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Akronos als Advocatus Diaboli
ОглавлениеDurch eine bessere Frage, lieber Staatsanwalt: Welche Erkenntnisse können wir aus Illusionen ziehen, die wir nicht als Illusionen erkennen können? Im Grunde steht diese Karte für die Kraft, unsere Wissenserkenntnisse über sich selbst reflektieren zu lassen: Es ist die Selbstbetrachtung der eigenen Ausrichtung oder das Bild der menschlichen Vorstellung von sich selbst. Der Hohepriester ist ein Lehrer, der Seelen lehrt, in endlosen Monologen mit sich selbst zu reden, was wir nur darum nicht merken können, weil jeder ununterbrochen mit sich selber spricht. In dem Moment, in dem es darum geht, einen höheren Sinn zu entdecken, fühlt sich das Ego gezwungen, diesen Sinn zu interpretieren. Das Ergebnis ist ein Bild von Gott und eine Schatzkarte, wie dieser Gott gefunden werden kann. Aber es gibt keinen Gott und keine Landkarte! Es ist der unzureichende Versuch, das Unbekannte zu bebildern und es vom Bekannten zu unterscheiden, indem man das Unbekannte mit einem Bild des Bekannten ummantelt und somit als Ganzes kontrolliert. In dem Maße, in dem wir von einer solchen Weltanschauung eine höhere Erkenntnis erwarten, liefern wir uns den Regisseuren dieser Suggestionen aus, ganz egal, ob es kirchliche Institutionen wie in den vergangenen zweitausend Jahren sind oder politische Modelle, die für Attentate gegen Ungläubige beispielsweise Paradiesgärten versprechen. Zuerst lehren sie uns, dass die Welt an einem gewissen Punkt unserer Sichtweise zu sitzen hat, und dann befehlen sie uns, unsere Perspektive so auszurichten, dass wir die Welt an diesem Punkt auch sehen können. Solange wir ihren Vorgaben persönliche Züge verleihen und sie dadurch zu einer Grundlage unserer Vorstellung machen, sind wir Gefangene dieser Bilder, weil sie genau das suggerieren, was unsere Anschauung uns zu sehen zwingt. Unsere Sinne nehmen so wahr, wie die Prägungen unseres Bewusstseins sie einladen, wahrzunehmen, denn dieses ist gerade der Grund, warum wir annehmen, dass es überhaupt eine höhere Welt geben muss. Wahrheit ist: Die religiösen und philosophischen Glaubensmodelle sind reine Spekulation. Aber diese auf bloßen Mutmaßungen beruhende Erwartung hat eine wichtige Funktion. Sie ist der Kanal, gemeinsame Netzwerke aufzubauen, Erfahrungen zu machen und uns miteinander auszutauschen, ohne letzten Endes wissen zu müssen, wer wir sind. Anders formuliert: Illusion und Spekulation sind die Bahnen, damit sich die Bilder, die wir uns von der Welt machen, miteinander austauschen können, ohne dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, wer wir wirklich sind oder wo der Sinn unserer Frage liegt. In dem Augenblick, in dem wir unsere Vorstellung in Frage stellen, richtet sich unser Fokus auf sich selbst aus bzw. unsere gesellschaftliche Ausrichtung fängt an sich selbst zu beobachten. Weil aber nichts mehr vorhanden ist, was sich außerhalb unserer Selbstbetrachtung beobachten lässt, stellt sich die Beobachtung auf sich selbst ein. Das bedeutet, sie erkennt plötzlich die eigene Welt, die wir aus dem Inventar unserer Vorstellung gebildet haben. Und da sie nichts so sehr wie eine Grundlage braucht, auf die sie sich abstützen kann, setzt sie - ohne das Inventar zu hinterfragen - immer neue Abwandlungen auf alte Denkschlaufen drauf. Deshalb kann das Ziel des Hohepriesters weder Licht noch geistiger Wegweiser sein - ganz im Gegenteil! Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir unsere Religion nicht als Illusion erkennen, denn sonst liefe uns unsere ganze Glaubensarchitektur davon.