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Das Brautkleid aus Brennesseln

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»Hier hast du einen Spielkameraden«, sagte Vater und hob ein zusammengekauertes Mädchen vom Wagen. Sie war in Lumpen gekleidet, und durch die Löcher sah man ihren mageren, braunen Körper. Das ganze Haus lief im Hof zusammen, um sich dieses Phänomen anzusehen. Auf dem Wagen saß noch ein Phänomen. Eine alte Frau mit einem breiten, lippenlosen Mund, genau wie bei einem Schimpansen. Sie saß da und kaute auf irgendwas und schob es von der einen Seite auf die andere. An ihren platten Nasen und ihrem dünnen, fettigen Haar erkannte man, daß es Ostjaken waren. »Für die beiden fällt wohl auch noch etwas Essen ab«, sagte Vater, und Mutter ging, ohne zu antworten, hinein, füllte zwei große Teller voll Suppe und stellte sie für die Fremden auf den Küchentisch. Vater nahm wie üblich im Eßzimmer am oberen Ende des Tisches Platz. Mutter setzte sich neben ihn, in der Hand ein Hemd, in das sie Knopflöcher schürzte. »Soll das heißen, daß sie hierbleiben?« fragte sie. Ja, so habe Vater sich das gedacht. Er hatte die beiden auf dem Markt am Irtysch aufgelesen, wo sie bettelten. Vater hatte sich nach den Eltern des Mädchens erkundigt, und die Alte, die Großmutter des Kindes, hatte geantwortet, daß es nie einen Vater besessen habe und daß seine Mutter kürzlich gestorben sei und daß sie nun auf ihre alten Tage sowohl für sich selbst als auch für das Kind sorgen müsse. Vater hatte ihr angeboten, bei ihm zu arbeiten, und die Alte hatte das Angebot sofort angenommen. »Die Ostjaken sind ja tüchtige Weber, und wir haben nicht allzu viele Säcke«, sagte Vater.

Vater hatte eine Schwäche für Ostjaken. Er hatte nämlich eine ebenso breite Nase und ebenso schrägstehende Augen, von denen er im Spaß zu sagen pflegte, daß sie wohl auf eine Abstammung von den Hunnen hinwiesen. Er erzählte uns, daß die Ostjaken einst ein freies und reiches Volk gewesen seien, aber eine dreihundertjährige zaristische Unterdrückung habe sie arm und unterwürfig gemacht. Für ihre Zirbelnüsse bekamen sie so gut wie nichts, und für die Baumwolle und Glasperlen, die sie kauften, mußten sie teures Geld bezahlen. Sie hielten an ihren merkwürdigen alten Bräuchen fest, die überhaupt nicht in die heutige Zeit paßten. Wenn ein Ostjake ein Tier erlegte, dann nahm er es nicht für sich selber, sondern überließ es seinen Kameraden. Weil sie auf diese Weise alles teilten und weil sie fast nie Geld in der Hand hatten, waren sie gezwungen, sich all ihre Sachen selber herzustellen. Ihre Schuhe nähten sie sich aus Fischhaut, ihre Teller und Tassen schnitzten sie sich aus Holz. Ihre Zelte flickten sie aus Birkenrinde zusammen, und in ihren Winterwohnungen verwendeten sie Eis statt Fensterglas.

Anfangs wohnten die Ostjaken im Zimmer hinter der Küche. Nachdem aber ein paar Silberlöffel verschwunden waren, mußten sie den Hof verlassen und zogen in die Mühle. Panotschek war damit einverstanden, seine Kammer mit ihnen zu teilen, und es wurde eine Trennwand aus Brettern gezogen. Die staubige Knechtekammer war bald nicht wiederzuerkennen. Vor den kleinen Fenstern standen nun Blumen, und die Scheiben waren so blank geputzt, daß einem die Augen davon weh taten. Draußen vor den Fenstern legten sie ein Beet an, aus dem grüne Erbsenkeime hervorschossen, obgleich das Steppengras ringsum schon in der Sommersonne welk war. Panotschek saß nun jeden Abend auf der Türschwelle und rauchte, während das Ostjakenmädchen auf der Feuerstelle Rühreier briet.

Eines Tages wäre Panotschek beinahe ums Leben gekommen. Es war an einem Samstagabend, und er war ins Bad gegangen. Inzwischen saßen die Mägde des Hofes vor der Badestube und warteten darauf, daß sie an die Reihe kämen.

»So lange wie der sich peitscht, muß er ja so lecker werden wie ein Spanferkel«, sagten die Mägde. Doch Annuschka kam das nicht recht geheuer vor, sie sah hinein und fing an zu schreien. Panotschek lag bewußtlos am Boden. Er wurde ins Haus hinübergetragen. Die Knechte Sagten, er habe eine Rauchvergiftung, und beatmeten ihn künstlich, und Annuschka steckte ihm kalte Moosbeeren in die Ohren. Das Ostjakenmädchen war auch gekommen. Es saß auf dem Boden, die Hände zwischen die Knie geklemmt, und seine kleine Nase glänzte vor Tränen. Panotschek war kaum zu sich gekommen, da rief er sie auch schon zu sich, und als er sah, daß sie weinte, wurden auch ihm die Augen feucht, und er tröstete sie damit, daß er ihr bestimmt noch viele Spindeln schnitzen könne, bevor er richtig tot sei. Panotschek zog sich an und nahm das Ostjakenmädchen auf die Schulter, um es zur Mühle hinunterzutragen. Ich hängte mich an seinen andern Arm, und er nahm auch mich auf die Schulter.

Von da an waren das Ostjakenmädchen und ich Freunde. Es hieß Anastasia, aber keiner rief es bei seinem richtigen Namen. Die Alte nannte es Nas, und Panotschek gab ihm alle möglichen Tiernamen. Nas war dünn und zierlicher als ich, aber Mutter meinte, sie müsse mindestens dreizehn Jahre alt sein. Nas ging jeden Tag in die Steppe hinaus, um Pferdeäpfel zu sammeln, die sie als Brennmaterial verwendeten. Alles, was sie fand, konnte sie gebrauchen. Und selbst wenn es nur eine Glasscherbe war, ließ die sich noch zum Schaben von Holzlöffeln verwenden. Nas brachte mir bei, wie man Feuer macht, Kartoffeln schält und wie man flicht. Sie kannte auch ein paar Rätsel, die ich nie begriff. Wer konnte auch wissen, daß vier Welpen, die in ein Loch strullten, etwas so Langweiliges bedeuteten wie ein Kuheuter und daß eine Kruke mit einem Loch im Boden nichts anderes war als ein Mensch.

Es wurde Herbst. In den Dorfgärten standen die Sonnenblumen kopflos da und klatschten mit den Blättern, wie frierende Menschen, die in die Hände klatschen, um sie zu wärmen. In der Steppe sah man keine einzige Grille mehr.

Bei uns wurde Geflügel geschlachtet. Während Mutter mit den Mägden eifrig dabei war, Federn in Säcke zu stopfen, schlich ich mich vom Hof und lief zu Nas. Ich hatte sie vorm Tor stehen und mir zuwinken sehen. Wir wollten ins Dorf hinunter und Brennesseln pflücken. Die Dunghaufen am Dorfrand standen voll davon. Nas suchte die kräftigsten Nesseln aus, pflückte sie vorsichtig an der Wurzel ab und bündelte sie. »Wozu brauchen wir die?« fragte ich. Nas antwortete, ihre Großmutter habe gesagt, es werde nun Zeit, daß sie mit ihrem Brautkleid anfange. Als Großmutter so alt gewesen sei wie Nas, sei sie schon eine verheiratete Frau gewesen.

Wir schleppten Nesseln nach Hause, bis die Alte sagte, nun seien es genug. Sie suchte ein paar Knochensplitter hervor, und wir machten uns daran, die Fasern von Rinde und Mark reinzuschaben. Wir spalteten die Stiele der Länge nach auf und brachen sie mehrmals durch. Nas arbeitete mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenem Mund. Nas’ Mutter hatte keine richtige Hochzeit gehabt, aber die der Alten war so gewesen, wie eine Hochzeit sein muß. Sie war zwölf Sommer alt gewesen, als der Freier ihren Eltern das Tuch geschickt hatte. Sie hatten es als Zeichen dafür behalten, daß sie ihn nicht abwiesen. Die Verhandlungen zwischen den beiden Familien hatten mehrere Monate gedauert. Die Braut mußte für die Aussteuer sorgen, und der Bräutigam mußte ihren Eltern dafür Felle und Gerätschaften geben. Sie selber hatte den Mann am Hochzeitstag zum ersten Mal gesehen. Als sie zu seinem Zelt geführt worden war, hatte sie geheult und sich zur Wehr gesetzt. Aber das hatte alles nichts geholfen. So etwas bestimmte man nicht selbst. – Nicht daß gegen Nas’ Großvater etwas einzuwenden gewesen wäre, er war wirklich nicht der schlechteste. An ihm war nichts weiter auszusetzen, als daß er ein bißchen zuviel trank und seine Frau ein bißchen zu oft verprügelte. Doch dann brannte der Teufel die Kraft aus ihm heraus. Seine Hände fingen an zu zittern, und er wurde von einem Bären getötet, mit dem er sich auf einen Kampf eingelassen hatte.

Nachdem die Fasern gereinigt worden waren, klopften wir sie mit einem Holzknüppel weich, bündelten sie und hängten sie unter der Decke auf. Wenn es auf den Winter zuging, sollte die Nesselwolle gesponnen werden.

Davon sah ich nicht viel, weil auch ich zu tun bekam. Ich sollte mit meiner neuen Gouvernante lernen.

Sie war schmächtig und wortkarg und trug das Haar nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt, damit es nicht in die Augen fiel.

Mir wurde ganz ängstlich zumute, als ich sah, wie viele Bücher sie mithatte, aber es half sofort, als sie, um meine Fertigkeit im Schreiben zu überprüfen, anfing, mir das Sprichwort zu diktieren: »Wissen ist Licht …«, und wir es beide wie aus einem Mund vollenden konnten: »Unwissenheit ist Finsternis.«

Seitdem brauchte man nie mehr Angst vor ihr zu haben, denn sie schimpfte weder noch lobte sie, so beschäftigt wie sie selbst mit Lesen und Schreiben war.

Wir bedeckten die Tapeten mit Vaters großen Landkarten und mit Bildern. Innerhalb kurzer Zeit konnte ich das Gedicht von dem tapferen norwegischen Lotsen auswendig und sämtliche Städte auf der Karte aufzählen, die wie Zecken im Fell des skandinavischen Bären saßen.

Sie hatte mir erklärt, daß wir Kinder den Erwachsenen gegenüber einen großen Vorteil hätten, wir hätten, wenn es um die Aneignung von Wissen gehe, ein Klebegehirn, und das sollten wir ausnutzen, solange es Zeit sei.

Ich beschloß deshalb, mit dem Roman »Krieg und Frieden« anzufangen, wie mit Goldbuchstaben auf dem Buchrücken stand. Vater überließ ihn mir, ebenso wie er mir seine Flinte überließ, als wir das neue Jahr mit Salutschüssen begrüßten.

Ich war stolz auf meine Lehrerin, die immer ihre Meinung sagte, als Vaters alte Schulkameraden, die sich »Demokraten« nannten und aus Europa geflohen waren, Hals über Kopf auf Besuch kamen, um über Politik zu reden.

Sie war es auch, die mich und Großmutter auf die Kleidertruhe beorderte, bevor die Polizei des Zaren das Haus nach Terroristen und anderen verdächtigen Elementen durchstöberte. Als die Polizisten weg waren und die Dunkelheit hereinbrach, sah ich mit eigenen Augen, wie sie Gewehre aus der Truhe holte.

Als Ostern herankam und die Schneewehen schmolzen, wollte ich zu Nas, um zu sehen, ob ihr Brautkleid fertig sei. Es fehlten nur noch die Stickereien auf dem viereckigen Latz, auf den eine Reihe von Hakenkreuzen aus roten Perlen aufgenäht werden mußte. Ich konnte aus all den drei- und viereckigen Figuren nicht recht klug werden, doch Nas wußte ganz genau, welche davon Schwäne darstellten und welche Frösche, Bärentatzen, Hechtzähne und Fliegenpilze waren.

Als es Frühling wurde, trafen wir uns wieder hinter der Mühle. Die ganze Steppe war lichtgrün. Hier und da schimmerte weiß ein abgenagter Schafsschädel hervor. Nas hatte rotgeweinte Augen und sagte, ihr bleibe nichts weiter übrig, als von zu Hause wegzulaufen. Sie wolle sich nicht in all und jedem nach andern richten, bloß weil sie ein Mädchen sei. Großmutter habe gesagt, sie müsse nun zusehen, daß sie Nas versorgt bekomme, denn sie selbst sei nun so alt geworden, daß sie jeden Augenblick sterben könne. Nas sagte, in der Nähe der Mühle gebe es einen Birkenwald, wo sie und ich von Kräheneiern und Kräutern leben könnten.

Um keinen Verdacht zu erregen, machten wir uns mit zwei Dungkörben auf den Weg. Bei einem der Schafsschädel ließen wir die Körbe stehen und marschierten ohne sie weiter. Nie hatten wir uns so frei gefühlt. Es war, als würden wir vom Wind vorwärtsgetragen. Wir gingen und gingen, doch die Birkenwipfel blieben ständig gleich weit entfernt. Die Sonne brannte inzwischen unerträglich auf unsere Scheitel herab. Wir hatten längst die Kekse gegessen und die vergorene Stutenmilch getrunken, die wir mitgenommen hatten. Als wir den Wald erreichten, stand die Sonne schon tief. Dort gab es massenweise violette und gelbe Blumen, aber keine Wege. Nas ging voran und suchte nach Wasser. Wir liefen auf irgendwas Blaues zu, das zwischen den Stämmen schimmerte. Wir kamen aus dem Wald heraus, und es zeigte sich, daß das Blaue kein Wasser war, sondern ein Meer von Vergißmeinnicht. Außerhalb des Waldes wehte ein kalter Wind, und es roch streng nach Wildgänsen. Nas sagte: »Die Vögel haben hier im Moor warten müssen, bis das Eis auf dem Ob aufgebrochen war.«

Meine weißen Schuhe waren pitschnaß geworden, und ich dachte nur noch daran, wie wir wieder nach Hause kämen.

Nas kletterte auf einen Baum und rief zu mir runter, daß ein Charaban mit Vater und Mutter und Panotschek über die Steppe fahre. Ich stürzte ihnen entgegen. Es war nicht auszuhalten, wie mich Vater und Mutter ansahen. Schniefend erzählte ich, warum wir ausgerissen waren. Ich mußte versprechen, es nie wieder zu tun, und Panotschek versprach, allen Freiern, die sich je in Nas’ Nähe wagen sollten, den Hals zu brechen.

Wir wollten an den Karatschi-See in die Sommerfrische fahren, als Panotschek von der Mühle herüberkam und bat, Vater sprechen zu dürfen. Daß er etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte, sah man daran, wie er dastand und die Mütze zwischen den Händen drehte.

Vater holte ihn ins Büro, und bald darauf hörte ich Vater ausrufen: »Aber Panotschek, das kann doch nicht wahr sein!« Als Panotschek weg war, ging Mutter ins Büro und blieb lange dort drinnen, und später paßten Mutter und Vater auf, daß sie nicht über Panotschek sprachen, wenn ich dabei war. Ich erfuhr das Ganze aber doch in der Küche. Panotschek wollte sich mit Nas verheiraten, und deshalb sollte er mit ihr ein Kind haben. Sie waren alle miteinander unzufrieden mit Panotschek, besonders Darja, die ihn doch sonst so gern mochte.

Vater regelte es so, daß die beiden zur Mühle meines Onkels hinüberziehen sollten, wo mehr Platz war und wo sie sich Ziegen und Hühner halten konnten. Er gab ihnen ein Pferd mit. Wir schmückten es mit all den Blumen, die wir in der trocknen Steppe auftreiben konnten. Die Alte setzte sich auf den Kutschbock. »Na, bist du nun zufrieden?« rief mein Vater zu ihr rauf. Sie sah zu ihm runter und kaute weiter auf ihrem mit Harz vermischten Tabak. Mit einemmal kam Bewegung in ihr Gesicht. Die Runzeln, die sonst von oben nach unten verliefen, legten sich plötzlich quer. Sie grinste über das ganze Gesicht. Das war das erstemal, daß ich sie lachen sah.

Aina, das Mädchen aus Sibirien

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