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Das Haus mit den vierundzwanzig Fenstern

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Unser Haus hatte vierundzwanzig Fenster. Doch die Aussicht, die man daraus hatte, reichte nicht weiter als bis zum Bretterzaun. Er war so hoch, daß ein Mann einem andern auf die Schultern steigen mußte, um hinübersehen zu können. Und oben hatte der Zaun eiserne Stacheln, damit keine Wölfe, Hunde oder Vagabunden herüberklettern konnten.

Spielgefährten hatte ich nicht, denn ich war ein Nachkömmling. Vor gar nicht so langer Zeit war mein einziger Freund, der junge Bär Mischka, in der Nähe der Küchentür angekettet gewesen. Er konnte lange auf zwei Beinen stehen, um mich zu umarmen und russische Volkstänze mit mir zu tanzen. Wenn im Haus ein Fest gefeiert wurde, schlich ich mich mit seinem Lieblingsgericht, Moosbeeren in Puderzucker, zu ihm hinaus und stopfte sie ihm in den dampfenden Rachen. Doch dann kam Onkel Andreas mit einem Engländer, der auf Safari gehen wollte. Der Mann fing sofort an, Mischka hinter den Ohren zu kraulen. Mischka wollte sich revanchieren und riß dem Mann ein Loch ins Ohrläppchen. Der Engländer bewahrte Haltung, doch was er lispelte, war nicht mißzuverstehen. Der Bär müsse auf der Stelle abgeschossen werden. Onkel Andreas erledigte das sofort.

Ich bekam das Fell, um mich damit, statt mit einem Deckbett, zuzudecken. Nun blieb mir nur noch die Jagdhündin. Sie hatte anstelle von Augenbrauen zwei gelbe Flecke. Sie haßte Hühner und fürchtete sich vor Pferden. Wenn sich die Hühner unter der Scheune zwischen den Pfählen versteckten, um zu legen, mußten die Hündin und ich dort runterkriechen und die Eier holen. Und wenn die Hündin werfen wollte, verzog auch sie sich unter die Scheune, weil sie wußte, daß keiner außer mir dort hinkommen konnte. Wenn die Welpen so groß waren, daß sie allein gehen konnten, packte sie sie beim Nakkenfell und kroch mit ihnen unter dem Tor durch, wo sie sich ein Loch gegraben hatte. Die ganze Schar trottete zum Dorf hinunter, von wo Harmonikamusik und unterdrücktes Freudengekreisch herüberklangen. Da hielt ich es nicht länger aus, allein auf dem Hof zu spielen, und rannte hinter ihnen her.

Als wir zum Dorftor kamen, das verschlossen war, damit die Durchreisenden ein Trinkgeld springen ließen, fand ich neben dem Tor ein Loch im Zaun und kroch durch. Doch bevor ich noch das andere Bein nachziehen konnte, flogen mir schon von allen Seiten Schnee- und Lehmklumpen um die Ohren. Einen Augenblick später sah mein Mantel wie ein Scheuerlappen aus. Ein Junge kam auf mich zu und riß mir die vergoldeten Knöpfe ab. Er sagte, die brauche er dringender als ich. Ein Schneeball traf meine Pelzmütze, so daß sie weit wegflog, und ein paar Mädchen sprangen auf mich zu und rissen mir mein rotes Haarband herunter. Dann schlug einer vor, mich zu waschen, und sie schleppten mich zu einem Graben und stellten mir ein Bein, so daß ich kopfüber hineinfiel. Als ich hochkam, lief mir der Morast so übers Gesicht, daß ich kaum Luft bekam. Die Kinder sagten, jetzt sei es genug. Sie wischten mir mit ihren Mantelärmeln das Gesicht ab, stülpten mir die Mütze über die Augen und sagten, wenn ich den Mund hielte, könnte ich gern mit zur Beerdigung kommen.

Wir kamen zu einem Haus, wo Leute standen und den Hals reckten, um zu sehen, was dort drinnen vor sich ging. Kolka – das war der, der sich meine Knöpfe genommen hatte – flüsterte uns zu, wir sollten uns an die Männerbeine halten, denn da könne man leichter hindurchschlüpfen. Wir gelangten in die Stube und wurden in einer Ecke zusammengedrängt, wo wir abwechselnd einer dem andern auf die Schultern kletterten.

Mitten in der Stube stand ein offener Sarg. Darin lag ein toter Mann. Die Umstehenden hatten ihre liebe Not, die Schmeißfliegen von der Leiche fernzuhalten. Es roch nach Thymian und genauso, als würde Annuschka einen Hasen ausnehmen. Die Frau des Toten lag auf seiner Brust und weinte. Mehr bekam ich nicht zu sehen. Der Sarg wurde hinausgetragen und auf einen Schlitten gestellt, und der Zug setzte sich in Richtung Friedhof in Bewegung. Wir folgten ihm und fielen wie die andern in all dem Schlamm auf die Knie, und wem das Kreuz gereicht wurde, der küßte es. Der Priester sang, während die kniende Menge vor- und zurückschwankte und schluchzte. Ich bekam ein paar ordentliche Knüffe, weil ich nicht mitweinte. Die Menge sang auch einen Choral, doch der Ton lag so hoch, daß die meisten das Mitsingen nach und nach aufgeben mußten.

Kaum war die Leiche in der Erde, als die Leute auch schon auf die Schlitten losstürzten und sich holterdiepolter übereinanderwarfen, um auch ja einen Platz zu bekommen. Wir Kinder hängten uns an die Seiten und ließen die Beine durch den Schnee schleifen. Die Schlitten machten bald tüchtige Fahrt, nun, da die Pferde wußten, daß es nach Hause ging und die Leute sich nach Schnaps und warmen Plinsen sehnten. Plötzlich fragte einer, wer ich denn sei. Sie sahen sich meine Kleidung an und sagten, ich müsse oben von der Mühle sein. Sie sprachen darüber, wie schrecklich ich zugerichtet worden sei und was wohl die Müllermadam dazu sagen werde. Und daß es wohl am klügsten sei, sich nicht in irgendwas hineinziehen zu lassen. Sie hielten den Schlitten an und sagten zu mir, ich solle in Gottes Namen nach Hause gehen. Ich trottete quer durch die Steppe davon.

»He du, du mußt doch deine Knöpfe wiederhaben!« Es war Kolka, der mir nachgelaufen kam und sie mir in die Hand drückte. Er wollte noch etwas sagen, machte aber kehrt und lief weg. Ich paßte auf, daß ich dem Schlitten auch ja den Rücken zudrehte, weil sie nicht sehen sollten, daß ich Tränen in den Augen hatte.

Als das Frühjahr kam, ging ich wieder zu den Kindern hinunter. Es war der erste Tag, an dem ich ohne Mantel draußen war. Diesmal schlug mich keiner. Seitdem ging ich oft zu ihnen und war mit dabei, wenn man im Dorf Hochzeiten, Kindtaufen oder Beerdigungen feierte, die gemeinsam ausgerichtet wurden. Vor allem am zweiten Tag einer Hochzeit, wenn alle mehr oder weniger sternhagelvoll waren, gab es keinen, der noch auf uns Kinder achtete. Die Festtagsgäste waren damit beschäftigt, Tassen und Gläser zu zerschlagen, sich gegenseitig Wasser über den Kopf zu schütten, auf den Tischen zu tanzen oder wie die Verrückten mit dem blutbefleckten Brautlaken als Fahne durch einen brennenden Strohhaufen zu fahren.

Dann bestand für uns die Gelegenheit, ins Haus zu schleichen und uns an den gedeckten Tischen die Taschen vollzustopfen. Ich sei dafür genau die richtige, sagte Kolka, denn ich hätte keine Angst. Hinterher trafen wir uns auf dem Friedhof, wo wir zwischen den Gräbern mit ihrem Gewirr von Minze und Riesenvergißmeinnicht gut versteckt waren. Dort feierten wir Hochzeit. Aber keiner wollte Braut und Bräutigam sein, denn die mußten nebeneinanderliegen, während die andern aßen. Meistens traf es mich und den pockennarbigen Petka. Er lag da, steif wie ein Stock, damit ich nicht merken sollte, daß er die Taschen voll Gurken und Piroggen hatte.

Als wir gerade Semjons Hochzeit feiern wollten, hatte ich Pech. Ich stand in der Speisekammer und schüttete mir aus einem Steintopf Moosbeeren in die Schürze, da wurde ich von einer Frau überrascht. »Du verdammter Spitzbube!« schrie sie, zog mich an den Zöpfen und schlug mir mit einem Holzlöffel auf den Kopf. Doch dann besann sie sich, faltete die Hände und rief Gott zum Zeugen an, daß sie nicht gesehen habe, daß ich das sei. Sie band sich ein neues Kopftuch um und sagte, sie wolle das kleine Goldkind nach Hause begleiten. Meiner Mutter gegenüber beklagte sie sich darüber, daß mich diese Taugenichtse von Kindern zum Stehlen verleitet hätten, und sagte, es sei ein Wunder Gottes, daß gerade sie und keine andere das entdeckt habe.

Sie bekam für ihre Mühe zwei Rubel und ich eine Gouvernante.

Die Gouvernante kam eines Tages direkt aus Petersburg und erzählte bis tief in die Nacht hinein von all den Herrlichkeiten dieser Stadt: von vornehmen Soireen und prächtigen Maskenbällen. Das ganze Haus wurde um und um gekehrt. Vater gestattete ihr, das Pferd zu nehmen, sooft sie wolle, und die Dienstboten gingep für sie durchs Feuer, sobald sie sich mit ihrer Gitarre zeigte. Aber während wir andern von ihren Liedern und ihrem Spiel ganz weg waren, kroch Großmutter aus ihrem Bett und machte ihre Kammertür zu.

Doch das störte Mademoiselle Marina nicht im geringsten. Sie tanzte durch die Stuben, wo die Kronleuchter nun in voller Festbeleuchtung brannten, und unsere beiden schwarzen Katzen folgten ihr auf dem Fuß. Die langen Fransen ihres Schals hatten es ihnen angetan. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge rund um die Bahnstation, und ich durfte Mademoiselle Marinas Pompadour mit dem Puder und dem Rouge tragen. Als während der Winterferien meine großen Schwestern aus dem Internat nach Hause kamen, hatten wir überhaupt keine Zeit mehr, Französisch zu sprechen, sondern sprachen nur noch über die Weihnachtsvorbereitungen. Wir sollten ein Dutzend Gäste aus Petersburg zu Besuch bekommen, und die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt. Vater mußte auf sein Arbeitszimmer verzichten, und meine Schwestern wurden in Großmutters Kammer einquartiert, die leerstand, weil Großmutter zu Tante Viktoria auf Besuch gefahren war.

Jeden Tag trafen von der Bahnstation Säcke und Kisten ein. Sie wurden im Kinderzimmer gestapelt. Mademoiselle Marina hatte lange Listen über die Sachen zusammengestellt, die eingekauft werden mußten. Weder Rasierwasser noch Konfetti, noch Waldens Hustenpastillen durften vergessen werden. »Denn gerade die Kleinigkeiten bilden das Tüpfelchen auf dem I«, sagte Marina. Vor allem aber sollten wir ein Grammophon bekommen.

Die Gäste trafen am vierundzwanzigsten Dezember ein. Mutter trug das Haar hochgesteckt und hatte den ganzen Kopf voller Locken und nahm heimlich Pulver ein. Mademoiselle Marinas Gitarre war mit bunten Bändern geschmückt, und die Dienstboten schlichen vorsichtig auf Strümpfen herum.

Es kamen neun Herren und drei Damen. Allesamt waren sie Marinas alte Freunde. Die Herren küßten Mutter die Hand, und die Damen küßten mich mitten ins Gesicht. Mademoiselle Marina führte sie durchs Haus und prahlte mit Vaters großem Betriebskapital und Mutters Auslandsreisen und ihrer musikalischen Ausbildung.

Zu Mittag gab es Bouillon, Gänse- und Putenbraten und rotes Eis, das die Form einer Windmühle hatte. Die Flügel waren aus Waffeln, und innen in der Mühle brannte Licht. Nach dem Dessert legte Mademoiselle Marina die Platte mit Chopins Polonaise auf, und wir marschierten durch die Flügeltüren zu dem brennenden Weihnachtsbaum. Vor lauter Glanz sah man gar nicht mehr das Grüne, und der ganze Saal spiegelte sich in den Glaskugeln, als wären das Seifenblasen. In den Eckenstanden kleine Tische auf Rädern mit Näschereien, Apfelsinen, Äpfeln, Zigarren und Getränken in allen möglichen Farben. Man brauchte bloß die Hand auszustrekken. Ich aß eine Menge von den gefüllten Bonbons und wurde davon so müde, daß ich ins Bett getragen werden mußte. Aber die ganze Nacht hörte ich im Schlaf die Teller klirren, die Pfropfen knallen und das Grammophon schnarren.

Die Gäste schliefen bis weit in den Tag hinein. Einige schafften es kaum, sich bis zum Mittagessen anzuziehen. Morgens wurde nicht mehr gelüftet. Im ganzen Haus stand ständig ein Geruch von Tabak, Alkohol und Schokolade. Beim Mittagessen nahm man sich viel Zeit und machte hinterher eine Schlittenfahrt in die Steppe. Wenn man zurückgekommen war, saß man am Kamin und trank Tee, während Marina Zigeunerromanzen sang. Nach dem Abendessen spielte man Lotto und »Liebespost« oder erörterte die letzten Gerüchte. Als sie anfingen, über Mord zu reden, schickten sie mich ins Bett. Darüber wurde ich so wütend, daß ich Mutter in Hörweite der andern eine alte Schachtel nannte. Vater stieß mich ins Kinderzimmer und verabreichte mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Ohrfeige. Mutter weinte und sagte, sie könne unter den Umständen, die im Haus herrschten, nicht die Verantwortung für meine Erziehung übernehmen.

Eine Woche verging, doch die Gäste dachten überhaupt nicht ans Abreisen. Sie sagten, sie hätten sich noch nie so gut amüsiert. Eines Nachts wurde ich durch rhythmisches Klatschen geweckt. Ich schlich mich zum Schlüsselloch und sah, daß Marina auf einem Bein auf dem Tisch herumbalancierte. Am andern Bein trug sie keinen Schuh. Der ging von Hand zu Hand, und die Herren tranken daraus und riefen jedesmal Hurra. Kurz darauf kamen Vater und Mutter herein, um zu Bett zu gehen.

»Das kann wohl nicht mehr so weitergehen«, sagte Vater. Und Mutter war derselben Meinung. Aber Vater kam nicht dazu, irgendwas zu unternehmen. Denn am nächsten Tag reiste Mademoiselle Marina mitsamt den Gästen ab. Sie hatte sich mit einem der Offiziere verlobt.

Aina, das Mädchen aus Sibirien

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