Читать книгу Mondschein-Serenade - Albert Morava - Страница 3
1 Begegnungen
ОглавлениеDie Sonnenstrahlen – warm und weich – hatten sein Gesicht gestreift und er wachte auf. Durch das halbgeöffnete Fenster zur Gartenterrasse hin konnte er einen hellblauen Himmelstreifen sehen und sanftes Vogelgezwitscher wahrnehmen. Dies beruhigte ihn und rief in ihm jetzt - an seinem dreiundvierzigsten Geburtstag - angenehme Erinnerungen wach, an glückliche Tage seiner verflossenen Kindheit wach.
Die Welt, wie er sie jetzt empfand, hatte plötzlich eine andere Dimension bekommen und er selbst war jetzt ein anderer Mensch, ohne zu wissen, wer er wirklich war.
Doch etwas von dem Jungen von damals, der mit einem selbstgemachten Holzschwert auf sechs andere einschlug, mit dem Glauben dieses Schwert verleihe ihm die Kraft von tausend Mann, ist wohl übriggeblieben.
Noch halb im Traum streckte er seine Hand aus und tastete um sich, das Bett neben ihm war noch warm aber schon leer, Tamara war nicht da. Was von ihr blieb, war ein schwarzes Nachthemd mit erotisierendem Duft ihres Körpers. Er dachte zurück an den Tag und den Ort ihrer ersten Begegnung; an Prag, der Stadt, die sein Leben veränderte.
*********
Zu Zeiten der Blumenkinder von San Francisco befand sich die goldene Stadt Prag noch im Dornröschenschlaf. Zwar war der Hauch der glorreichen Vergangenheit dieser früher mondänen Metropole in der geographischen Mitte Europas- seine kubanischen Freunde sprachen einmal enttäusscht von dem Paris des Ostens, welches es nicht mehr gab - noch irgendwie spürbar: Allerdings fühlte sich dieser Hauch etwas ängstlich an, kümmerlich vegetierte er, fast erstickt von der allgegenwärtigen grauen Wolke der staatlich verordneten Gleichmacherei, die über dem Land hing.
Der Fassadenputz der prächtigen Jugendstilhäuser in der Prager Altstadt und am Moldauufer blätterte langsam ab, die Wohnungsnot war groß, doch Jan hatte Glück. Nach seiner Ankunft in Prag als frischgebackener Student der philosophischen Fakultät wurde ihm von der Verwaltung der Karlsuniversität provisorisch eine Schlafstelle im gemeinschaftlichen Schlafsaal eines Studentenheims zugewiesen.
Hier standen an die dreißig Betten brav in Reih und Glied; es war die Sammelstelle für zugereiste Neustudenten männlichen Geschlechts aus aller Welt.
Studentinnen - nicht selten dunkler Hautfarbe - hatten eine separate Etage im gleichen Haus. Spät am Abend erst war er aus seiner Heimatstadt hier angekommen, eine Stehreise im überfüllten Zug, der von der russischen Grenze kam. Erschöpft legte er sich auf sein Bett, um die Matratze zu testen, diese gab sofort quitschend nach, zu weich war das Bett. Die Gitarre, die er mitgebracht hatte, schob er unter das Bett, dort war sie zwar nicht staubfrei, aber sicher.
Er schloss die Augen, lauschend versuchte er das vielsprachige Stimmengewirr um ihn herum zu entwirren, woher kamen all diese Leute? Tschechen waren in der Minderheit, Europäer auch.
Ein stattlicher, hochgewachsener Schwarzer überquerte schlendernd mit langen, faulen Schritten den Schlafraum, blieb neben dem Nachbarbett stehen und fragte:
"Ist er hier schon angekommen?"
Er sprach überkorrektes Tschechisch eines Ausländers, allerdings mit starkem Akzent. Die Stimme klang dunkel und belegt.
"Wer?"
Er wies mit der Hand aufs unbelegte Nachbarbett.
"Roberto..aus Kuba, wie ich.."
"Ich habe hier noch keinen gesehen.- Wie sieht er aus?"
"Ganz anders als ich. Blond und schlank.."
"Nicht gesehen. Aber ich kann ihm etwas ausrichten, wenn er kommt. Von wem?"
"Ich heiße Dionisio", seinen Namen sprach er besonders klar und deutlich aus.
"Ich lasse ihm eine Nachricht hier auf dem Bett."
Dann kritzelte er etwas auf ein Blatt Papier, das er aus der Tasche zog, legte es unter das
Kopfkissen und ging wieder fort.
Trotz der Kuba-Krise, die erst vor noch nicht allzulanger Zeit zu Ende gegangen war, war Kuba für Jan eher ein musikalischer als ein politischer Begriff, das Synonym für rhythmische Gitarrenklänge im Schatten der Palmen, Tänzerinnen mit langen, kaffeebraunen Beinen...Kuba, Jamaica..so nah am Wunderland Amerika, jetzt dem offiziellen StaatsfeindNummer eins. Arizona, Texas, Mexiko, Tequila, Tampico,..und wie hießen noch all die verbotenen Plätze der Welt? Sein Land war zu, aber das Fernweh war groß und allgegenwärtig. Er schlief ein.
Am nächsten Morgen hatten ihn gutturale Stimmenklänge wachgemacht, aufregendes, etwas aggressiv anmutendes aber doch melodisches Gerede in einer Sprache, die er nicht kannte. Erst viel später wurde ihm erklärt, es sei Arabisch - eine kraftvolle und sinnliche Sprache.
Das Bett nebenan war jetzt belegt, Roberto war wohl spät in der Nacht angekommen und war jetzt noch wach. Strohblondes, aber fettiges Haar, ungepflegt und übermüdet sah er aus. Sein Gesicht war schwammig weich ohne klare Konturen.
"Roberto?"
"Ja."
Er schaute zu Jan hin, hatte blaugrüne, ausdruckslose Augen.
"Du hast einen Brief unter dem Kopfkissen."
"Was? Bitte?"
Robertos Sprachkenntnisse reichten für ein fließendes Gespräch nicht aus, er wirkte hilflos. Jan griff unter das Kopfkissen, zog das bereits zerknitterte Papierblatt hervor und reichte es ihm.
"Da hast du es!"
Roberto musterte gelangweilt das Gekritzel an.
Hijo de puta...stand darauf als Anrede. Und noch ein paar Worte im kubanischen Spanisch, das Jan nicht verstand.
"Von meinem Kumpel", sagte Roberto. "Er ist auch schon da, aber morgen werden wir beide woanders hin verlegt. Dort sehen wir uns wieder."
Vor längerer Zeit hatte Jan versucht im Selbststudium Spanisch zu erlernen, aber irgendwie war ihm die Sprache nicht so sympathisch wie andere Dialekte des alten Lateins, welches er auf dem Gymnasium zu lernen hatte, doch nie wirklich erlernte. Zu hart im Vergleich zu Französisch, und ohne die verführende Melodik des Italienischen.
Das war nun seine erste Spanischlektion vom Muttersprachler. Caramba!
**********
Die dunklen Statuen der Karlsbrücke kamen ihm in den Sinn und die verkruschelten Strässchen der Prager Kleinseite, die hoch zur Burg Hradschin führen, der Altstädter Ring, das Judenviertel - das wahre Prag, wie es historisch entstanden war - Kafkas Prag, Smetanas Prag und Mozarts Lieblingsstadt. Wie lange war es her? Es schien ihm eine Ewigkeit.
Die übergroße Statue Stalins, die damals am Moldauufer als erzwungene Verbeugung vor dem großen Bruder aus dem Osten errichtet worden war, sah er jetzt klar vor sich. Ein peinlicher Fremdkörper war sie damals, der von echten Pragern mitleidig belächelt wurde. Prager Tauben nisteten auf ihr mit allen Konsequenzen, was regelmäßige Reinigung erforderlich machte.
Es gibt sie nicht mehr, die Statue Stalins - vom Winde verweht. Doch Prag gibt es immer noch, denm diese Stadt behielt - und wird wohl für immer behalten - ihre melancholische Einzigartigkeit unter den Großstädten dieser Welt; allen Anstrengungen der damaligen Machthaber zum Trotz, ihr einen langweiligen Einheitsanstrich zu verpassen, der nie richtig hielt.
Menschen, die aus einer anderen Umgebung mit klaren oder weniger klaren Erwartungen einer einschneidenden Änderung ihres Lebens in Prag ankommen, werden nicht enttäuscht. Prag wird sie verändern.
Es war in einer Seminarveranstaltung der Karlsuniversität, wo Jan Tamara zum ersten Mal begegnete. Der Andrang vor dem Hörsaal, wo der Hippiepoet auftrat, war groß, da es sich herumgesprochen hatte, ein waschechter Amerikaner - und das hatte damals in Prag einen Seltenheitswert - gäbe es hier zu sehen und zu hören. Genauso hätte er ein Mann vom Mond sein können!
Tamara, die - wie er selbst und viele andere - zusammen mit zwei anderen Prager Schönheiten ebenfalls auf die Ankunft des Amerikaners wartete, fiel ihm durch ihre Gelassenheit auf. Sie war weniger aufgeregt als die anderen und ausserdem hatte sie Ähnlichkeit mit einem anderen Mädchen, in welches er als Junge verliebt war, allerdings ohne mit ihr jemals darüber zu reden.
Schulterlanges, dunkles Haar umrahmte ihr Gesicht. Eher rund als oval, aber weich und regelmäßig. Schwarze, leicht verträumt wirkende Augen, Stirn und Nase in einer Linie, die häufig auch als griechisches Profil bezeichnet wird. Große Lippen blühten wie eine rote Blumenknospe in ihrem Gesicht. Sie war nicht zu übersehen.
Das Publikum hörte dem langhaarigen, bärtigen Dichter aufmerksam zu, ohne sich zu regen. Möglicherweise waren auch einige dabei, die kein Englisch verstanden und lediglich wegen der Schau gekommen waren. Nach dem Vorlesen gab es offiziell die Gelegenheit, dem Dichter Fragen zu seiner Schöpfung und andere allgemeine Fragen zu stellen.
"Wenn Sie aus Paris kommen", fragte einer, "wo haben Sie dort gewohnt?"
"Unter der Brücke", antwortete er grinsend.
"Wo werden Sie demnächst in Prag Ihre Gedichte noch vorlesen? Im Verein der tschechoslowakischen Schriftsteller?"
"Auf der Karlsbrücke"
Peinliches Schweigen, so etwas war damals ausdrücklich verboten und galt als Anstiftung zur Störung der öffentlichen Ordnung.
"Nehmen Sie Geld fürs Vorlesen Ihrer Poesie?"
"Nicht in Prag", antwortete der Poet.
.Ein ehrgeizig wirkender junger Anglist, der offensichtlich auf sich aufmerksam machen wollte, fragte:
"Was halten Sie von Fidel Castro?"
Diese Frage wurde von einigen Typen aus dem Auditorium kräftig beklatscht und der Dichter dachte kurz nach.
" Vor einigen Monaten war ich in Havanna, um dort vorzulesen. Aber da ich zu jemandem sagte, es gäbe dort zu viel Homosexualität, haben sie mich ausgewiesen. Ist damit Ihre Frage beantwortet?"
Totenstille. In der damaligen Tschechoslowakei war gleichegeschlechtliche Liebe ein Strafdelikt. Daraufhin fragte jemand leise und anonym, ohne die Hand zu heben:
"Kennen Sie Jack Kerouac?"
Kerouac war damals als die Schriftsteller-Ikone der Beatgeneration jener Zeit bekannt.
"Jack ist mein Freund", sagte er. "Aber er trinkt zu viel"
Damit ging die Schau zu Ende und die meisten Zuhörer verließen den Saal. Ein kleiner Rest, der bis zum bitteren Schluss blieb, um mit dem Lehrstuhlinhaber über den Erfolg dieser Veranstaltung zu reden, blieb noch sitzen.
"Na, was meint ihr", sagte der Professor, “ist er ein Hochstapler?"
Auf diese Frage gab es keine schnelle Antwort. Schließlich unterbrach der ambitionierte Brillenträger, der vorhin die Fidel-Castro-Frage gestellt hatte, die peinliche Stille und sagte:
"Nein, aber er ist ein abschreckendes Beispiel!"
"Richtig", sagte der Professor, "und deswegen war er hier!" Daraufhin beendete er formal die Veranstaltung.
Nur zu gerne hätte Jan Tamara damals angesprochen und sie nach ihrem Eindruck gefragt, doch sie war längst gegangen.
Wohin war sie gegangen? Novemberabende in Prag sind neblig und kalt, das gelblich-melancholische Licht der historischen Gaslaternen, die in einigen Straßen rund um das Gebäude der Philosophischen Fakultät stilecht als Beleuchtung aufgestellt sind, ist nur etwas für Verliebte und Romantiker.
Doch die Prager und Pragerinnen sind in der Regel keine Romantiker, vielmehr sind sie praktisch veranlagt und verliebt sind sie selten.
Tamara war mit ihren zwei Kommilitoninen auf dem Weg zur Mensa der juristischen Fakultät – hier gab es als Abendessen Kesselkost - meist gulaschartige Eintöpfe mit Brot gratis dazu. Die kurze Strecke von der philosophischen Fakultät zum Gebäude der Juristen, die normalerweisezu zu Fuß in wenigen Minuten zurückgelegt werden konnte, war wegen Arbeiten an der Kanalisation und dichtem Nebel, der sich jetzt schleierartig über die Stadt zu legen begann, schlecht passierbar.
“Lasst uns doch hinüber zur Kleinseite gehen“, sagte Dana, ein schlichtes Mädchen aus der Slowakei, die neu war in Prag und mit Tamara - und drei anderen Mädels - das Zimmer im Studentenwohnheim der Ursulinen teilte.
Dieses historische Jugenstilgebäude war früher ein Kloster und wurde im Zuge der Modernisierung des Landes in ein Studentenwohnheim umgewandelt.
"Heute könnten wir uns wohl einen Abendimbiss in einer der kleinen Bars nahe der Karlsbrücke leisten", schlug sie vor.
"Dem Dichter zu Ehren!" meinte Nadja, eine gut aussehende, üppige Rotblonde mit langem rotstichigen Haar. Bereits jetzt im November hatte sie schicke Winterstiefel aus rotgefärbtem Kunstleder an; die Stiefel waren Westimport und eine Spur zu elegant, zu teuer für eine Studentin.
“Dichter?" zweifelte Dana. "Von seinem Vers habe ich wenig verstanden, aber bei uns in der Ostslowakei würde man ihn nicht über die Straße laufen lassen. Die Polizei ihn einsperren."
"Hier in Prag hat er Narrenfreiheit", beteuerte Nadja, die Pragerin.. "Ausserdem wohnt er bei Ina, bei ihrer Familie. Ina schreibt ja auch, hat Kontakte bis nach New York, ist angeblich lesbisch... und auch Jüdin.... wie er".
"Jude? Kafka war auch Jude!“ Tamaras Stimme klang überlegen. Sie war etwas älter als die anderen, sie wusste mehr. “Und er wohnte nicht weit von hier.“
Sie befanden sich jetzt am anderen Ende der Karlsbrücke, stiegen die alte Steintreppe zur Kampainsel hinunter und liefen weiter am Kafka-Haus vorbei, wo der Schrifteller einst wohnte und - in fabelhafter Symbiose mit der Nostalgieatmosphäre, die über Jahrhunderte hinweg Prag eine besondere Prägung der Traurigkeit verlieh - seine Werke schrieb. Sein Prag war das jüdische Prag.
Kafka stand damals übrigens so wie einige andere Prager Schriftsteller auf der schwarzen Liste der Partei. Es war nicht gut, ihn in der Öffentlichkeit, etwa in der Straßenbahn, zu lesen - falls man zufällig das Glück gehabt haben sollte, ein abgegriffenes Kafkabuch wie Der Prozess oder Das Schloss aus früheren Zeiten, in die Hand zu bekommen. Alleine über Kafka zu reden, war schon verdächtig.
Nach erfolgloser Suche von drei freien Plätzen in einer der kleineren Bars auf der Kampa-Insel, haben Tamara und die Mädchen sich entschieden, statt dessen die traditionsreiche Brauerei Zu den Flecken aufzusuchen.
So wie in Wien das Café Hawelka - ein bekannter Künstlertreff, wo auch Franz Kafka sich mit Freunden traf -, das Münchener Hofbräuhaus oder die Bierkneipe Zum Kelch auf der Prager Kleinseite, - wo der gute Soldat Schweik sich am ersten Tag nach dem ersten Weltkrieg um sechs Uhr mit seinem Kumpel Sappeur Vodicka verabredete -, spielte - und spielt bis zum heutigen Tag – auch das alte Prager Brauhaus Zu den Flecken im kulturgeschichtlichen Ambiente dieser Stadt eine herausragende Rolle.
Seit dem Jahr des Herrn 1499 wurde hier Bier gebraut, verkündet der Hauswappen.
“Beim kühlen Naß kann man sich erst richtig entspannen“, meinte Nadja und als Pragerin wußte sie wohl, wovon sie sprach. Die Tschechen sind ein Volk von Biertrinkern und das sprichwörtliche "flüssige Gold" wird auch vom zarten Geschlecht geschätzt.
Die Mädchen betraten die Gaststube und nisteten sich in einer gemütlichen Ecke ein; an einem der großen runden Tische, wo Fremde nebeneinander sitzen und beim Bier leicht ins Gespräch kommen konnten.
.“Vielleicht angeln wir uns heute Abend jemanden, der uns einlädt."
Nadja zog selbstbewusst einen kleinen Handspiegel aus der Tasche, überprüfte süffisant ihr Aussehen und zufrieden mit sich selbst überstrich sie ihre Lippen mit einem roten Lippenstift.
Am anderen Tischende saß ein junger, blonder Bursche mit langem buschigen Haar und arbeitete - in sich gekehrt - an einer Zeichnung in seinem Malblock.
Das imaginäre Bildnis auf dem Papier stellte ein durch unklares Leiden bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Gesicht eines kahlköpfigen Mannes dar.
Die Zeichnung wirkte professionell, obwohl der jugendliche Zeichner allem Anschein nach noch keine zwanzig Jahre alt war; ankommende Gäste blieben zeitweise neugierig stehen, um dem Zeichner über die Schulter zu gucken..
"Prager Popart !" bemerkte schließlich einer. "Das sollte man doch glatt an der Karlsbrücke zur Schau stellen !"
Eine andere Stimme verkündete mit ironischem Unterton: " Ein Blumenkind von Prag..die sozialistische Kunst ist nicht immer glücklich!."
Der junge Mann erhob gelassen seinen Kopf. "Ich tue hier nur meine Arbeit“, sagte er. “Ich bin von der Prager Kunstakademie und bereite mich hier auf meine Prüfung vor."
Dana, das Provinzmädchen, sah interessiert zu, aber auch verdutzt und ungläubig;.mit zu viel Respekt betrachtete sie den jungen Künstler und sein Bild.
.“Sieht interessant aus, ist aber nichts für uns“ klärte sie Tamara nach einer Weile auf.
“Der pfeift selbst auf dem letzten Loch!“
Nadja warf indessen einigen einzelnen Gästen, die sie als geeignet und offen für ein nächtliches Abenteuer hielt,.herausfordernde Blicke zu; sie strahlte aufgestaute Sinnlichkeit aus.
Ein gestresster Kellner tauchte wie aus dem Nichts auf, mit einem großen Metalltablett voll von schäumenden Bierkrügen.
"Ihr seid wohl schon achtzehn, Mädels", meinte er lakonisch und knallte drei randvolle Krüge vor die Mädchen hin auf den Tisch..
"Zu unserem Bier gibt es heute übrigens Topinky - knusprig gebratene Brotscheiben mit Knoblauch", bemerkte er, bevor er wieder ging. "Die könnt ihr euch auch selbst holen, hinten an der Theke im Hof. Dort sind sie billiger und immer frisch".
“Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen!", beteuerte Nadja. "Dana kann uns ja welche holen! Für mich ohne Knoblauch!"
"Wenn du schon hingehst, dann, bitte, auch eine Schachtel Zigaretten für mich", sagte Tamara und drückte Dana einen Hundertkronenschein in die Hand.
"Welche Marke.?"
"Femina!"
Femina war eine der heimischen Zigarettenmarken, die erschwinglich und bei Frauen beliebt waren. Abgebildet auf der Verpackung war ein verführerisches, herausforderndes Frauengesicht. Feminas Tabak war dunkel, stark und ohne Filter.
Femina - das Weib - roch nach Abenteuer.Teure Zigaretten aus dem Westen konnte man zwar auch kaufen, doch waren sie teuer. Eine der Luxusmarken hieß Rembrandt und trug auf der Verpackung das Portrait des holländischen Meisters. Sie enthielt feine, amerikanische Tabakmischung, als Filterzigarette war sie leicht und elegant.
"Bis gleich!" sagte Dana. Sie kam sich plötzlich wie ein Lehrmädchen der beiden vor, langsam und lustlos stand sie auf und verschwand in der lärmenden Menschenmenge.
Tamara schaute um sich. Ihre verträumt wirkenden dunklen Augen, der bräunliche Teint ihres Gesichts machten sie für das andere Geschlecht interessant.
Anders als Nadja, die gleichfalls auf der Suche nach lohnenden Männerbekannschaften war, und es verstand, sich entsprechend verführerisch zur Schau zu stellen, wirkte Tamara sanft.
Ihre Melancholie, die früher oder später jedem auffiel, der mit Tamara zu tun hatte oder ihr näher kam, hatte einen Grund: Tamara war nicht wirklich gesund, obwohl ihr keine Krankheit anzusehen war.
Seit über einem Jahr kam sie regelmäßig hierher, manchmal mit Begleitung - doch oft auch ohne. Sie hatte Leukämie. Blutkrebs, den man ihr schon im zarten Kindesalter diagnostiziert hatte. Tamara wollte leben.
*********
Jan konnte sich mit Leichtigkeit an den Tag erinnern, an dem er das erste Mal über die Karlsbrücke ging. Er war sieben Jahre alt und mit seinen Eltern auf Besuch bei seinem Onkel in Prag. Sein Vater wollte ihm das historische Universitätsgebäude zeigen, dort sollte Jan später studieren. Jan aber gefiel das Gebäude gar nicht, er fand es alt und grau. Von der Fassade blätterte der Putz ab: die eindrucksvollen Statuen auf der Karlsbrücke waren im lapidaren Zustand und dringend restaurierungsbedürftig.
Fast schwarz waren sie und einigen Figuren fehlten sogar gewisse Korperteile; so hatte der Patron der Flossfahrer und Beschützer der tschechischen Sprache Johannes von Nepomuk hatte keine Nase und keinen Mund mehr.Statt dessen nur zwei dunkle Löcher im Gesicht. Jan war nicht beeindruckt.
Nichtsdestotrotz lief er später als Student in Prag unzählige Male über die älteste Brücke der Stadt und fühlte sich mit ihr innerlich verbunden. An sonnigen Tagen genoss er von hier aus die Sicht auf Prags zahlreiche Brücken und Türme und auf die Königsburg Hradschin, die sich majestätisch über der Prager Kleinseite erhebt und dem Bilderbuchpanorama der Stadt den letzten Schliff gibt.
Als Jan auf der Suche nach Tamara an jenem Abend über die Karlsbrücke lief, verdichtete sich der Nebel immer mehr und die Statuen waren kaum sichtbar, nur schemenhaft konnte er sie wahrnehmen und doch - als er am Ende der Brücke angekommen war, wusste er, dass er vor Nepomuks Statue stand.
Er blieb stehen und sah genau hin, dem Heiligen fehlte immer noch der Mund. Seitdem er die Statue zum ersten Mal als Kind sah, hatte sich nichts geändert.
Der heilige Johannes von Nepomuk wurde hier ertränkt, da er die ihm gebeichteten intimen Bekenntnisse der Königin dem König Wenzel nicht preisgab. Selbst im Grab verweste die Zunge des treuen Beichtvaters nicht.
So wollte es eine alte Überlieferung. Das Leben in Prag konnte auch grausam sein, dachte Jan. Ist Prag eine grausame Schönheit mit dunkler Vergangenheit?
Auf der Suche nach Tamara schritt behutsam weiter durch den Nebel, der die schmalen Gassen der Kleinseite wie ein vom gelblichen Licht der Gaslaternen verfärbter Schleier umhüllte. Er suchte eine Nadel im Heuhaufen.
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Als Dana am gleichen Abend mit einem fettigen Pappteller voll von knoblauchbestrichenen Brotcroutons zum Tisch zurückkam, war ihr Stuhl besetzt. Zwei Männer hatten sich den Mädchen zugesellt und Dana musste sich mit dem schmalen Rand der Sitzbank begnügen auf dem es sich gerade noch sitzen ließ. Ihr Bier war schon abgestanden, kaum gab es noch Schaum in dem klebrigen Glaskrug.
Die Männer verhielten sich auffallend ruhig und redeten miteinander in einer Sprache, die keines der Mädchen verstand.
Der Ältere, mit graumellierten Haaren - er hätte auch der Vater des Anderen sein können – war überkorrekt angezogen. Mit dunkelblauem Anzug und gestreifter Krawatte glich einem Börsianer von der New Yorker Wall Street; er trug ein feines, blaugestreiftes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen, am Handgelenk eine Golduhr und an seinem dicklichen, behaarten Ringfinger protzte ein Diamantenring.
Sein Begleiter, ein flachsblonder junger Mann mit Stoppelbart im Gesicht und ausdruckslosen blauen Augen, wirkte sportlich. Er trug verwaschene Edeljeans, einen weißen Rollkragenpullover und braune Cowboy-Stiefel.
Als ihr Bier auf den Tisch kam, ergriffen sie die Glaskrüge und tranken sich gegenseitig zu.
"Chinchin!" sagte der Ältere zu dem Jüngeren, dann wandte er sich an die Mädchen und sagte :“Na sdarowje! Gesundheit!". Nadja lächelte ihm charmant zu und versuchte ihr bestes Englisch:: Cheers, gentlemen!" Das Eis gebrochen.
Aus Belgien waren sie, die beiden Stadtbesucher, aus Antwerpen, wie es sich im Laufe des Gesprächs herausgestellt hatte. Vater und Sohn. Florent, der Ältere und Hendrik, der Jüngere. Über Belgien wusste man wenig, ein kleines Land, oft für ein Teil Frankreichs gehalten, welches sich irgendwann historisch bedingt verselbständigt hatte.
"Welche Sprache haben Sie vorhin gesprochen?" fragte Dana. "Spricht man in Belgien nicht französisch?"
"Das ist eine der beiden Amtssprachen", erwiderte Florent, der Börsianertyp."Aber wir haben vorhin flämisch gesprochen, die zweite Amtssprache."
"Wir haben auch zwei Sprachen", erklärtete Dana mit naivem Stolz. "Tschechisch und Slowakisch."
"Ja, aber die Sprachen sind sehr ähnlich“, warf Tamara ein.“ Die Tschechen brauchen Slowakisch nicht zu lernen, um es zu verstehen."
Die Belgier hörten interessiert zu, leicht amüsiert vielleicht; es ging wieder einmal um die Sprache, das Thema war ihnen geläufig.
:“Französisch spricht man bei uns nur eigentlich nur in Brüssel und in der Wallonie an der französischen Grenze,“ sagte schließlich Hendrik.
“Wir sind Flamen aus Antwerpen und sprechen flämisch“, erklärte er stolz. "Belgien ist ein flämisches Land!".
“Wie ist Antwerpen? Eine große Stadt?“ fragte Tamara. Ihre großen, weit geöffneten Augen drückten Interesse und Neugier aus, die Hendrik nicht kalt ließ.
“ Eine alte Stadt mit langer, interessanter Geschichte. Kennt ihr die Sage von der abgehackten Hand? Nach einer alten Überlieferung hackte der junge Held Silvius Brabo - Antwerpen liegt in Brabant - dem Riesen Druon Antigon die Hand ab, nachdem er ihn im Kampf besiegt hatte. Dann warf er sie in die Schelde. Der Branobrunnen am Grossen Markt der Stadt zeugt davon. Daher kommt der Name Antwerpen ....wie Hand werfen!“
“ Die Hand abgehackt?“ staunte Dana. “Warum?“
”Um sich zu rächen. Der böse Riese hatte am Scheldeufer von den brabantischen Schiffern, die den Fluss hinauffuhren, Zoll verlangt. Wer nicht zahlen konnte, dem hackte er die rechte Hand ab!“
“Grausam”, meinte Dana, doch Nadja lachte.
“In Prag wurden vor langer Zeit nicht Hände, sondern siebenundzwanzig Köpfe abgehackt. Nicht weit von hier - am Altstädter Rathaus.“
.“Dort wo das Glockenspiel steht?“
“Ja, so kann man´s auch sagen, Die astronomische Turmuhr mit den Aposteln und dem Skelett.“
“Irgendwo finde ich die beiden Städte ähnlich, vielleicht von der Geschichte her.“ sagte Tamara nachdenklich nach einer Weile.
“Vielleicht. Bei uns fließt die Schelde und in Prag die Moldau“, meinte Florent.
" Und wie gefällt Ihnen Prag?" fragte Nadja ihren den Kavalier mit graumellierten Haaren. Kokett und siegesgewiss klang sie.
"Prag ist großartig", sagte Florent. "Wir sind hier auf Kafkas Spuren." Er sah plötzlich nicht Nadja, sondern Tamara lächelnd ins Gesicht. .“Sie sehen aus wie die Schwester von Franz Kafka!“
Mit jedem Schluck dunklen Gerstensaft wurde das Gespräch lockerer.
.“In Antwerpen gibt es eine der größten jüdischen Gemeinschaften in Europa, zwanzig Synagogen - und ein Diamantenmuseum.“
“Wir haben auch eine Synagoge“, sagte Dana, “aber ich gehe nicht dahin.“
“Gibt es hier viele Juden?“ fragte Florent,. “Wir sind auch jüdisch..“
Die Mädchen lachten, ohne klar zu antworten. Schließlich meinte Nadja, die keine Jüdin war: “Es kommt darauf an.“
"Hendrik studiert Germanistik in Brüssel und schreibt an seiner Dissertation über Franz Kafka."
"Ja", sagte Hendrik ,“ich bleibe hier in Prag etwas länger und werde in den Bibliotheken herumstöbern. Ich suche nach Zeitungsberichten über ihn aus seiner Zeit und Ähnliches."
"Im Klementinum gibt's wohl einiges", sagte Tamara.“ Über Antwerpen berichtete hier übrigens die Königlich-kaiserliche privilegierte Prager Zeitung bereits im neunzehnten Jahrhundert. Und das in zwei Sprachen – deutsch und tschechisch!“
“Zwei Sprachen, ganz wie bei uns“, staunte Hendrik .“Im Klementinum? Ist das das alte Jesuitenloster mit der kleinen Kirche?“
“Ja. Mit der Spiegelkapelle und einer großen Bibliothek. Ich gehe oft hin, einen großen Lesesaal gibt es dort. Und unten im Keller kann man rauchen."
"Gut zu wissen", sagte Hendrik.
Der Kellner erschien wieder, diesmal gut gelaunt, mit fünf großen Bierkrügen; zu dieser neuen Runde lud Florent die.Mädchen ein. Die Zungen wurden lockerer.
Nadja sprach mit Florent über Diamanten und er - der Diamantenhändler - erklärte ihr, wie die precious stones von Südafrika nach Belgien gelangen und was mit ihnen dann weiter geschieht.
“Dort werden sie erst einmal ordentlich durchgeschliffen“, schmunzelte er. “Diamonds are the girl´s best friend!“
Dana erzählte stolz über das böhmische Glas und dessen Eigenschaften, über die wunderbaren, bunten Gläser und Glasperlen, die man daraus fabriziert.
Tamara plauderte anregend mit Hendrik über Kafkas Bücher und seinen anstehenden Aufenthalt in Prag - und Florent zahlte alles, nicht nur die zweite, sondern auch die erste Runde.
Zum Schluss fragte er Nadja, ob sie Lust hätte, nach Antwerpen zu kommen, wo er sie doch noch besser über die Herstellung und den Vertrieb von Diamanten aufklären könnte. Darauf gab Nadja ihm zwar keine klare Antwort, dennoch nahm sie mit wohlwollendem Lächeln seine Visitenkarte entgegen. "Sehen wir uns dann im Klementinum?" fragte Hendrik Tamara etwas scheu, bevor sie gingen.
"Vielleicht", sagte Tamara, ohne sich klar festzulegen.
Nachdem die Belgier aus dem nebligen Brabant sich mit Nadja und Tamara auf den Weg zum Ausgang gemacht hatten, blieb Dana sitzen und aß die letzten Brotcroutons vom Pappteller auf. Hungrig war sie. Ihre zwei Freundinnen verschwanden mit ihren Begleitern im silbernen Nebel der Prager Strassen mit unklarem Ziel.
Dana hatte keine Visitenkarte und auch keine Verabredung. Von ihrem Prager Frühling war sie noch weit entfernt..
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Durch diesen nebligen Abend kündigte sich der Prager Herbst an. Die studentischen Neuzugänge, zu denen auch Jan gehörte, waren mittlerweile so groß, dass die Universitätsverwaltung beschloss, sie in eine provisorische Studentensiedlung am Stadtrand von Prag zu verlegen. Für Jan bedeutete dies einen langen Anfahrtsweg – von mehr als einer Stunde in der oft überfüllten Straßenbahn - von der Siedlung bis zur philosophischen Fakultät im Zentrum der Stadt.
Die neuen Behausungen waren gut fünfzig Jahre alt und auf die Schnelle notdürftig renoviert worden. Sie befanden sich in der Nähe eines ehemaligen Fabrikgeländes, wo immer noch eine alte, heruntergekommene Fabrik stand, seit Jahren schon außer Betrieb. Zeitweise diente dieses Gelände auch als Sammelstelle für Metallschrott aller Art.
In der Nähe des Geländes gab es eine billige Gaststätte – Zum Eber genannt. - mit einer schäbiger Bierschänke, frequentiert von lokalen Alkoholikern.
Unweit der Endhaltestelle der Straßenbahn befand sich ausserdem eine Würstelbude; dort konnte man Bratwurst mit Senf im trockenen Brötchen kaufen - für den schnellen Verzehr im Stehen. Somit war nach der Meinung der Universitätsverwaltung das physische Überleben der Studenten gesichert.