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1.2 Rational Choice?
ОглавлениеMenschen verfügen über zwar nicht überragende, aber in gewisser Weise doch bemerkenswerte intellektuelle Fähigkeiten, die es ihnen immerhin gestatten, zukünftiges Geschehen zu antizipieren und über vergangenes Geschehen – sowie über sich selbst – nachzudenken. Eine Handlungstheorie, die diesen schlichten Tatbestand ignoriert, wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. Menschen machen sich ein Bild von ihrer Situation und entwickeln Vorstellungen darüber, wie ihre „Welt“ anders aussehen könnte und sollte. Sie machen sich außerdem Gedanken über die Herausforderungen, die auf sie zukommen und darüber, was sie tun können, um entweder ihre Lage zu verbessern oder um drohendes Ungemach abzuwenden. Dabei sind sie bekanntlich nicht perfekt; ihre Fähigkeiten, sich ein wirklichkeitsgetreues Abbild ihrer Situation zu verschaffen, sind begrenzt – aber sie nutzen sie. Die Frage, wie Menschen sich ein „inneres Modell“ ihrer Umwelt verschaffen, wird von Handlungstheorien oft ausgeblendet. Handlungstheoretiker befassen sich im Wesentlichen mit der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten einer Person sowie deren Bewertung der Handlungsergebnisse. Auch in dem Versuch, sich Klarheit über die Ergebnisse ihres Handelns zu verschaffen, sind Menschen nicht perfekt, aber man wird schlechterdings nicht abstreiten können, dass sie sich darum bemühen. Und es ist rational: man wird einen Menschen kaum vernünftig nennen, wenn dieser sich keine Gedanken über die Konsequenzen seines Handelns macht und wenn er nicht weiß, was er will. Dass man sich beim Handeln an den Konsequenzen orientiert und dass man diese Konsequenzen mit Hilfe klar benennbarer Maßstäbe beurteilt, ist gewissermaßen die Minimalversion vernünftigen Verhaltens. Dabei unterstellen wir einen sehr weitgefassten Rationalitätsbegriff, der beispielsweise nichts über die Inhalte der erwarteten Konsequenzen und auch nichts über die Qualität der Bewertung aussagt. Außerdem lässt sich unser Begriff vernünftigen Verhaltens nicht mit dem Begriff der Zweckrationalität gleichsetzen. Auch mit Egoismus hat unsere Minimalversion vernünftigen Verhaltens nichts zu tun, da sie über die Inhalte der Bewertungsmaßstäbe keine Aussagen macht. Ob jemand eine andere Person bestiehlt oder beschenkt – beides kann „rational“ sein, wenn die dahinterliegenden Wertvorstellungen dies zulassen. Und wer einen anderen bestiehlt, mag zweckrational handeln, wenn er nicht befürchten muss, entdeckt und bestraft zu werden. Aber es kann ebenso vernünftig sein, der Versuchung zu stehlen zu widerstehen, aus dem einfachen Grund, weil „man das nicht tut“. Letzteres gilt aber nur, wenn man weiß, dass man seine „Untat“ nicht vergessen wird und dass einen die Erinnerung daran belasten würde (das ist der Teil, der die Konsequenzen betrifft). In diesem Fall handelt man „wertrational“ und nicht zweckrational. Möglicherweise unterlässt unsere in Versuchung geführte Person den Diebstahl aber auch, weil sie sich sagt: „so etwas tue ich nicht“. Im Unterschied zu einer wertrationalen Entscheidung könnte man hier von einer „selbstrationalen“ Entscheidung sprechen – wäre dieser Begriff nicht etwas unhandlich und missverständlich. Wie bei der wertrationalen geht es auch bei der „selbstrationalen“ Entscheidung um Konsequenzen: Im letztgenannten Fall wäre es nicht leicht, die Untat – so sie denn getan würde – zu vergessen und das würde zu einer Selbstbeschädigung führen. Es sei denn, es mache einem nichts aus, sich selbst als Dieb zu sehen.
Die bereits angeführten Minimalanforderungen an die menschliche Vernunft finden sich auch in der sogenannten Entscheidungstheorie. Bei der Entscheidungstheorie handelt es sich um eine Theorie, die sich mit Wahlhandlungen beschäftigt, also mit der Frage, für welche Handlungsalternativen Menschen sich entscheiden. In ihrer normativen Variante geht es darum, von welchen Überlegungen Menschen sich bei dieser Wahl leiten lassen sollten. Die Entscheidungstheorie eignet sich sehr gut als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer allgemeinen Handlungstheorie. Sie ist eine einfache Theorie, sie ist außerdem eine „Gedankentheorie“, d.h. sie befasst sich mit der gedanklichen Abwägung möglicher Handlungsweisen und möglicher Handlungsstrategien, und sie lässt sich sehr gut mit Theorieelementen anreichern, die den Prozess der Entscheidungsfindung und der Problemlösung zum Inhalt haben. Die Kernaussagen der Entscheidungstheorie lassen sich wie folgt zusammenfassen (SIMON 1955; KIRSCH 1971; STEGMÜLLER 1973; ARROW 1957; COLEMAN 1991; BARTSCHER/MARTIN 1994; MARCH 1994):
Menschen schaffen sich einen Überblick über die Handlungsalternativen, die ihnen zur Verfügung stehen.
Menschen betrachten die Konsequenzen, die sich ergeben würden, wenn man die jeweiligen Handlungsalternativen verwirklichen würde.
Zu diesem Zweck verschaffen sie sich Informationen über die möglichen Umweltzustände, die eintreten können und die geeignet sind, die Handlungsergebnisse zu beeinflussen, und sie entwickeln – hiervon ausgehend – Erwartungen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Konsequenzen eintreten werden.
Menschen beurteilen die Handlungskonsequenzen anhand ihrer individuellen Nutzenvorstellungen.
Ein einfaches Beispiel soll die genannten Grundelemente der Entscheidungstheorie noch etwas erläutern. Betrachtet sei eine Person, die sich vor die Frage gestellt sieht, ob sie ein Projekt auf die „sichere“ Art abwickeln – sich also an erprobten und von den Mitmenschen geschätzten Vorgehensweisen orientieren – soll oder ob sie ihren Plan nach eigenem Ermessen ausführt, sich also dem Standard sowie den sozialen Erwartungen verweigert und das Projekt so angeht, wie es ihren persönlichen Vorlieben und Einschätzungen entspricht. Es gibt viele Vorhaben, bei denen man vor diese Frage gestellt wird (z.B. das Verfertigen einer Dissertation, der Bau eines Hauses, die Gestaltung eines Festes usw.). In Tabelle 1.1 finden sich auf diese Problemsituation angewandt beispielhafte Wertangaben für die Grundkonzepte der Entscheidungstheorie.
Tab. 1.1: Grundkonzepte der Entscheidungstheorie
Der Einfachheit halber sind nur zwei Alternativen angeführt. Tatsächlich jedoch lassen sich viele weitere (z.B. verschiedene Kompromisslösungen) nennen. Die Entscheidungstheorie behauptet nun, dass Menschen bei ihrem Handeln die Konsequenzen ihres Handelns bedenken. Wir haben in unserem Beispiel einige Konsequenzen angeführt, die in der gegebenen Situation bedenkenswert sind. Das ist zum einen der Erfolg bzw. der Misserfolg. Dabei nehmen wir an, dass in der Einschätzung der betrachteten Person die Eigensinn-Alternative riskanter ist. Die Chance, mit dem „eigensinnigen“ Vorgehen Erfolg zu haben, beträgt 1:1, bei einem konventionellen Vorgehen liegen die Chancen dagegen wesentlich höher, nämlich bei 4:1 [p (Erfolg)/p (Misserfolg) = 0,8:0,2 = 4:1]. Allerdings ist der „Genuss“, der sich aus einem Erfolg des Eigensinn-Projektes ergäbe, sehr hoch, der entsprechende Teilnutzen beträgt 10 Einheiten, während er beim Standardprojekt nur bei 5 Einheiten liegt. Es ist natürlich eine wichtige Frage, wie die Nutzenskala genau bestimmt wird, in welchen „Einheiten“ der Nutzen also gemessen werden kann. Diese Frage soll uns aber hier nicht weiter beschäftigen. Uns geht es darum, das Grundkonzept der Entscheidungstheorie darzustellen. Wie Tabelle 1.1 zeigt, wird der Teilnutzenwert mit der Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert und man erhält damit den (Teil-)Erwartungsnutzen. Dieser liegt – bezogen auf den Erfolg – für das Eigensinnprojekt bei 5, für das Standardprojekt bei 4. Damit wird das Eigensinnprojekt dem Standardprojekt vorgezogen. Allerdings müssen bei einer vollständigen Analyse auch weitere Konsequenzen berücksichtigt werden, worauf wir hier aber verzichten wollen. Die Misserfolgswahrscheinlichkeit ist logischerweise das Komplement der Erfolgswahrscheinlichkeit, hier also p(l−0,5) = 0,5. Der Teilnutzenwert des Misserfolgs ist dagegen nicht notwendigerweise einfach der negative Nutzen des Erfolgs. In unserem Beispiel gilt dies zwar für das Eigensinnprojekt, aber nicht für das Standardprojekt. Scheitert man mit dem Standardprojekt, dann resultiert daraus zwar auch ein negativer Nutzen, dieser fällt allerdings nicht allzu hoch aus. Psychologisch lässt sich das leicht erklären: Wenn man viel von seinem Selbstverständnis in ein Projekt investiert, dann ist nicht nur die Enttäuschung im Falle des Scheiterns groß, auch die negativen Auswirkungen auf die eigene Reputation lassen einen nicht unberührt. Tabelle 1.1 nennt zwei weitere Konsequenzen. Bei Projekten ist man ja – anders als beispielsweise bei Wetten – kein bloßer Beobachter der Geschehnisse, sondern ein aktiver Gestalter, es kommt also nicht nur auf die Ergebnisse an, die eigene Tätigkeit im Projekt ist vielmehr eine wichtige Quelle von Arbeitsleid und Arbeitsfreude. Belastungen und Freuden der Arbeit sind zwar nicht gänzlich unabhängig voneinander, dennoch kann eine Arbeit selbst bei hohen Belastungen viel Freude machen.
In unserem Beispiel rechnet die Person bei ihrem Eigensinnprojekt mit großer Arbeitsfreude; auch die Mühen schätzt sie als nicht unbeträchtlich ein. Beim Standardprojekt sind die entsprechenden Größen moderater. Wie groß die Belastungen und Beglückungen sein werden, lässt sich oft nicht genau vorhersagen, sodass man sich auch hier mit Wahrscheinlichkeitsschätzungen begnügt. Nimmt man die entsprechenden Berechnungen vor, so ergeben sich die in der letzten Spalte angeführten Teilnutzenwerte. Was bleibt, ist die Bestimmung des Gesamtnutzens der beiden Alternativen. Diese geschieht mit Hilfe von Entscheidungsregeln.
In der Tabelle sind zwei Entscheidungsregeln aufgeführt: Die erste verlangt eine Addition der verschiedenen Erwartungsnutzengrößen, wobei allen ein gleiches Gewicht gegeben wird. Nach dieser Rechnung müsste die Person auf das Eigensinnprojekt verzichten. Die Hauptursache dafür liegt in der sehr negativen Einschätzung eines möglichen Misserfolgs. Diese kommt bei der zweiten Entscheidungsregel nicht zum Zuge, weil es bei dieser nur darauf ankommt, welche Entscheidung das „Spitzenerlebnis“ mit sich bringt. Unser Beispiel zeigt, dass es nicht egal ist, welche Entscheidungsregel man verwendet. Zum Einsatz kommen sollte die Entscheidungsregel, die die Wertstruktur der Person möglichst gut abbildet.
In dieser Argumentation der Entscheidungstheorie stecken scheinbar keine besonderen Anforderungen an die Rationalität des Handelns, sie beschreibt lediglich, wie Menschen sich (angeblich) verhalten. Implizit ist in ihnen aber durchaus eine Rationalitätsvorstellung enthalten. Sie entspricht, wie bereits angeführt, im Wesentlichen derjenigen, die wir in unserer Minimaldefinition beschrieben haben: Menschen verhalten sich nicht „irgendwie“. Sie prüfen vielmehr – wie unvollkommen auch immer –, welche Handlungsalternativen ihnen überhaupt zur Verfügung stehen. Im Zweifel halten sie nicht nur Ausschau nach Alternativen, sondern sie versuchen auch, sich diese tätig zu erarbeiten (was mühsam sein kann). Sie bedenken überdies die Konsequenzen, die ihr Handeln haben könnte, wenngleich sie sich manchmal auch nur vage Vorstellungen davon machen und sich nicht umfassend informieren, um ein realitätsgerechtes Bild zu erhalten. Und schließlich verwendet ein Mensch seine Nutzenvorstellungen auch, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was er anstrebt. Er folgt also nicht (nur) den Impulsen, die durch irgendwelche interne oder externe Schlüsselreize ausgelöst werden.
Die „Normative Entscheidungstheorie“ präzisiert die Anforderungen, die an einen „rationalen“ Entscheider zu stellen sind und ist dabei mehr oder weniger streng. So gehört beispielsweise zu einem „vollkommen“ rationalen Handeln, dass wirklich sämtliche Alternativen in Betracht gezogen, vollständig ausformuliert und gegeneinander abgegrenzt werden. Ähnliches gilt für die Überlegung, wie das entsprechende Handeln auf andere und/oder die Umwelt wirkt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Außerdem sollten die Handlungsergebnisse an objektiven Größen gemessen werden, die möglichst exakt („quantitativ“) zu erfassen sind. Schließlich müssen die einzelnen Entscheidungsergebnisse miteinander „verrechnet“ werden (denn keine Entscheidung hat nur eine Wirkung und damit nur eine Konsequenz, nur ein Ergebnis); bei dieser Aufgabe sollen Regeln zur Anwendung kommen, die die Präferenzstruktur des Entscheiders möglichst genau abbilden.
Dass Menschen in ihrem realen Handeln diesen Anforderungen nicht genügen, leuchtet unmittelbar ein: Kein Mensch verfügt über vollkommene Informationen, weder über sich, noch über die Umwelt, und selbst in künstlich geschaffenen und sehr vereinfachten Entscheidungssituationen (bevorzugtes Anschauungsobjekt von Entscheidungstheoretikern sind Lotterien) zeigt sich, dass „reale“ Menschen den angeführten Anforderungen nicht gerecht werden. Nun sollen normative Theorien auch gar nicht das tatsächliche Verhalten abbilden, es geht ihnen vielmehr darum, einen Maßstab für das wünschenswerte Verhalten zu liefern. Wie gut die Normative Entscheidungstheorie diese Aufgabe erfüllt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, angemerkt sei lediglich, dass auch Normen realistisch sein sollten. „Sollen impliziert Können“ und überstrenge und wirklichkeitsfremde Anforderungen richten letztlich auch praktischen Schaden an. Dagfinn Føllesdal vergleicht das Verhältnis der normativen zur deskriptiven („empirischen“) Entscheidungstheorie mit dem Verhältnis der Logik zur alltäglichen Argumentationsweise der Menschen. Während sich die Logik um ein kohärentes System von Aussagen und Schlussweisen bemüht, geht es beim Beschreiben des „wirklichen Lebens“ darum, wie Menschen tatsächlich argumentieren und welche Schlussfolgerungen sie ziehen, auch wenn diese – vom logischen Standpunkt aus betrachtet – noch so verquer und unlogisch erscheinen.
„In unserer empirischen Entscheidungstheorie müssen wir in Betracht ziehen, daß Leute normalerweise nur eine sehr kleine Anzahl von Alternativen einer Handlung, welche ihnen in einer bestimmten Situation offenstehen, erwägen; wie sie nur über einige Konsequenzen reflektieren, oft seltsame Ansichten über die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Konsequenzen haben und auch Werte und Präferenzen haben mögen, die beträchtlich von denen abweichen von denen wir meinen, sie sollten sie haben.“ (FØLLESDAL 1979, 440)
James REASON (2009) spricht von einem „Niedergang“ der normativen Entscheidungstheorie und meint damit, dass die normative Entscheidungstheorie nicht wirklich realistische Handlungserklärungen liefern kann. Zur Untermauerung seiner Behauptung beschreibt er vier einschneidende Entwicklungen. Als Referenzmodell dienen ihm dabei die folgenden entscheidungstheoretischen Annahmen, die wir ähnlich ja bereits oben angeführt haben:
Menschen verfügen über eine eindeutig definierte Nutzenfunktion; diese erlaubt es ihnen, den Nutzen möglicher Handlungsergebnisse zweifelsfrei durch eine Kardinalzahl zu bestimmen,
Menschen haben einen klaren und erschöpfenden Überblick über die ihnen offenstehenden Handlungsalternativen,
Menschen kennen die Wahrscheinlichkeitsverteilungen alternativer Zukunftsszenarien sowie der in diesen Szenarios möglichen Handlungsergebnisse,
Menschen werden die Alternative wählen, die ihren Nutzen maximiert.
Eine erste und nachhaltige Degradierung des normativen Modells erfolgte durch die Einführung des Konzepts der beschränkten Rationalität (vgl. SIMON 1955). Dieses bestreitet, schlicht gesagt, die Gültigkeit der angeführten Annahmen. Menschen kennen ihre Alternativen nicht, sie geben sich häufig auch keine Mühe, sich diese zu erarbeiten, selbst wenn dies sinnvoll wäre (also wenn es z.B. um sehr wichtige Entscheidungen geht). Sie machen sich auch keine Gedanken über Zukunftsszenarien, sondern denken sehr eng in dem Referenzrahmen, der ihnen durch das konkret vorliegende Problem aufgedrängt wird. Das heißt: Die Dinge werden weder zu Ende gedacht noch bestehen klare Vorstellungen darüber, welche Konsequenzen mit welcher Wahrscheinlichkeit eintreten. Das liegt unter anderem daran, dass dem menschlichen Denken schon allein das Konzept der „Wahrscheinlichkeit“ nur schwer zugänglich ist. Und schließlich streben Menschen nicht nach einer Maximierung ihres Nutzens. Sie brechen ihr Suchverhalten vielmehr bereits dann ab, wenn sich eine Alternative zeigt, die „zufriedenstellende“ Lösungen bietet („Satisficing-Prinzip“).
Eine weitere Abwertung der normativen Entscheidungstheorie ergibt sich aus einer Vielzahl von Studien, in denen sich zeigte, wie wenig wir Menschen in der Lage sind, bündig zu denken und zu argumentieren. Ein dritter Forschungsstrang erbrachte den Nachweis, dass Menschen beim Fällen von Urteilen und in ihren Entscheidungen zahlreiche Fehler machen (DEKKER 2005) und dass sie nur selten umfängliche und analytisch überzeugende Problemlösungsprozesse durchlaufen, sondern sich mit der Anwendung mehr oder weniger hilfreicher heuristischen Denkregeln begnügen (MARTIN 2011). Ein weiterer Punkt betrifft die motivationale Seite: Denken kostet Kraft und kann manchmal sehr belastend sein. Daher begnügen Menschen sich oft mit vorläufigen und wenig durchdachten Lösungen, auch wenn diese ihnen nur eine kurzfristige Entlastung verschaffen.
Interessanterweise erlebte die normativ geprägte Entscheidungstheorie aber nicht nur einen „Niedergang“, sondern machte unter dem Etikett „Rational Choice“ insbesondere in den Sozialwissenschaften eine erstaunliche Karriere. In der Ökonomie hat sie ohnehin ihre stets dominierende Rolle behalten. Ein wesentlicher Grund für die Attraktivität dieses Ansatzes liegt vermutlich darin, dass es mit der Entscheidungstheorie so gut gelingt, das Aggregationsproblem anzugehen. Sozialwissenschaftler interessieren sich ja primär für soziale Phänomene und es stellt sich hierbei natürlich die Frage, wie es möglich ist, dass sich die zahllosen, je individuellen Bestrebungen und Handlungsweisen zu stabilen gesellschaftlichen Tatbeständen formieren. Die Beantwortung dieser Frage gelingt mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie recht gut und zwar mit Hilfe einiger weniger – wiederum vereinfachender – „Brückenhypothesen“, die sich auf die Vermittlung der individuellen Handlungsbestrebungen beziehen. Darauf werden wir an dieser Stelle jedoch nicht näher eingehen. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Varianten der Rational-Choice-Theorie herausgebildet, die sich unter anderem in der Strenge der Verhaltensannahmen, nach Inhalten sowie in den Einschränkungen, die sie vornehmen, unterscheiden. In der Regel richten sich die Unterschiede nicht auf die theoretischen Annahmen selbst, sondern auf die Ausformulierung von Erklärungsmodellen. Und hier ist Variabilität auch angebracht, weil sich ein Erklärungsmodell am Erklärungszweck sowie dem betrachteten Handlungskontext ausrichten muss und damit zwangsläufig jeweils ein unterschiedliches Gesicht erhalten muss. Von Siegwart LINDENBERG (1985) stammt das sogenannte RREEMM-Modell, das sich zur Aufgabe macht, das menschliche Verhalten in sozialen Kontexten zu erklären. Menschen agieren – so Lindenbergs Modell – als Resourceful, Restricted, Expecting, Evaluating, Maximizing Man. Menschen sind demnach findig im Erarbeiten von Alternativen und im Abschätzen der Konsequenzen („resourceful“). Sie handeln nicht völlig frei, sondern passen sich gegebenen Knappheiten und Möglichkeiten an („restricted“). Ihr Verhalten orientiert sich an Erwartungen („expecting“) und Bewertungsmaßstäben („evaluating“), wobei sie – so die unterstellte Entscheidungsregel – immer die Handlungsalternative wählen, die ihren Wünschen maximal entgegenkommt („maximizing“). Ähnlichkeiten mit den Grundgedanken der allgemeinen Entscheidungstheorie sind unübersehbar. Ob die von Lindenberg spezifizierten Verhaltensannahmen aber immer zutreffen, kann bezweifelt werden. Zustimmen wird man sicher der Aussage, dass sich Menschen an ihren Erwartungen ausrichten und nicht etwa an objektiven Tatsachen – die sie ja oft gar nicht genau kennen. Ob sie bei ihrem Handeln allerdings immer auch die Einschränkungen beachten, die ihnen gesetzt sind (Fähigkeiten, Ressourcen, soziale Unterstützung usw.), ist sehr fraglich. Ebenso wenig wird man der Behauptung zustimmen können, dass Menschen immer und überall die Maximierungsregel zum Einsatz bringen. Wie haltlos diese Behauptung ist (Hartmut Esser sieht im Maximierungsprinzip sogar eine anthropologische Grundtatsache, deren Gültigkeit empirisch gut bestätigt sei, ESSER 1993), muss man „eigentlich“ nicht diskutieren. Sie widerspricht jeder normalen Erfahrung und man muss sich fragen, wie Sozialtheoretiker derartige Ansichten vertreten können, da – wie doch eigentlich jeder weiß – oftmals bereits das Auftreten eines einzelnen auf pure Nutzenmaximierung bedachten Individuums genügt, um das soziale Zusammenleben massiv ins Wanken zu bringen. Menschliche Gemeinschaften können nicht funktionieren, wenn sie nicht durch Rücksicht, Nachsicht, Verzicht und Gelassenheit getragen werden.
Mit etwas allgemeineren Begriffen operiert die Version der Rational-Choice-Theorie von Jon ELSTER (2007). Im Kern geht es auch hier um das Zusammenspiel von Überzeugungen und Wünschen (die in der Rational-Choice-Theorie häufig als Erwartungen und Werte bezeichnet werden). Elster weist darauf hin, dass nur dann sinnvoll von einer rationalen Entscheidung gesprochen werden kann, wenn beide Aspekte – also sowohl Wünsche als auch Überzeugungen – tatsächlich zum Zuge kommen (Abbildung 1.1).
Abb. 1.1: Grundkonzepte des Rational-Choice-Ansatzes (nach ELSTER 2007, S. 191)
So sei es beispielsweise nicht rational (wenngleich zweckmäßig), beim Anblick eines schlangenähnlichen Objekts schreckhaft und reflexartig zurückzuweichen. Rationalität käme in einer solchen Situation erst dann ins Spiel, wenn man erkennt, dass es sich bei dem Objekt tatsächlich um eine Schlange handelt und nicht etwa nur um einen Ast. In diesem Beispiel kann man zwar „zufällig“ richtig handeln (es könnte ja tatsächlich eine Schlange unseren Weg kreuzen), jedoch sollte die Rationalität vom Handeln der Akteure aus und nicht vom Ergebnis her bestimmt werden. Ähnlich kann man aus falschen Gründen richtig handeln (Hänsel treibt Sport, um Gretel zu imponieren, Hans im Glück glaubt jedes Mal, er tausche zu seinem Vorteil – und irrt sich dabei gewaltig –, bis er gar nichts mehr hat, was ihm tatsächlich zum Vorteil gereicht), aber auch dann liegt kein „rationales“ Verhalten vor.
Die Pfeile in Abbildung 1.1 haben im Übrigen eine doppelte Bedeutung, sie kennzeichnen sowohl Kausalitäten als auch Rationalitätsanforderungen. Eine erste Rationalitäts- oder „Optimalitäts-Anforderung“ verlangt, dass sich eine Handlung auf Überzeugungen stützt (darauf sind wir gerade eben eingegangen). Die zweite Rationalitätsanforderung verlangt, dass die Überzeugungen angesichts des gegebenen Kenntnisstands gut begründet sind. Die dritte Anforderung betrifft die Informationsgewinnung: hier ist zu überlegen, ob es sich „lohnt“, angesichts der zu treffenden Entscheidung in zusätzliche Informationsbeschaffungsaktivitäten zu investieren. Diese Anforderung ist einigermaßen prekär, weil man den Wert einer Information ja oft erst dann erkennen kann, wenn man über sie verfügt. Auch die Wünsche schließlich müssen bestimmte Anforderungen erfüllen, damit man ihnen Rationalität zusprechen kann. Elster nennt unter anderem die Transitivitätsforderung, die verlangt, dass man dann, wenn man das Gut A dem Gut B und das Gut B dem Gut C vorzieht, nicht gleichzeitig das Gut C dem Gut A vorzieht. Außerdem verlangt Elster die Vollständigkeit des Vergleichs, die nur gewährleistet ist, wenn jede Alternative mit jeder anderen Alternative verglichen wird. Daneben gibt es zahlreiche weitere Anforderungen an die Rationalität des Wünschens und der Präferenzen, worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll (vgl. z.B. TVERSKY/KAHNEMAN 1986, ANAND 1987).
Abschließend sei noch auf den Zusammenhang zwischen Wünschen und Überzeugungen hingewiesen. In Abbildung 1.1 ist der entsprechende Pfeil „blockiert“. Damit will Elster zum Ausdruck bringen, dass unsere Überzeugungen nicht von unseren Wünschen beeinflusst werden sollten. Aber genau diese Rationalitätsforderung wird im realen Handeln oft nicht erfüllt: wenn wir uns etwas sehr wünschen, glauben wir es ganz gern, weil wir uns (normalerweise) mögen, übersehen wir leicht unsere Fehler usw. Doch das haben wir ja bereits oben festgehalten: das reale Verhalten der Menschen ist nur in einem eingeschränkten Sinne auch ein rationales Verhalten. Dessen ungeachtet macht man einen großen Fehler, wenn man glaubt, man könne eine Handlungstheorie entwerfen, die die in der menschlichen Natur angelegte Rationalität ausblendet. Unsere Fähigkeiten zur Vorausschau und zur Selbstreflexion sind nicht schlichtweg Werkzeuge, die wir entweder benutzen oder zur Seite legen können, je nachdem wie uns das gefällt, wir können sie nicht „ausschalten“, was uns manchmal das Leben schwer macht. Zwar gibt uns unser Denkvermögen die Möglichkeit, die Realität besser zu verstehen und unsere Ziele besser zu erreichen. Es zwingt uns aber auch, über unser Handeln nachzudenken und uns hierüber Rechenschaft abzugeben. Unser Denken steht nicht jenseits unseres Tuns, sondern ist eng mit ihm verflochten. Wir können ihm nicht ausweichen, auch wenn es uns neben den angenehmen unangenehme Wahrheiten nahebringt.