Читать книгу Die Wäscheleinen-Schaukel - Ahmad Danny Ramadan - Страница 11

Der hakawati erzählt seine eigene Geschichte

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Wir sind umgeben von Schwingungen wie von einem ungeschriebenen Musikstück. Diese verborgene Melodie erzeugt für uns eine Routine. Jede unserer Handlungen ist wie ein sanftes Streichen über die Saiten einer Violine. Wir komponieren eine Symphonie aus Traditionen und täglichen Gewohnheiten, die das Leben imitieren; aber das ist nicht das Leben, sondern eine Bewegung auf der Tonleiter. Der Klang deiner Schritte, wenn du am späten Vormittag das Bett verlässt und ins Badezimmer gehst; das Pfeifen des Wasserkochers, wenn ich deinen Kaffee zubereite; das schmerzvolle Ächzen, wenn ich die Treppe zu deinem Zimmer hinaufgehe – all das vermischt sich mit den unablässigen Geräuschen, die unser altes Haus macht. Zusammen erzeugen diese Geräusche ein Leben, das wir auch dann in uns spüren, wenn wir nicht auf sie achten.

Ich habe mich an diese Musik gewöhnt, und jetzt kann ich mir das Leben ohne sie nicht vorstellen. Eine meiner heimlichen Freuden ist, meine Gedanken schweifen zu lassen, im Kopf ein Bild deiner dicken weißen Augenbrauen zu zeichnen, wenn du in den Spiegel schaust und nach einer früheren, schönen Version von dir suchst, die es nicht mehr gibt. Selbst wenn ich mit den Hunden im Garten sitze, sehe ich vor mir, wie du mühsam versuchst, eine weitere Stufe zu bewältigen, die fünfte Stufe knarrt immer ein bisschen; das muss ich irgendwann reparieren.

Unser Garten ist riesig und von wuchernden Bäumen und Büschen eingerahmt, die ihn umschmiegen wie ein Armband ein Handgelenk. An den nicht sehr vielen sonnigen Tagen in Vancouver wird er grün, und die Blumen beäugen einander und machen sich bereit für eine neue Bestäubungsperiode. An den verregneten Wintertagen, die sich viel zu lange hinziehen und uns ans Haus fesseln, wird er matschig, in den Ecken bilden sich kleine Wasserlachen. Der heftige Regen trägt mit seinem beharrlichen Trommelrhythmus zur Symphonie bei, wenn er auf die Pfützen in unserem Garten prasselt.

Unser Haus war weiß, als wir es vor über zwanzig Jahren kauften. Wir strichen es erst rot, weil wir das peppig und hübsch fanden, und dann grün, weil dich die Farbe an dein Elternhaus in Damaskus erinnerte. Als wir älter wurden, verabschiedeten wir uns von den fröhlichen Farben und gaben uns mit einem dunklen Grau zufrieden, der Farbe deiner Augen, wenn du frühmorgens aufwachst und deine Medizin und dein Frühstück verlangst.

Der Wind traf immer die Südseite des Hauses, riss Fenster auf und ließ Türen zuknallen. Er machte die Hunde verrückt und weckte uns mitten in der Nacht auf. Er pfiff wie ein fremder Mann auf der Straße, der sich über uns lustig macht. Er brachte die Gerüche der English Bay und des Sunset Beach mit. Er trug den Duft der Donuts vom nahe gelegenen Tim Hortons zu uns und machte uns fast jeden Morgen Appetit darauf.

Jetzt rüttelt der Wind nicht mehr an unserem Haus, in unserer Symphonie fehlt eines der wichtigsten Instrumente. Hohe Wolkenkratzer haben sich rings um unser kleines zweigeschossiges Haus angesiedelt und es im Laufe der Jahre langsam, aber penetrant eingekreist.

Du hast unser Haus angefüllt mit Gemälden, Mosaikarbeiten und traditionellen Sitzecken wie in deinem Elternhaus damals in Damaskus. Wochenlang hast du Möbel gerückt, dann hast du dich in eine Zimmerecke gestellt und dir im Geist alle möglichen geselligen Zusammenkünfte ausgemalt, die nie stattfanden. Du hast überlegt, ob das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto deines Großvaters zentral an der Wand oder in einem versteckten Winkel deines Arbeitszimmers hängen sollte. Erst wolltest du einen blauen Teppich für das Wohnzimmer, dann hast du einen dunkelgelben gekauft und es nur Tage danach schon wieder bereut. Du hast gern im Garten gearbeitet und die Pflanzen gegossen.

Mit solchen Abwägungen ist es nun vorbei. Du gärtnerst nicht mehr. Du hast seit fünf Jahren kein einziges Möbelstück verrückt. Im Wohnzimmer liegt kein Teppich, und auf dem Foto deines Großvaters, das du achtlos in unserer Abstellkammer deponiert hast, sammelt sich der Staub.

Nachts verstummen die Geräusche unseres Lebens, öffnen den Raum für die Geräusche des Unbekannten, die durch die Fenster in unser Haus dringen. Nachts schläfst du, und ich bleibe wach, lausche den Stimmen und versuche ihre Botschaften zu deuten. Werden sie mir eine Geschichte für dich erzählen? Manchmal ja, manchmal nein. Dein rhythmisches Ein- und Ausatmen hält mich wach, und ich frage mich, ob du wohl gerade von deinem eigenen Paradies träumst.

Als du noch ein Junge warst, dachtest du, dir stünde die ganze Welt offen. Du hast dein Herz dem Lachen geöffnet und Witze gerissen. Einmal hast du mir ein altes Video von dir gezeigt, aufgenommen mit einer Kamera, die ihr euch von einem Bekannten deines Vaters, einem Hochzeitsplaner, ausgeliehen hattet. Man sah, wie du im weißen Jackett und mit roter Fliege dastandest und stumm dem Beat eines Reggae-Songs lauschtest, der in den Neunzigerjahren in Syrien ziemlich angesagt war. Auf einmal fingst du zu tanzen an, ohne die Menschen um dich herum oder das Lachen deines Vaters wahrzunehmen. Du hast die Schritte der Tänzer in dem Musikvideo imitiert, dich nach links und rechts gedreht, laut beim Refrain mitgesungen. Du hast die Füße bewegt, so schnell du konntest, und im Takt mit dem Kopf genickt.

Das, hast du mir erzählt, sei dein Himmel. Das war die Zeit, als du noch du selbst warst, bevor du vor der Realität des Lebens geflüchtet bist und deine Gedanken in deinem Kopf eingesperrt hast. Als du älter wurdest, hast du aufgehört zu lachen und zu tanzen und dir stattdessen einen sarkastischen Humor zugelegt, an dem niemand teilhaben darf, und ein Bedürfnis nach persönlichem Freiraum entwickelt, um ungestört deinen Gedanken nachhängen zu können.

Dein Atem wird mühsamer, und kurz krampft sich mein Herz vor Angst zusammen. Schließlich öffnest du die Augen. Du lächelst mich an. »Darf ich dir jetzt das Ende erzählen?«, frage ich und ziehe dich an mich; du lässt deinen müden Kopf, bis zum Rand mit Medikamenten zugedröhnt, auf meiner Brust ruhen. Ich höre das leichte Knacken meiner gebrochenen Rippe, die unter dem Gewicht ächzt. Ich ignoriere es wie in den vergangenen sechzig Jahren. Auch du hörst das Knacken.

»Ich will dir nicht zur Last fallen«, sagst du und verschiebst den Kopf. »Deine gebrochene Rippe ist nie richtig verheilt.«

Ich ziehe dich enger an mich. »Keine Sorge, das spüre ich kaum noch.« Ich kratze mich genau an der Stelle, wo die gebrochene Rippe liegt.

Mit Anfang zwanzig habe ich eine Weile in Kairo gelebt. Ich habe dir diese Geschichte schon einmal erzählt, vor vielen Jahren, aber seitdem nicht mehr. Ich erzähle nicht gerne alte Geschichten von gebrochenen Rippen und schmerzhaften Erfahrungen. Sie haben nichts mehr mit mir zu tun, sondern mit anderen Männern, die sie an meiner Stelle erlebt haben. Jede Phase meines Lebens kommt mir vor wie die Geschichte eines anderen Mannes, keinen dieser Männer kenne ich gut. Keinen von ihnen verstehe ich jetzt noch. Diese Geschichte handelt von einem Mann, der mit Anfang zwanzig in Ägypten lebte. Er brach aus, verließ seine Familie in Syrien und zog in ein Land, das er nur aus Mumienfilmen und Jugendbüchern kannte. Warum hat dieser Mann diese Entscheidung getroffen? Was hat ihn dazu gebracht, alle Anzeichen zu ignorieren und die leere, dunkle Straße in den Außenbezirken Kairos entlangzugehen, allein und arglos?

Der fremde Mann wurde in seiner Clique ägyptischer Freunde als homosexuell geoutet. Den Rest der Geschichte kannst du dir denken: Eines Nachmittags bekam er einen Anruf von einem seiner Freunde. Er wurde aufgefordert, in ein Einkaufszentrum zu kommen, und er tat es. Dort setzte sich dieser Fremde zu seinen Freunden im Gastro-Bereich, wo es penetrant nach McDonald’s-Essen roch.

»Wir haben Geschichten über dich gehört«, sagte einer aus der Gruppe, ein großer, dunkelhäutiger Bursche mit dickem Schnurrbart und Weihnachtsmannbauch. »Du sollst wissen, dass wir dich unterstützen, wir lassen dich nicht fallen, wir stehen hinter dir.«

»Was bist du? Ein Top oder ein Bottom?«, erkundigte sich Fady, in den der Fremde verknallt war. »Ich meine, wenn du ein Top bist, kannst du einfach ein Mädchen heiraten und mit ihr machen, was du willst.« Der Fremde wollte auf ihre Fragen nicht antworten; er fühlte sich getäuscht und in die Ecke gedrängt. Er wollte vom Tisch aufstehen und ohne einen Blick zurück verschwinden. Er wollte sich in seine eigenen Fantasien flüchten. Im Geiste hielt er mit Fady Händchen, und Fady verstand und begrüßte sogar seine Avancen. Die beiden tauschten einen Kuss, eine Berührung und ein Flüstern.

Die Gruppe, alle acht Männer, diskutierte immer noch das Sexualleben dieses Mannes; sie überlegten sich einen Plan, um das, was von seiner Seele übrig war, zu retten. »Vielleicht könnten wir ein bisschen Geld für ihn zusammenkratzen«, schlug Fady vor und meinte jenen Mann, der ich früher einmal war. »Und ihn auf die Hochzeit vorbereiten.«

Endlich fühlte sich der Fremde zu einer Reaktion imstande.

»Ich habe euch nie um eure Akzeptanz oder euer Verständnis gebeten«, sagte er. Er hielt ihnen vor, wie oft jeder von ihnen in seinem Haus übernachtet hatte, wie oft sie alle im selben Bett wie er gelegen und bis zum Morgengrauen von Liebe und Verlust gesprochen hatten. Er merkte, dass all diese Augenblicke, die ihm so teuer waren, bedeutungslos wurden. »Du hast neben mir geschlafen.« Er deutete auf den Weihnachtsmann, dessen Gesicht rot angelaufen war. »Habe ich dich angefasst? Habe ich dich belästigt? Habe ich dir auch nur im Entferntesten ein unangenehmes Gefühl gegeben?« Keiner wusste etwas darauf zu erwidern.

Der Fremde verließ fluchtartig den Tisch; er sprang die Rolltreppe hinunter und stand auf einmal vor dem Kino. Als er auf die Plakate starrte, beschloss er, sich V wie Vendetta anzusehen. Auf dem Weg in den Kinosaal fing er eine Unterhaltung mit einem Angestellten an, einem hübschen, dunkelhaarigen Typen etwa in seinem Alter. Sie wechselten kurze Sätze, während er in der Schlange darauf wartete, dass die Türen des Kinosaals geöffnet wurden. Der Fremde fragte sich, ob sie gerade flirteten, und kam, je länger ihr Gespräch dauerte, zu dem Schluss, dass es so war. »Ich habe den Film schon ein paarmal gesehen«, meinte der Angestellte, mit der kleinen Taschenlampe in seiner Hand spielend. »Er ist super.«

Der Angestellte erläuterte, warum ihn der Film so berührt hatte. »V ist ein einsamer Wolf«, sagte er und ließ seine großen dunklen Augen auf dem Gesicht des Fremden ruhen. »Er wird von der Gesellschaft ausgestoßen und von seinen Mitmenschen abgelehnt, nur weil er ist, wie er ist.« Inzwischen wollte der Fremde nur noch den Arm um die Taille des Angestellten schlingen und ihn leidenschaftlich küssen.

»Aber er bringt die Gesellschaft dazu, ihn zu akzeptieren, wie er ist«, fügte der Angestellte leise hinzu. Seine Lippen waren verführerisch, seine Haut schimmerte warm. »Es war ein revolutionärer Akt.«

»Keine Ahnung, wie sie das übersehen konnten«, flüsterte der Angestellte dem Fremden zu, »aber in dem Film küssen sich zwei Frauen, und die ägyptischen Zensurgötter haben die Szene nicht herausgeschnitten.«

Als der Fremde durch den Saal zu seinem Platz ging, folgte ihm der Angestellte mit den Augen; im dunklen Kino, der Film lief schon, schlüpfte der Angestellte auf den leeren Platz neben dem Fremden. Er raunte ihm ein kurzes Hallo zu und sah auf die Leinwand.

Augenblicke später fand die Hand des Angestellten den Weg zu den Fingerspitzen des Fremden. Der Fremde zog die Hand zu sich und nahm sie in seine. Als sich die beiden Frauen auf der Leinwand zärtlich küssten, umklammerten sich die Hände ganz fest. Die Finger neckten einander, während V und Evey zu Beginn des dritten Teils im Takt ihres eigenen Herzschlags tanzten. Schweigend hörten die beiden Männer, wie V sagte: »Eine Revolution ohne Tanzen ist eine Revolution, die sich nicht lohnt.«

Als das Licht anging und sich der Saal allmählich leerte, lösten sie ihre Hände voneinander. Sie sahen sich an und lächelten. »Kann ich deine Telefonnummer haben?«, fragte der Angestellte schüchtern, und der Fremde grinste. Während sie ihre Kontaktdaten tauschten, spürten sie, wie ihnen das Blut ins Gesicht schoss. Sie trennten sich mit dem Versprechen auf ein Wiedersehen.

Der kalte Wüstenwind fuhr in die Kleider des Fremden; fröstelnd lief er zu Fuß durch die leeren Straßen nach Hause, weil er kein Taxi fand. Er fühlte sich sicher und war in Hochstimmung wegen der Aussicht auf ein Date mit einem süßen Angestellten mit weichen Händen. Hinter sich hörte er Schritte. Die nächtlichen Geräusche animierten ihn zu einem langsamen Tänzchen. Er schlenderte dahin, trunken von der kühlen Brise.

Das war die Nacht, in der ich aus dem Körper des Fremden geboren wurde; ich brach gleichsam aus ihm hervor. Dieser unschuldige Junge lebte, als er das Kino verließ, und war tot, als ich am nächsten Tag mit ausgekugelter Schulter und gebrochener Rippe im Krankenhaus aufwachte.

Als der Fremde und ich – noch in einem Körper vereint – uns umdrehten, sahen wir sie kommen. Sie kamen schnell. Es waren sieben. Fady war nicht dabei. Ihre vertrauten Gesichter hatten unvertraute Mienen. Der erste Tritt landete direkt zwischen den Beinen. »Chawal«, sagte einer von ihnen. »Tunte!«

Der Fremde und ich wehrten uns nicht; wir standen einfach nur da und versuchten unser Gesicht zu schützen. Es folgte ein Stoß gegen die Brust, der einen stechenden Schmerz in der Lunge hervorrief. Ein Schlag gegen das Knie, der uns zu Boden fallen ließ. Dann ein Trommelfeuer aus Tritten. »Ich tue es für dich«, sagte der Weihnachtsmann. »Du sollst wissen, wer du wirklich bist.«

Die Hände des Fremden erlahmten, er konnte sein Gesicht nicht mehr schützen. Langsam glitten sie nach unten. Auf seinem Brustkorb landete ein Tritt mit der Schuhsohle. Er hörte das Knacken, als die angeknackste Rippe komplett durchbrach, es dröhnte in seinem Kopf. Auch ich hörte es. Sein Verstand raste, er konnte nicht mehr denken. Die Tritte, die seinen Körper trafen, zerfetzten seine Eingeweide. Er versuchte tief einzuatmen. Er versuchte zu sprechen. Die Worte erstarben auf seiner Zunge. Er versuchte um Vergebung für eine Sünde zu bitten, die für ihn keine Sünde war. Er hörte seine eigenen Atemzüge. Er rang nach Atem, doch die Luft gelangte nicht in seinen Körper. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Er wünschte sich, sie würden aufhören. Er wünschte, sie würden das Knacken seiner Knochen hören. Er wünschte sich Gnade.

Im Geiste sah er ihre lächelnden Gesichter, wenn sie sich am Wochenende in seiner kleinen Wohnung versammelten; irgendjemand brachte eine Shisha mit, ein anderer kaufte genügend kuschari oder Sonnenblumenkerne für alle. Sie spielten zusammen »Alarmstufe Rot«, manchmal online, manchmal mit zwei Computern, die sie in seiner Wohnung miteinander verbanden. Er kochte ihnen Tee. Sie liehen sich Bücher von ihm und lasen seine Kurzgeschichten.

Allmählich ließ der Schmerz in seinem Körper nach. Er spürte ihn nicht mehr. Ich wurde das Schließfach für seinen Schmerz; ich wurde das Gefäß für sein Leid. Er verlor den Bezug zur Realität. Während ich zurückblieb und die Schläge abfing, glitt er in seine Fantasien ab. Er stellte sich vor, wie er den Angestellten anrief und sich mit ihm zum Kaffeetrinken verabredete, irgendwo am Nilufer. Er würde dem Angestellten bei einem Blumenmädchen mit einem schmutzigen Kopftuch eine Rose kaufen. Der Angestellte würde sie zwischen den Seiten einer Graphic Novel pressen, die er ein paar Wochen zuvor gekauft hatte. Das Buch würde für immer nach Blumen duften, und die Rose würde unsterblich werden wie eine Rose aus Glas.

Jedes Wochenende würden sie zusammen ins Kino gehen und sich eine Komödie oder ein Drama ansehen. Sie würden sich über Superhelden-Filme streiten und im dunklen Kino Händchen halten. Wenn sie nach Hause gingen, würden sie sich einen Gutenachtkuss geben. Sie würden zusammen alt werden, und eines Tages würde er, während er in einem mit Filmplakaten tapezierten Schlafzimmer in den Armen seines Geliebten lag, friedlich entschlafen.

Beim letzten Schlag, der in seinem Gesicht landete, kehrte er in die dunkle Gasse zurück. Er hustete Blut und spuckte es aus. »Bas«, bettelte er, »es reicht, bitte.« Seine gebrochene Rippe hatte wohl seine Lunge durchbohrt; ich spürte, wie sie sich dort einnistete. Sie wuchs in seiner Lunge wie ein Baum mit verdorrten, blattlosen Ästen, schrammte an seinem Herzen vorbei und kratzte an der Innenseite seines Brustkorbs. Der Fremde spürte, dass er sterben würde. »Bas«, flüsterte er, doch es kam als Zischen heraus, begleitet von Blut.

In jener Nacht hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod.

Er erschien rasch, mit einem Lächeln auf seinem Skelettgesicht. Er winkte mit den Fingern, und die Welt blieb stehen; ein Tropfen Blut in meinem Augenwinkel gefror auf meinem Gesicht wie eine rote Träne, die ich nicht weinte. Die Gesichter wurden zu wütenden Masken; die Füße verharrten Millimeter vor meinem Körper. »Du kannst jetzt loslassen«, sagte der Tod. »Du musst dich nur für tot erklären, dann bist du es.«

Der Tod trug eine schwarze Kapuze wie der Sensenmann im Cartoon; seine Finger waren kalt wie Eiszapfen, als sie sanft über mein Gesicht strichen. In jener Nacht zeigte er mir alles: Er zeigte mir die Zukunft, die ich haben, die Geschichten, die ich erzählen, und die Männer, die ich kennenlernen würde. Er zeigte mir dich, mein Liebster, und ich sah dich. »Das ist dein Leben«, sagte er. »Du wirst am Bett deines Geliebten sitzen, wenn er im Sterben liegt, und ihm eine Geschichte nach der anderen erzählen, um ihn vor meinen kalten Fingern zu retten.«

Während mich die Dunkelheit umfing, fragte er mich, ob ich bereit sei, all dies loszulassen und mit ihm ins Unbekannte zu entschwinden. War ich nicht. »Du erzählst ihm die Geschichten nicht, um ihn am Leben zu halten«, behauptete er. »Sondern weil du dir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kannst. Es wird ein egoistischer, trauriger Akt der Selbsterhaltung sein.« Schahrasad wollte den Sultan nicht von seinem Wahn befreien, weil sie ihn liebte. Sie wollte einzig und allein ihren Kopf vor dem Schwert des Henkers bewahren.

Die Welt um mich herum war dunkel, sodass ich nur das Licht in den Augen des Todes sah. Ich streckte die Arme aus und nahm das Gesicht des Todes in meine Hände. Ich drückte einen blutigen Kuss auf seine weißen Zähne und flehte ihn an, mich hierbleiben zu lassen.

In diesem Augenblick streifte der Tod den unschuldigen jungen Mann von mir ab. Es war ein schmerzhafter Vorgang; es fühlte sich an, als würde ein Teil meiner Seele aus mir herausgerissen werden. Der Tod lächelte mich an und entnahm meinem Innern eine geisterhafte Gestalt, einen Jungen, der ich früher einmal war und der nun ein Fremder für mich ist.

Dieser fremde junge Mann besucht mich manchmal, wenn ich hier mit dir im Bett liege. Er ruft mir längst Vergangenes ins Gedächtnis. Er flüstert mir Gedichte ins Ohr, während ich darauf warte, dass du aufwachst, damit ich weiß, dass du noch lebst.

»Erzähl mir eine Geschichte«, bittest du mich jetzt. Der Tod steckt den Kopf durch den Türspalt; in seinem Umhang erkenne ich den Fremden. Er wirkt glücklich. Er hat seinen Schmerz in mich hineingegossen und diese Welt gegen einen unschuldigen Himmel eingetauscht. Sein Schmerz in mir lässt sich nicht unterdrücken. Er meldet sich von Zeit zu Zeit, pocht laut in meinen Knochen. Er fühlt sich an wie das Schreien eines Kindes, das von seiner Mutter verlassen wurde. Manchmal schrillt er in meinen Kopf. Er knallt gegen meine gebrochene Rippe und prallt an meine ausgekugelte Schulter. Er reißt mich weg von dir und entführt mich an dunkle Orte, die ich nicht mag, doch das behalte ich für mich.

Ich lächle dir zu, mein Liebster, und komme deiner Bitte nach. »Es war einmal ein Mann, der erzählte seinem Liebsten eine Geschichte. Sie trug den Titel ›Der schönste Selbstmord‹ und handelte von einer Frau namens Evelyn McHale.«

Evelyn McHale war bereits tot, als sie auf dem Auto aufschlug. Während sie geräuschlos vom sechsundachtzigsten Stock des Empire State Building fiel, verließ ihre Seele ihren Körper und stieg rasch nach oben, folgte ihrem weißen Halstuch – dem Halstuch, das sie, bevor sie sprang, über die Kante des Gebäudes geworfen hatte.

Ein Geist kommt anscheinend selten allein. Während ich dir von Evelyn erzähle, befreit sich ein weiterer Geist aus den Fängen des Todes. Die Frau steht in der Ecke unseres Schlafzimmers und lauscht meiner Geschichte über eine Frau, die sich wie sie von der Welt verabschiedet hat.

Ich kenne den Geruch ihrer Kleider; ich kenne ihre tief liegenden Augen. Der Geist meiner Mutter sagt keinen Ton. Ich höre ihre Stimme, sie kommt von unter dem Bett, wo sie sich wie ein Monster versteckt. »Ich habe dich neun Monate lang im Leib getragen«, wiederholt die Stimme, doch der Geist schweigt immer noch. »Du bist ein Teil von mir.«

Ich wurde in Damaskus geboren und war ein einsames Kind. Schon vor meiner Geburt sagte man mir den bösen Blick nach. An einem ihrer guten Tage erzählte mir meine Mutter, als sie zum ersten Mal spürte, wie ich gegen ihre Bauchdecke trat, habe eine alte unverheiratete Tante von mir ihren Bauch gestreichelt. »Er wird ein großer und starker Junge werden«, sagte sie mit neidisch funkelnden Augen. »Du solltest gut auf ihn aufpassen.« Von da an hatte meine Mutter Schwangerschaftsbeschwerden. Nach meiner Geburt war ihre Milch trocken und salzig. Ich war ein schwächliches Kind, wurde leicht schikaniert, war einsam.

Sie sieht mich vorwurfsvoll an, und ich fröstle. Ich kann mich viel zu gut an dich erinnern, Mutter. Du raubst mich meinem lauschenden Liebsten, reißt mich aus dem Bett und wirfst mich in das eisige Loch der Erinnerung. Dort sehe ich dich in der Ecke unseres verstaubten Wohnzimmers sitzen und auf meine Heimkehr aus der Schule warten, in der Hand das Strickzeug. Du machst gerade einen blau-gelben Winterpullover, der potthässlich ist. Trotzdem werde ich ihn tragen müssen. Das Wohnzimmer ist spärlich beleuchtet und versinkt unter einer Staubschicht, im Fernsehen läuft eine bescheuerte syrische Seifenoper. Ich hasse den Staub, ich hasse die Seifenoper, ich hasse den Pullover, und am meisten hasse ich dich.

Die Luft ist zum Schneiden; die Fenster wurden seit Wochen nicht geöffnet, und sobald ich mit meiner schweren Schultasche durch die Tür trete, habe ich das Gefühl zu ersticken. Du starrst mir entgegen, siehst die Finsternis in meinen Augen und weißt, wie sehr ich mich vor dir fürchte. Du beginnst zu lächeln; aus dem Lächeln wird ein Lachen, als würdest du dich an der Angst weiden, die du mir einflößt. Dein Lachen dringt durch das ganze Haus, bis hin zu den Schulbüchern in meinem Zimmer, meinen alten Kassetten und den Fotos, die ich vor dir verstecke.

»Hallo Mutter«, sage ich.

»Fick dich«, antwortest du.

Sie hörte den Aufprall nicht, als ihr Körper auf die vor dem Gebäude geparkte Cadillac-Limousine schlug; sie sah nicht, wie sich die Menschen um ihren toten Körper scharten. Sie sah sich nicht selbst, in gewohnt eleganter Haltung, die Füße an den Knöcheln gekreuzt, die Perlenkette um den Hals drapiert, die weißen Handschuhe blitzsauber. Sie spürte nicht das Metall des Wagens, das sich um sie schmiegte wie eine Wolke in der Fantasievorstellung eines Kindes; sie ärgerte sich nicht darüber, dass sie unterwegs ihre High Heels verloren hatte.

Wie eine grüne Muräne schleichst du dich mitten in der Nacht in mein Zimmer. Deine Kleider sind schlampig. Deiner Liebe fehlt jede Eleganz. Mit einer Hand drehst du langsam den Türknauf, in der anderen hältst du ein Küchenmesser. Meine gut trainierten Sinne wecken mich auf, meine Augen gewöhnen sich in Sekundenschnelle an die Dunkelheit, und ich sehe dich. Du stehst vor mir, groß und mächtig, wie eine Statue, die Gift und Galle spuckt.

»Deine Augen glühen in der Dunkelheit wie die eines Dämons«, sagst du zu mir, und ich springe aus dem Bett und schubse dich weg. Im Fallen reißt du zwei Regalbretter mit meinen Büchern herunter, meinen einzigen Freunden auf der Welt, und ich ergreife die Flucht. Barfuß und in Unterwäsche stürze ich zur Tür.

»Komm zurück, du kleiner Scheißer!« Ich springe die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Mein vierzehnjähriges Herz pumpt Blut durch meinen jungen Körper. Meine Muskeln krampfen sich vor Angst zusammen, und Tränenströme laufen mir übers Gesicht. Ich bin voller Angst, verstört. Für dein Kind bist du eine Göttin, und eine Göttin ist zu allem fähig. Du bist ein Diktator, der in meinem Blut badet, und ich bin schwach, kraftlos und wüsste nicht, wie ich mich gegen ein Messer verteidigen sollte.

Ich höre dich immer noch rumoren, als du wie ein Tiger im Käfig durch das Haus streifst und deine Einsamkeit hinausbrüllst. Eilig laufe ich vorbei an den geschlossenen Geschäften zu meinem Lieblingsversteck hinter den Mülltonnen an der Kreuzung, wo mich eine öffentliche Treppe vor den Blicken der Passanten und dem kalten Nachtwind schützt. Ich vertreibe mir die Zeit damit, Autos und Sterne zu zählen, warte darauf, dass dein jüngster Ausbruch vorübergeht.

In meinem Unterschlupf breche ich laut in Tränen aus. Ich habe das Gefühl, mich in freiem Fall zu befinden, von der Kante in einen gierigen Schlund gestoßen. Du bist eine Göttin, und ich wurde von meinem Glauben getäuscht. Dein Herz sollte eigentlich Liebe zu deinen Kindern hervorbringen, so wie deine Brüste Milch für sie hervorbringen sollten.

Zwischen den Gebäuden zu beiden Seiten unserer schmalen Straße, die sich aneinander lehnen wie alte Freunde, muss ich eingeschlafen sein. Nicht zum ersten Mal. Am Morgen rapple ich mich auf und gehe nach Hause, den Blicken der neugierigen Nachbarn und Ladenbesitzer ausweichend. Ich schleppe meinen müden Körper die Treppe hinauf. Am Tor unseres Hauses spitze ich die Ohren, in der Hoffnung, dein Schnarchen durchs Haus dröhnen zu hören. Als ich sicher bin, dass du tief und fest schläfst, schlüpfe ich durch die Tür in mein Zimmer.

Ich erinnere deinen Geist daran, wie du dort in der Ecke meines Schlafzimmers stehst und mir die flüchtigen Momente und die letzten Nächte mit meinem Geliebten raubst, dass ich diesen Weg der Schande nicht zum letzten Mal ging.

Wie ein Mond, der sich aus der Dunkelheit schält, erscheint sie vor mir, auf einem Foto, das vier Minuten nach ihrem Tod geschossen wurde. Ich versuche Evelyn McHale zu ignorieren, aber sie verfolgt mich. Sie liegt da wie die Tochter einer Göttin, die sich für die Sünden anderer geopfert hat. »Sagt meinem Vater«, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief, »dass ich zu viele Veranlagungen meiner Mutter geerbt habe«. Sie hatte Angst um ihren Geliebten und ihre eigenen Nachkommen und brachte ein Blutopfer für sie. Sie ruft meinen Namen, fragt sich, ob ich eine Umarmung, einen Kuss oder eine Gutenachtgeschichte brauche. Ihre geschlossenen Lider, ihr Haar, ihr vermutlich bordeauxrotes Kleid, all das hat sich in meine Gehirnzellen eingebrannt; ein leuchtendes Foto-Negativ von ihr in meinem Hinterkopf.

Wie die Männer, die sich um den Leichnam von McHale versammelt haben, bin ich alarmiert. Es ist später Vormittag, und ich rieche Rauch, der in mein Zimmer dringt. Was jetzt?, überlege ich und öffne die Tür. Meine einzige Angst ist, dass mein ausgeklügelter Fluchtweg durch Feuer blockiert sein könnte. Langsam erkunde ich das Haus und schnuppere, versuche herauszufinden, wo genau es brennt. Ich gehe in die Küche. Vielleicht hast du wieder einmal einen deiner fehlgeschlagenen Kochversuche im Backrohr vergessen. In der Küche ist niemand, im Spülbecken türmen sich bis zum Rand Eierschalen und schmutzige Teller von den unzähligen Omeletts, die ich mir gemacht habe. In der Ecke fault ein Bananenbündel vor sich hin, umschwärmt von Fliegen, und die Kartoffeln im Plastikkörbchen haben lange, gewundene Keimlinge. Es riecht durchdringend nach brennendem Öl. Jemand hat die Kühlschranktür offengelassen, aber der Kühlschrank ist leer.

Mein Herz schlägt schneller. Womöglich hast du ja die Haustür in Brand gesteckt. Der Gedanke daran zu sterben, erstickt mich wie Asche.

Der Rauch kommt vom Balkon. Dort stehst du in einer Ecke, vor dir eine große Tonne; Flammen züngeln daraus hervor und spiegeln sich in deinen starr blickenden Augen. Auf deinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus; es macht dir Spaß, wie einem Kind, das die Puppe seiner Schwester so lange an die Wand wirft, bis das Gesicht eingeschlagen ist.

Ich will herausfinden, was da los ist, und gehe näher heran. Laut hustend, um dich aus deiner Trance zu reißen, mache ich einen Schritt auf dich zu. Du nimmst keine Notiz von mir. Schließlich trete ich durch die Tür zu dir auf den verstaubten alten Balkon. Für mich war dieser Balkon immer eine Zuflucht; ich wünschte mir, er wäre breit genug, um mir eine Schaukel darauf bauen zu können.

In den Flammen kokeln Dutzende Fotos. Ich schnappe nach Luft, als ich merke, dass es meine Fotos sind: Fotos, die ich mit zwölf im Ferienlager geknipst habe; ein Foto aus der Schule, auf dem ich total krank aussehe; ein Foto von dir mit einer Rose im Haar, hinter dir glitzert das Meer; ein Foto von mir und meinen Cousins in unseren Eid-Kleidern; ein Foto von mir, vergnügt lachend, als ich mit einem anderen Jungen seilspringe. Mein kleines Gesicht auf diesem Foto brennt. Das Feuer frisst sich in die Ränder, verbrennt das Seil, zerstört die Gesichtszüge des anderen Jungen, erreicht meinen Körper, verbrennt meine Arme, meine Ohren, meine Haare, meine Stirn, meine Augen und schließlich meinen lachenden Mund, sodass er nicht vor Schmerz aufschreien kann.

Von der anderen Seite der schmalen Straße späht ein Nachbar auf dem Balkon eines alten Hauses neugierig zu uns herüber, wie wir eine Stunde lang still dastehen. Das Feuer trägt dich in ein Land deiner Fantasie; deine Augen folgen den Flammen. Das war’s dann mit dem Teilen von Erinnerungen am Throwback Thursday und all den süßen Kinderfotos.

Scheiße, ich werde dir keinen Grund für eine Ohrfeige geben. Ich werde den Mund halten; von mir aus kannst du das ganze Haus abbrennen. Zumindest hat der Rauch den gammeligen Gestank aus der Küche übertüncht.

Der Nachbar hingegen ist nicht so schlau wie ich. »Gibt es ein Problem?«, ruft er herüber. Zwei Leute sehen von der Straße nach oben und wundern sich. Du gibst keine Antwort. In aller Seelenruhe gehst du ins Haus und holst ein Buch aus meinem Zimmer – eine arabische Übersetzung von Joyce’ »Ein Porträt des Künstlers als junger Mann.« Ich bin froh, dass ich es schon gelesen habe.

Du zielst und schleuderst das Buch über die Straße; du hast nicht genug Kraft in der Hand, aber der dramatische Akt schüchtert den Nachbarn genug ein, dass er sich nicht weiter einmischt. »Verpiss dich«, flüsterst du. Das Buch trifft das Haus gegenüber zwei Etagen tiefer und fällt dann auf die Straße, die Seiten flattern wie die Flügel eines aufgeschreckten Vogels.

»Fotos sind haram, sie sind sündig«, sagst du. »Sie sind Pforten zur Hölle und werden Geister und Dämonen zu uns bringen.« Ich starre einen Moment auf mein Buch unten auf der Straße. Ein Mann tritt darauf, ein anderer kickt es weg, dann ist es verschwunden.

Der Sprung vom Empire State Building hat sie für immer unsterblich gemacht. Sie ist gesprungen, um vergessen zu werden. Ihr letztes Porträt erzählt nur von ihrem Kampf, ihrer Erleichterung darüber, dass nun nicht mehr die Sehnsucht, dazuzugehören, an ihr nagte. Sie wirkt, als hätte sie einen langen Spaziergang in einem Dschungel aus Heu gemacht und beschlossen, sich im Gras auszuruhen, als hätte sie ihre High Heels abgestreift und würde mit geschlossenen Augen die Sonne genießen, das Kinn mit einem Gänseblümchen streicheln, das sie unterwegs gepflückt hat. Nur dass das Gras ein Bett aus Metall, der Körper tot und das Gänseblümchen eine scharfe Glasscherbe ist.

Wann habe ich beschlossen wegzulaufen? Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Es kam so unerwartet wie der Frühlingseinbruch nach einem langen Winter. Der Gedanke wurde immer stärker wie die Sonne im April, durchbrach die Stürme deines Geschreis. Durchdrang den dunklen Nebel meiner Verlassenheit und Isolation.

Jenen letzten Moment, als es dann so weit war, werde ich niemals vergessen. Du sagtest, dass du spazieren gehst. Du machst jeden Tag einen langen Spaziergang und verschwindest stundenlang. Keiner weiß, wo du bist, und es scheint auch keinen zu interessieren.

Du legst dein Make-up auf, knallgrünen Lidschatten, etwas Rot auf die Lippen, und bindest dir dein weißes Kopftuch um, bevor du Stufe um Stufe die Treppe hinuntergehst, deine klappernden High Heels erzeugen einen hypnotischen Rhythmus. Sobald das Klappern verklungen ist, stürze ich auf den Balkon; ich sehe dich auf der Straße, mit deiner berühmten blauen Jacke, deinen Lieblingsstrümpfen, deiner weißen Handtasche. Mir liegt der Geruch meiner verbrannten Erinnerungen in der Nase, in der Tonne ruht noch ihre Asche. Du gehst mit gleichmäßigen Schritten die Straße entlang, bis du nicht mehr zu sehen bist. Meine Sonne scheint. Ich gehe.

Meine Bücher sind entbehrlich. Ich behalte nur mein Lieblingsbuch. Kleidung besitze ich nicht viel; ich nehme nur die mit, die nicht mit Blut oder Erinnerungen besudelt ist. Die Tasche, die einmal meine Schultasche war, füllt sich rasch mit meinen Sachen. In meiner Hosentasche ist Geld. Meine Schuhe warten an der Tür auf mich.

Ich werfe einen letzten Blick auf mein Zimmer, das schmale Bett, die blaue Matratze, die hölzernen Fenstergitter, meine Bücherregale, die zum Teil kaputt sind. Das kleine weiße Sofa und den kleinen Kamin. Ich verabschiede mich davon, ich werde das alles nie wiedersehen.

Nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, erlaube ich mir einen Abschiedsscherz, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und breche ihn ab. Ich lächle boshaft.

Zehn Jahre sind vergangen, seitdem ich dich zuletzt gesehen habe, Mutter. Ich habe dich auf Schritt und Tritt gemieden; meine Flucht scheint niemals zu enden. Wie kann man seiner eigenen DNA entkommen? Wie kann man zurückblicken, sich denken: Scheiß drauf, und weitermachen?

Auf der obersten von drei Stufen, die zu einem kleinen Restaurant in Damaskus führen, sah ich dich an einem Vorfrühlingstag Ende der Zweitausenderjahre wieder. Ich fragte mich, ob du zu mir herunterkommen würdest oder ob ich zu dir hinaufgehen sollte. Mit den hellwachen Sinnen einer Straßenkatze scannte ich unwillkürlich meine Umgebung nach einem möglichen Fluchtweg.

Als du mich umarmtest, erschauderte ich. Du stelltest mir Fragen über mich, über meine Reisen um die Welt. Du lächeltest, lachtest, wirktest ruhig und ausgeglichen. Mir war klaustrophobisch zumute, und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Du klagtest über deine Einsamkeit. Ganz allein würdest du in deinem alten Haus sitzen, nachdem du alle um dich herum vertrieben hattest. Müsstest dich ohne Hilfe in einem Krieg durchschlagen, den du nicht verstehst. Ich weiß nicht, was mich mehr ärgerte: dass du zu denken schienst, du seist immer noch mein Problem, oder dass du anscheinend vergessen hattest, wie oft du mich vernachlässigt und mir eine Ohrfeige gegeben hast, wenn ich nach Abendessen fragte. Ich spürte, wie mein Körper von einem leichten Zittern erfasst wurde, ich hörte es wie ein Raunen, als würde ein Kind in meinem Ohr flüstern. Meine Knie wurden weich, als wäre ich immer noch ein kleiner Junge, der nach deiner Aufmerksamkeit schreit, nach deiner Anerkennung lechzt, sich hinter Mülltonnen versteckt.

Nach einer Stunde verabschiedete ich mich von dir, und du fragtest mich, wohin ich als Nächstes reisen würde. Ich antwortete aufrichtig: »Ich weiß es nicht.«

Hat sie geschrien?, frage ich mich. Die Geschichte, die ich meinem Geliebten erzähle, klingt schwach, unausgegoren. Meine Fantasie wandert durch Raum und Zeit; ich stelle mir vor, wie Evelyn vom Empire State Building fällt. Doch sie fällt gar nicht, sondern entspannt ihren Körper und lässt sich vom Wind tragen, schließt die Augen und schwebt ihrem nächsten Leben entgegen. Hat sie geschrien? Ich bezweifle es. Aber es muss eine Schrecksekunde gegeben haben. Jenen Moment der Unsicherheit, bevor sie den sicheren Tod akzeptierte, einen Augenblick, in dem die Welt alle Logik verlor und Evelyn wie eine ausgepresste Zitrone bittere, hässliche Laute ausstieß, bevor sie ruhig wurde und sich vom Wind sanft tragen ließ. Erst da hörte der Schmerz auf, hörte das Herz auf zu pumpen und kam der Tod, schnell, einladend und endgültig.

Zwanzig Jahre lang verbrachte meine Mutter in einem Zustand wie in den ersten Momenten des schönsten Selbstmords, versuchte verzweifelt, die Folgen ihrer Entscheidungen zu korrigieren, schrie, stieß die Fäuste in die Luft, wütend auf die Welt. Nun, da sie ihr unabänderliches Schicksal akzeptiert hat, klammert sie sich an die Erinnerung einer Eleganz, die sie nie besaß; sie macht sich zurecht, damit ihr letztes Porträt das zeigt, was sie als ihr wahres Ich betrachtet: Perlen um den Hals, perfekte Frisur, abgestreifte High Heels und das Lächeln der Akzeptanz im Gesicht. Aber ich werde dich nicht auf deinem Sinkflug begleiten, Mutter. Wir sehen uns an der Limousine.

»Ich bin traurig«, sagst du, als ich die Geschichte beende. Die Luft ist wieder erfüllt von Geräuschen; endlich ist der neue Morgen angebrochen. Ich habe es ein weiteres Mal geschafft, dich eine Nacht lang am Leben zu halten; nun kann ich in Frieden schlafen. Schahrasad braucht ihren Schönheitsschlaf.

»Tut mir leid, dass ich dich traurig gemacht habe«, antworte ich und drücke einen Knopf, um die Vorhänge zu schließen. Sie gehen langsam zu wie in einem alten Theater nach einer gelungenen Aufführung.

»Diese Geschichte handelt von deiner Mutter, nicht wahr?« Es ist eine Feststellung, keine Frage; du erwartest keine Antwort und drehst mir den Rücken zu. Auf deinem Rücken sehe ich das kleine Vogel-Tattoo.

Ich lächle und ziehe die Decke zu mir. »Du alter Deckenwegzieher«, sage ich, »lässt mich frieren.«

Während ich meinen Körper auf den kleinen Tod einstimme und die letzten wachen Momente des Tages genieße, bevor ich mich von dieser Welt verabschiede und in die Welt der Träume eintauche, singe ich dem Tod, der immer noch an der Tür steht, ein leises Lied. Er lächelt mir zu; unter seinem Umhang erkenne ich ihr Gesicht. Sie blickt mich an, mal schuldbewusst, mal vorwurfsvoll, weil ich sie damals in Damaskus verlassen habe, um mit dir um die Welt zu reisen.

»Mach mir ein bisschen Platz«, sagt der Tod, als er langsam in das Zimmer vordringt. Ich höre ihn, aber du nicht. Ich sehe, wie er auf unser Bett zukommt, während du blind für seine Anwesenheit bist. Manchmal ahmt er deine Bewegungen nach, macht sich über dich lustig, während du ihm direkt in die Augen siehst, ohne ihn wahrzunehmen. Er lächelt mich an wie ein alter Freund; er ist mein ganz persönlicher Folterknecht. Er ist meine ständige Erinnerung daran, dass du bald fort sein wirst. Ich heiße ihn in unserem Bett willkommen. Wie jede Nacht, seit ich zurückdenken kann, gesellt er sich zu uns, schläft zwischen dir und mir.

Die Wäscheleinen-Schaukel

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