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Mai 1871

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Ich heiße José, bin einunddreißig Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern.

Lange Zeit dachte ich, ich sei der Heilige, der in meinem Geburtsort in der Apsis der Erlöserkirche dargestellt ist. Ich preschte auf meinem weißen Pferd heran und stieß dem Drachen die Lanze in den Schlund. Der aufgerissene Schlund befand sich neben dem Hauptaltar und gehörte einer großen Eidechse mit gezacktem Rücken, die in den Sonntagspredigten das Böse verkörperte. Der Glaube war das Gute, die Rieseneidechse das Böse. Und ich war der heilige Georg auf dem weißen Pferd. Jetzt will ich euch diesen Traum erzählen.

Meine Buchhandlung ist die älteste der Stadt, «seit 1727 im Dienst der Kultur». Tagsüber bediene ich die Kunden, sitze am Schreibtisch oder gehe ins Lager in der Rua da Figueira. Der Abend gehört der Politik.

Häufig kommt Eça de Queiroz in die Buchhandlung, der Genosse Eça. Wir haben uns angefreundet, und ich lese alle seine «Folhetins». Sobald die «Gazeta» erscheint, kaufe ich sie umgehend und schneide den Artikel aus. Hier vor mir auf dem Schreibtisch habe ich einen Satz von ihm liegen, der mir gefällt: «Jeder Fuß möchte Flügel sein.»

Von meinem Arbeitsplatz sehe ich die Passanten in der Rua do Chiado, jeder in sein Schweigen eingeschlossen. An manchen Nachmittagen, wenn auch das Akkordeon des Blinden an der Ecke verstummt und die Buchhandlung menschenleer ist, denke ich: Die Welt ist melancholisch. Der Fuß möchte Flügel sein, schafft es aber nicht. Er bleibt auf der Erde, während sich Asche auf den Dingen ablagert. Vor allem im Herbst und im Frühjahr, den Übergangszeiten. Im Mai, wenn die Blumen die Illusionen wecken, die der Oktober wieder mitnimmt.

Warum ich beschlossen habe, Tagebuch zu führen und meine Geschichte aufzuschreiben? Ich weiß es nicht, ich frage es mich. Vielleicht, weil sich der feuchte Fleck in meiner Lunge ausweitet und allmählich auch mein Denken verändert. Die Krankheit bringt Fragen und Erinnerungen mit sich. Ich würde gern mehr von meinem Leben begreifen. Zum Beispiel, was mich gedrängt hat, die anderen in mich hineinzulassen. Ich spreche nicht von Büchern, sondern von Menschen, Arbeitern, Frauen in der Fabrik. Bücher leisten einem Gesellschaft, Menschen verletzen. Doch was ist mehr wert als der Mensch?

Vielleicht ist es die Beleidigung, die meinen Entschluss herbeigeführt hat. Die Beleidigung, dass es das Böse auf der Welt gibt. Wer immer auf der Straße vorbeigeht, spiegelt sich in meinem geheimen Spiegel. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts. Ich bin wie er. Ich bin er.

Ich will schreiben, um zu versuchen, die Zeit anzuhalten, die ihren Lauf für mich beschleunigt hat. Schreiben. Vielleicht will ich all den Schriftstellern Konkurrenz machen, die mich aus den Regalen anblicken … Eine neue Klarheit lässt mich das Leben rückblickend erweitern, verlängert meine Tage nach hinten. Und die Dinge aus dem Dorf, wo man geboren ist, funkeln in der Erinnerung wie die Schneide der Sense in den Händen des Schnitters.

Ich habe Eça gefragt, ob die Literatur den Menschen besser machen kann, und er hat mit einem Lächeln geantwortet. Man muss Revolution machen, damit der Mensch besser wird. Der Fuß muss Flügel werden: nächste Woche, vielleicht … Denn es weht ein neuer Wind in Lissabon: die Vorträge im Casino.

Gestern Abend, erster Vortrag: «Causas da decadência dos povos peninsulares nos últimos três séculos». Antero de Quental glich dem heiligen Franziskus, in aller Unschuld hat er die Bourgeois kaltgemacht.

Es waren die Leute da, die gewöhnlich in die Buchhandlung kommen, die Politiker, die Journalisten. Doch auch Miguel war da, der Buchbinder, der sich eingeschüchtert zwischen den eleganten Gestalten umsah. Nobre França war da, der für mich wie ein Bruder ist. Der Drucker war da, mit dem zusammen ich mir die Hände schmutzig machte, bevor ich anfing, hier mit Büchern zu handeln. Einige Arbeiter aus unserer Parteisektion standen hinten im Saal und betrachteten die Deckengemälde. Sie fühlten sich wie Hunde in der Kirche. Aber wir werden sie verändern.

Was hat Antero gesagt? Kurz zusammengefasst: Der Niedergang der Völker der Halbinsel begann, als sie unter das Joch des religiösen Despotismus gerieten, den das Konzil von Trient mit sich brachte. Starke Worte. Und während er sich über die Jesuiten aufregte, die das Volk stumm, gehorsam und dumm haben wollen, während er die Conquistadores anklagte, die uns zwar Gold, Gewürze und Palisanderholz gebracht, aber zwei Kaiserreiche und zehn Millionen Menschen zerstört haben, hörte man im Saal die Skapuliere rascheln. Einige Leute wanden sich, als litten sie an Gürtelrose.

Heute Nacht dachte ich: Tief in uns gibt es einen Schatten, der die Freude am Wachstum hindert. Die Blume öffnet sich nicht. Manchmal sehe ich diesen Schatten auch in Anteros Augen, obwohl er so kämpferisch ist. Doch während des Vortrags gestern hatte er Licht in den Augen und Flammen im Haar. Als er über Religion sprach, strahlte sein Licht. Das Christentum war die Revolution der antiken Welt, und die Revolution ist das Christentum der modernen Welt, hat er gesagt. Da bin ich aufgestanden, um zu klatschen. Die vier Arbeiter hinten im Saal hörten allem mit aufgerissenen Augen zu. «Das ist der vierte Stand», dachte ich, «mit ihnen werden wir gegen den Obskurantismus marschieren.»

Thema und Variationen. Die Bewohner der Halbinsel sind auf natürliche Weise religiös, sie lieben Prozessionen, die Heiligen, den Weihrauch und die Kirchenlieder, wissen aber nichts von Theologie. «Das Christentum ist ein Gefühl, der Katholizismus aber ist eine Institution.» Mit den Dogmen hat sich alles verändert: Wie kann man glauben, dass Christus wahrhaftig im Brot des Bäckers und im Wein des Weinbauern anwesend sei? Und warum kann die Seele nicht direkt mit Gott in Verbindung treten, sondern muss sich bei der Beichte mit einem Eindringling herumschlagen, der geistlicher Führer heißt?

Er hat tatsächlich «Eindringling» gesagt. Ein Murmeln ging durch den Saal.

Der Vortrag im Casino hat Aufsehen erregt. Die von der «Naçao» haben zurückgeschlagen: Diese Trottel wollen die Welt erneuern! Besserwisser! Schriftgelehrte und Pharisäer! Über Antero sagen sie, dass er den Mantel über den Boden schleift «wie ein elender Jude, ein Erbe der Mörder Christi».

Wenn es regnet, bleibe ich am Schreibtisch. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich die Buchrücken, die mich anschauen, mich warnen, mir zublinzeln. Don Quijote führt mich mit seinem Gaul zu den Windmühlen.

Ich blicke durch die Schaufenster und mir scheint, als liefen die Regentropfen über den Spiegel, der in mir ist. Ich bin ein Tropfen: Auch wir fließen wie das Wasser. Das Regenwasser, das die Straßen wäscht. Der Tejo. Zu Hause in der Rua do Monte Olivete sehe ich ihn durchs Fenster glitzern. Die Wassertropfen, die den Fleck in meiner Lunge vergrößern.

Ich machte mir Sorgen wegen des Vortrags von Eça de Queiroz: Jeder Fuß möchte Flügel sein …

Ab und zu bin ich Eça abends nach Ladenschluss bei Ba­talha Reis oben im Barrio Alto begegnet, in der Travessado Guarda-Mor. Das ist ein Treffpunkt für uns. Im Licht einer Petroleumlampe habe ich ihn dort gesehen. Eine lange, magere Seele. Mir fiel der Spitzname ein, den sie mir als Junge gegeben hatten: Ich war sehr, sehr mager, und in meinem Dialekt riefen sie mich «Gambadazelar», Selleriestängel. Wir alle, die wir die Welt verändern wollen, sind Selleriestängel. Doch Eça ist außerdem noch elegant, hat Hände wie aus Elfenbein, ein Monokel wie ein Intellektueller, einen dünnen Rohrstock, der einen Sklaventreiber neidisch macht. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und schreibt unermüdlich.

Ich habe ihn auch in der Bibliothek des Gremio Literario gesehen. Ich las Proudhon, er Gérard de Nerval. Als wir einmal in einer Schänke in Alfama zusammen Bacalhau aßen, hat er mir ein Gedicht von Gérard de Nerval vorgetragen. Ich erinnere mich an den ersten Vers: «Je suis le ténébreux, le veuf, l’inconsolé …»

Es herrschte Interesse an seinen Worten im Casino-Saal. Scheinbar ist Eça aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Zuhörer, doch er hat einen Muskel im Leib, den die anderen nicht haben. Seine Vornehmheit hat alle beeindruckt: schwar­zer Schnauzer, schwarzes Haar, eine Strähne fiel ihm in die Stirn, die Hände gestikulierten.

Er hat Proudhons Theorien vorgetragen. Die neue demokratische Kunst: Courbet. Der Künstler muss beobachten können und darf nichts aus seinem Blick ausschließen. Warum Musen und Phantasmagorien malen? Es genügt, den Markt­platz seines Dorfes zu zeigen, seine Gasse.

«Ihr, die ihr euch anmaßt, Karl den Großen, Cäsar und Jesus Christus persönlich darzustellen, könntet ihr ein Porträt eures Vaters malen?», hat Courbet eines Tages, an die Mitglieder der Akademie gewandt, gefragt.

Eça hat Proudhon zitiert und seine Beschreibung eines Bildes von Courbet: betrunkene Landpfarrer, die von einer Kon­ferenz mit anschließendem Gelage zurückkehren. Das Bild hatte Anstoß erregt und war von einer in Paris vorgesehenen Ausstellung ausgeschlossen worden.

Dann hat er ein Loblied auf Gustave Flaubert und dessen «Madame Bovary» gesungen.

Ich habe lange an den Vortrag gedacht. Ich bin zwar kein Künstler, glaube aber, dass Kunst zur Kenntnis des Menschen und der Welt beiträgt. Der neue Mensch, das Produkt unserer Revolution, wird es verstehen, sich von einem Gemälde rühren zu lassen. Auch von Courbets Steinklopfern im zerlumpten Hemd. Vor allem von ihnen.

Bei Eças Vortrag fiel mir wieder ein, wie ich mit siebzehn war. Und als ich in meinen Papieren wühlte, fand ich den Zeitungsausschnitt, den ich als Junge im Jura aufgehoben hatte. Davon werde ich ausgehen, für meine Memoiren. Von einem alten Zeitungsausschnitt, seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen. Aber ich erinnere mich noch gut. Die Erinnerung ist unsterblich. Die Erinnerung ist ein Vogel, der durch die Zeit fliegt und gegen die Scheiben prallt.

Nächste Woche, vielleicht

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