der wärmenden, sanften Sonne seines Heimatlandes ins Zimmer, und es fühlte sich an, als würde sich warmes Wasser über seinen Körper ergießen. Lächelnd kratzte er sich an der Brust. Er trat vom Fenster zurück und sah in den Spiegel, bevor er den Schlafanzug seines Bruders auszog und sich anschickte, in die Kleidung vom Vortag zu schlüpfen.
Als seine Mutter ohne anzuklopfen hereinkam, war er noch in Unterwäsche. Sie schnappte überrascht nach Luft und befahl ihm, sich nicht weiter anzukleiden. Dann verließ sie das Zimmer und kam mit einer Garnitur frischer, sauberer Wäsche zurück. Sie half ihm beim Anziehen, wie früher, als er noch ein kleiner Junge war und sich das Hemd noch nicht selbst zuknöpfen konnte.
Eine Heiterkeit erfasste ihn, wie er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr empfunden hatte, und er zog den Kopf seiner Mutter an seine Brust und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er mit ihr hinausging.
Im Wohnzimmer waren bereits alle Familienmitglieder versammelt: sein Vater, sein Bruder und die Töchter seiner verwitweten Schwester. Er spürte ihre musternden Blicke, deshalb wandte er sich ab und griff nach dem Telefon, um die Botschaft anzurufen und sich nach seinen Sachen zu erkundigen, deren Nachsendung man ihm zugesichert hatte. Als sich niemand meldete, fiel ihm ein, dass heute einer der glorreichen nationalen Feiertage war, an dem eine Revolution vergangener Zeiten gefeiert wurde.
Sechsundzwanzig! Siebenundzwanzig! Achtundzwanzig! Neunundzwanzig! Dreißig! Daraufhin versuchte er Amal auf dem Handy zu erreichen, das er ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschickt hatte. Er hatte sie gebeten, für seine Nummer einen speziellen Klingelton einzurichten, »Kiss« von Prince. Den Text kannte er nicht genau, aber er hatte den Song einmal in einer Fernsehsendung gehört, deren Moderator den Text übersetzt hatte, sodass er um den Inhalt wusste. Er stellte sich ihr glänzend neues Telefon vor, das die Liebe seines Lebens um einen einfachen Kuss bat, immer und immer wieder.
Als sie nicht ranging, ahnte er, dass er ihre Mutter anrufen musste.
Die alte Dame hob ab, aber sie hatte keine guten Nachrichten für ihn. Amal war vor einer Weile mit ihrem Geliebten davongelaufen. Vor Schock hatte sich die alte Mutter, als es passierte, immer wieder selbst ins Gesicht geschlagen und unentwegt den Namen ihrer Tochter geschluchzt; inzwischen hatte sie sich allerdings damit abgefunden, nachdem sie die Sache siebentausend Mal mit siebentausend Nachbarinnen durchgekaut hatte. Amal habe das ganze Geld, das er ihr für die Hochzeit geschickt habe, mitgenommen und sei mit Saad weggelaufen, der gerade mal einundzwanzig Jahre alt war.
Er wünschte der Mutter alles Gute und legte auf, dann brach er in lautes Lachen aus.
Einunddreißig! Zweiunddreißig! Dreiunddreißig! Vierunddreißig!
Er öffnete seinen alten Malkasten, zog weißes Papier aus der Schreibtischschublade und befreite die Farben aus ihren kleinen Gefängnissen. Wie früher versuchte er zu den Farben zu sprechen und sich dabei vorzustellen, wie sich jede davon anmutig auf das weiße Papier legte und sich so erneut ein nackter Körper ergab, der nach Freiheit lechzte.
Nach einer Stunde gab er es auf; er hatte nur herumgekleckst und eine gesichtslose Figur produziert.
Sein Rücken machte sich wieder bemerkbar, deshalb ging er zu dem Zimmer seiner Eltern, klopfte leise an und öffnete die Tür. Durch den schmalen Spalt konnte er seinen schlafenden Vater erkennen und seine Mutter, die mit dem Rücken zu ihm auf einem Stuhl saß und mit im Schoß zusammengelegten Händen durch das hölzerne Fenstergitter starrte. Er flüsterte ihren Namen, und sie erwachte aus ihrer tiefen Versunkenheit und folgte ihm in sein Zimmer, wo er sein Hemd auszog und sie die Salbe zur Hand nahm.
Fünfunddreißig! Sechsunddreißig! Siebenunddreißig! Achtunddreißig! Neununddreißig!
Während seine Mutter behutsam die Salbe auf die brennenden Wunden auftrug, schweiften seine Gedanken unwillkürlich zu dem Augenblick, als sie ihm mitten in der Wüste das Hemd ausgezogen hatten. Zwei Männer sahen zu, wie er auf Knien um Gnade flehte, während ein Richter abseitsstand. »Für deinen Verstoß gegen die guten Sitten wirst du zu vierzig Peitschenhieben verurteilt«, sagte der Richter. »Möge Allah dir gnädig sein.«
Ein Mann mit schwarzer Maske holte mit der Peitsche aus, pries Allah den Barmherzigen und fing an zu zählen.
Vierzig!
»Hast du geschlafen?«, frage ich dich flüsternd.
…
»Bist du wach?«, hauche ich kaum hörbar.
…
»Ich liebe dich«, sage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Ich liebe dich auch.« Deine Stimme kommt aus dem Land deiner Träume.