Читать книгу Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums - Albert Schweitzer - Страница 3
Vorrede.
ОглавлениеDer Versuch, ein Leben Jesu zu schreiben und dabei nicht am Anfang, sondern in der Mitte, mit dem Leidensgedanken zu beginnen, musste sich notwendig einmal einstellen. Es ist verwunderlich, dass er nicht schon früher gemacht worden ist, denn er liegt in der Luft.
Alle Darstellungen des Lebens Jesu befriedigen nämlich bis zum Eintritt des Leidensgedankens. Dort aber verfehlen sie den Anschluss. Es gelingt keiner von ihnen begreiflich zu machen, warum Jesus nun plötzlich seinen Tod für notwendig hält und in welchem Sinne er ihn für heilbringend ansieht. Um diesen Anschluss zu erreichen, muss man sich entschliessen, einmal vom Leidensgedanken selbst auszugehen, um von da aus das Leben Jesu nach rückwärts und nach vorwärts zu begreifen. Wenn wir den Leidensgedanken nicht verstehen, liegt es nicht vielleicht daran, dass wir die erste Periode des Lebens Jesu falsch auffassen und uns so die Einsicht in das Aufkommen des Leidensgedankens von vornherein unmöglich machen?
Die letzten Jahre der Forschung haben gezeigt, auf wie schwachem Grunde eigentlich unsere historische Auffassung des Lebens Jesu beruht. Es lässt sich nicht verkennen, dass wir bei einer schweren Antinomie angelangt sind. Entweder Jesus hielt sich wirklich selbst für den Messias oder, worauf eine neue Richtung in der Forschung zu führen scheint, erst die urchristliche Auffassung hat ihm diese Würde beigelegt. In beiden Fällen bleibt das »Leben Jesu« gleich rätselhaft.
Hielt sich Jesus wirklich für den Messias, wie kommt es, dass er wirkt, als wäre er nicht der Messias? Wie ist es erklärlich, dass seine Würde und Machtstellung so gar nichts mit seiner öffentlichen Thätigkeit zu thun zu haben scheint? Was ist davon zu halten, dass er seinen Jüngern erst, nachdem seine öffentliche Wirksamkeit — die wenigen Tage zu Jerusalem abgerechnet — schon zu Ende ist, eröffnet, wer er ist, und ihnen dazu noch befiehlt, das Geheimnis streng zu wahren? Dass Motive der Klugheit oder pädagogische Absichten ihm diese Haltung diktiert haben sollen, erklärt nichts. Wo steht in den synoptischen Berichten auch nur die leiseste Andeutung, dass Jesus die Jünger und das Volk zur Erkenntnis seiner Messianität hat erziehen wollen?
Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr erkennt man, wie wenig die Annahme, dass Jesus sich für den Messias gehalten habe, das »Leben Jesu« zu erklären vermag, weil sich so gar keine Verbindung zwischen seinem Selbstbewusstsein und seiner öffentlichen Wirksamkeit ergiebt. Es mag banal klingen: man wird dabei die Frage nicht los, warum er es nie versucht hat, das Volk durch Unterweisung zu der neuen ethischen Auffassung der Messianität emporzuheben. Der Versuch wäre nicht so aussichtslos gewesen, als man anzunehmen geneigt ist, denn es ging damals ein tiefreligiöser Zug durch Israel. Warum hat sich Jesus beharrlich über seine Auffassung der Messianität ausgeschwiegen?
Nimmt man andererseits an, er hat sich selbst nicht für den Messias gehalten, so müsste erklärt werden, wie er dann nach seinem Tode zum Messias gemacht wurde. Auf Grund seiner öffentlichen Wirksamkeit ist es sicher nicht geschehen — denn diese gerade hat ja mit seiner Messianität nichts zu thun! Was bedeutet aber dann die Offenbarung des Messiasgeheimnisses an die Zwölf und das Bekenntnis vor dem Hohenpriester? Es ist ein purer Gewaltakt, diese Scenen für unhistorisch zu erklären. Entschliesst man sich zu solchen Eingriffen, was bleibt dann überhaupt noch von der evangelischen Geschichtsüberlieferung bestehen?
Dabei darf man nicht vergessen, dass wenn Jesus sich selbst nicht für den Messias gehalten hat, dies den Todesstoss für den christlichen Glauben bedeutet. Das Urteil der urchristlichen Gemeinde ist für uns nicht bindend. Die christliche Religion erbaut sich auf dem messianischen Selbstbewusstsein Jesu, wodurch er selbst seine Persönlichkeit aus der Reihe anderer Verkündiger der religiösen Sittlichkeit in einzigartiger Weise scharf heraushebt. Hielt er sich selbst nun nicht für den Messias, so beruht das ganze Christentum — um ein verdrehtes und misshandeltes Wort ehrlich zu gebrauchen — auf einem »Werturteil« der Anhängerschaft Jesu von Nazareth nach seinem Tode!
Vergessen wir nicht, dass es sich um eine Antinomie handelt, aus der man nur einen Schluss ziehen darf: dass nämlich die bisherige »historische« Auffassung des Messianitätsbewusstseins Jesu falsch ist, weil sie die Geschichte nicht erklärt. Geschichtlich ist nur diejenige Auffassung, welche begreiflich macht, wie Jesus sich für den Messias halten konnte, ohne sich genötigt zu sehen, dieses sein Selbstbewusstsein in seiner öffentlichen Wirksamkeit auf das messianische Reich hin zur Geltung zu bringen, ja, wie er geradezu gezwungen war, die messianische Würde seiner Person zu verschweigen! Warum war seine Messianität Jesu Geheimnis? — dieses erklären heisst das Leben Jesu begreifen.
Aus der Einsicht in das Wesen dieser Antinomie ist diese neue Auffassung des Lebens Jesu erwachsen. Inwieweit sie das Problem löst, das mögen die Verhandlungen darüber klarstellen. Ich veröffentliche die neue Auffassung als Skizze, weil sie notwendig in den Rahmen des Werkes über das Abendmahl gehört. Sodann aber hoffe ich, aus der Kritik ihrer Grundzüge über manche Punkte des exegetischen Details noch zu grösserer Klarheit zu kommen, ehe ich daran denke, diesen Gedanken in einem ausgearbeiteten »Leben Jesu« eine definitive Fassung zu geben.
Den litterarischen Unterbau habe ich, dem skizzenhaften Charakter der Darstellung entsprechend, gewöhnlich nur andeuten können. Wer sich jedoch in dieser Sache auskennt, der wird leicht bemerken, dass hinter mancher hingeworfenen Behauptung viel mehr synoptisches Detailstudium steckt, als der erste Blick vermuten liesse.
Gerade für die synoptische Frage ist die neue Auffassung des Lebens Jesu von grosser Bedeutung. Danach wird nämlich die Komposition der Synoptiker viel einfacher und klarer. Die künstliche Redaktion, mit der man bisher zu operieren gezwungen war, wird sehr reduziert. Die Bergpredigt, die Aussendungsrede und die Würdigungsrede über den Täufer sind keine »Redekompositionen«, sondern sie sind in der Hauptsache so gehalten, wie sie uns überliefert sind. Auch die Form der Leidens- und Auferstehungsweissagungen kommt nicht auf das urchristliche Konto, sondern Jesus hat in diesen Worten zu seinen Jüngern von seiner Zukunft geredet. Gerade diese Vereinfachung der litterarischen Frage und die damit verbundene Steigerung der historischen Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichtserzählung ist von grossem Gewicht für die neue Auffassung des Lebens Jesu.
Diese Vereinfachung beruht aber nicht auf einer naiven Stellungnahme den Berichten gegenüber, sondern sie ist herbeigeführt durch die Einsicht in die Gesetze, nach welchen die urchristliche Auffassung und Würdigung der Persönlichkeit Jesu die Darstellung seines Lebens und Wirkens bedingte. Gerade diese Frage ist bisher vielleicht zu wenig systematisch behandelt worden.
Einerseits ist zwar gewiss, dass das Urchristentum auf die Darstellung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu von bedeutendem Einfluss gewesen. Andererseits sind aber gerade wieder in dem Wesen des urchristlichen Glaubens alle Voraussetzungen gegeben, dass er die Grundzüge der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nicht angetastet und vor allem keine »Thatsachen« im Leben Jesu »produziert« hat. Denn das Urchristentum stand ja dem Leben Jesu als solchem indifferent gegenüber! Der urchristliche Glaube hatte an diesem irdischen Leben nicht das geringste Interesse, weil Jesu Messianität sich ja auf seine Auferstehung, nicht auf seine irdische Thätigkeit gründete und man dem kommenden Messias in Glorie entgegenblickte und dabei an dem Leben Jesu von Nazareth nur soweit Interesse nahm, als es mit den Herrenworten zusammenhing. Eine urchristliche Auffassung des Lebens Jesu gab es überhaupt nicht, und die Synoptiker enthalten auch nichts derartiges. Sie reihen die Erzählungen aus seiner öffentlichen Wirksamkeit aneinander, ohne den Versuch zu machen, sie in ihrer Aufeinanderfolge und in ihrem Zusammenhang begreiflich zu machen und uns die »Entwicklung« Jesu erkennen zu lassen. Als dann, mit dem Zurücktreten der Eschatologie, das Schwergewicht auf die irdische Erscheinung Jesu als des Messias fiel und so zu einer Auffassung des Lebens Jesu führte, da hatten die Berichte von der öffentlichen Thätigkeit Jesu schon eine zu feste Fassung angenommen, als dass dieser Prozess sie hätte berühren können. Das vierte Evangelium bietet ein Geschichtsbild des Lebens Jesu, aber es steht neben der synoptischen Schilderung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, wie die Chronik neben den Samuelis- und den Königsbüchern. Der Unterschied zwischen dem vierten Evangelium und den Synoptikern besteht gerade darin, dass das erstere ein »Leben Jesu« bietet, während die Synoptiker von seiner öffentlichen Wirksamkeit berichten.
Der urchristliche Glaube hat die Darstellung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nach immanenten Gesetzen beeinflusst, gerade wie die deuteronomische Reform auf die Vorstellung von den Ereignissen während der Richter- und Königszeit eingewirkt hat. Es handelt sich um eine unbewusste, notwendige perspektivische Verschiebung. Die neue Auffassung beruht auf der Berechnung dieser perspektivischen Verschiebung, wobei sich ergibt, dass der Einfluss des urchristlichen Gemeindeglaubens auf die synoptischen Berichte viel weniger tief geht als man bisher anzunehmen geneigt war.
Strassburg, im August 1901.
Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis,
eine Skizze des Lebens Jesu.