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Geschichte des Figurenmalers

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«Mein Tal ist ein Ort, aus dem man besser fortläuft, wenn es einem gelingt, das Tor zu öffnen, ohne in den Abgrund zu fallen. Es bleiben nur die Männer aus den Wäldern. Es bleiben die, die sich an den Schwanz der Ziegen klammern und wie die Schweine leben. Die Dörfler, die am Sonntag nicht feiern wie die Arbeiter und die Fräcke … Es bleiben die Alten, die Schwachsinnigen, die Kinder, die Frauen mit den langen, unter den Achseln festgebundenen Röcken und die Mädchen, die im Wald Heu machen, auf den Felsen Roggen und Rüben pflanzen, im Herbst Körbe voll Esskastanien sammeln. Magst du Mädchen, kleiner Ministrant? Les filles … Wir nennen sie ‹Verrückte› in unserem Dialekt. Ich erinnere mich an Mariangela, die Mitleid hatte und mit den Einsamen in den Heuschober ging. Mariangela würde sofort mit dir gehen, kleiner Ministrant, auf dem Silbertablett würde sie sich dir kredenzen. So ist mein Dorf. Eine Schlangengrube voller Dornen, von außen kommt nie jemand, und man arrangiert sich, so gut es geht, vor Ort, um den Trübsinn zu vertreiben. Die Männer gehen nach Australien auf Goldsuche oder in die Städte in Italien, um den Ruß aus den Kaminen zu kratzen.

Es gibt einen Mann, der durch unsere Dörfer zieht und Kinder kauft, die kleinen Buben kauft er, hundsgemeine Welt. Er bringt sie nach Locarno. Dann fahren sie mit dem Boot nach Italien. Einmal ist das Boot im See gekentert: Sechzehn aus meinem Dorf sind dabei ertrunken. Die Buben sind dürr wie der Hunger und können gut in den Rauchfang kriechen. Sie fahren mit ihrem Vater los, doch wenn sie dann zu arbeiten beginnen, dürfen sie ihn nicht mehr Papa nennen. Sie nennen ihn Padrone. Und an Silvester werden sie zum Mittagessen eingeladen. Aber still! Sie sitzen mit ihrem schwarzen Gesicht am weiß gedeckten Tisch der Reichen, weil sie Glück bringen.

Wie sie es machen, die Kamine hinaufzuklettern? Sie stemmen sich mit Rücken, Ellbogen und Knie ab und kriechen nach oben. Und werden dabei so voll Staub, dass sie kaum noch atmen können. Auf den Straßen rufen sie ‹Spazafurnel!›, Schornsteinfeger, und das Trinkgeld, das liefern sie beim Padrone ab.»

Diese Geschichte beeindruckte mich, dort im Saal des Hôtel de la Couronne. Cherubino war zu Vertraulichkeiten aufgelegt, und ich fühlte mich erwachsen, während die Männer rund um uns mit Monsieur Le Maire ihren Sonntagswein tranken und Pfeife rauchten. Die Blechbläser mit den Federbüschen waren, die Fanfare für Tell spielend, durch die Hauptstraße gezogen und hatten eine Klangspur hinterlassen, ein Versprechen auf etwas Außerordentliches, in dem sich meine Gedanken verloren.

«In den italienischen Städten mussten die Buben vor der Madonna schwören, nichts zu sagen. In Absprache mit den Padroni ließen die Priester sie schwören. In der Kirche. Aber ich wollte nicht Sklave sein, hundsgemeine Welt, und als der Kinderkäufer gekommen ist, bin ich fortgelaufen in den Wald. In unserem Tal gibt es Steinriesen, die vom Berg gefallen sind, weißt du das? Ich habe mich unter einem dieser Felsbrocken versteckt.

Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben, mein Vater war nicht mehr da, mein Bruder hatte sich von einem Anwerber hereinlegen lassen und war nach Australien gegangen. Ich habe da oben immer Madonnen und Gämsen in die Rinde der Kastanienbäume geritzt, dabei habe ich nach und nach gelernt, Figuren zu malen. Vom Kanton Tessin habe ich hundert Franken bekommen und bin drei Monate nach Mailand auf die Kunstakademie im Brera-Palast gegangen. Dann haben die Österreicher uns weggejagt.

Ich bin mit fünfzehn Schornsteinfegerbuben nach Sono­gno zurückgekehrt. Ich habe die Kirche ausgemalt, Verkündigung und Christi Geburt. Ich habe die Dreieinigkeit gemalt, Abraham mit dem Sohn auf den Knien und dem Engel, der ihm die Hand festhält. Kennst du die biblischen Geschichten, kleiner Ministrant? Moses mit der Bronzeschlange, der Evangelist Matthäus, der in ein großes Buch schreibt, und der Engel, der ihm das Tintenfass hält, Lukas mit dem Ochsen. Lauter heilige Sachen, mon gars, Ware, die aus der Werkstatt des lieben Gottes stammt.»

Ich lauschte verzaubert. Vielleicht habe ich damals angefan­gen, auf dem Pferd des heiligen Georg zu reiten. Ich lauschte den Geschichten von den Schornsteinfegern und schwang die Lanze.

«Die Männer aus meinem Dorf, mit Brot und Hunger aufgewachsen, waren eines Tages, als ich noch nicht geboren war, mit der Sichel am Gürtel nach Locarno gezogen, um den Baum der Freiheit auszureißen. Von Freiheit wollten sie nichts wissen. Mit Mistgabeln trieben sie die Jakobiner vor sich her: Diese Gauner – sagten sie – sollen zuerst dem Mönch ihre Schuld gestehen, und dann muss man ihnen den Kopf abschlagen, damit die Seele sich vom Körper trennt.

Und an einem Marktdonnerstag gehen die Männer aus meinem Dorf auf die Piazza Grande hinunter und ergreifen zwischen den Frauen mit langen Schürzen, den Käselaiben, dem Gemüse und den Strohhüten einen gewissen Gallinière, der die gute Idee gehabt hat, die Getreideboote am Seeufer aufzuhalten: Sie sprechen ein Gebet für ihn, und dann stecken sie seine Gebeine in einen Korb …

Damals, als auch ich nach Locarno hinunterging, war Karneval. Wir saßen dort beim Essen im Café Agostinetti, schließlich bezahlte ja der Rechtsanwalt. Draußen spielte eine Kapelle. Rauch aus Kesseln. Risotto. Böller, die über die Piazza dröhnten. Rote und blaue Fahnen. Als dieser Erzliberale hereinkommt, so groß wie der heilige Christophorus, und anfängt, alle rundum zu verprügeln, gehen plötzlich die Lichter aus, und die Freunde des Rechtsanwalts ziehen Messer und Stöcke heraus, zur Hölle mit euch, da sollt ihr verkohlen! Der Liberale liegt in seinem Blut, und ich haue ab über die Dächer, mon gars. Ich springe nämlich wie eine Ziege.

Wo ich hingeraten bin? Auf allen vieren bin ich über die Dächer bis nach Gordola gekommen, und dann habe ich mich einem Carabiniere gestellt, der mit einem sechs Zoll langen Schnurrbart prunkte.

‹Ich bin einer der euren. Ich bin Künstler.›

Da haben sie mich eine Zeichnung des erstochenen Liberalen anfertigen lassen: Ich erinnere mich noch gut, er war blass wie ein Kalb. Mein erstes echtes Porträt ist das Bild eines Toten.

Dann war ich mit den Carabinieri unterwegs, Druckpressen in Brand stecken. Es schien, als bräche die Revolution aus. ‹Nieder mit der Schurkenregierung, nieder mit den Zylindern!›, ‹Es lebe Radetzky, ein Hoch auf die Kroaten!›. Doch als die Justiz mich gesucht hat, um mich zu vernehmen, bin ich noch einmal zur Ziege geworden. Wenn du dich vor den Menschen retten willst, kleiner Ministrant, lerne wegzulaufen. Und denk daran, dass auch die Hunde sich langweilen, wenn sie immer am selben Ort bleiben.

Jetzt bin ich ein fahrender Künstler, ich porträtiere die besseren Herrschaften. Aber eines Tages habe ich ein Bild gesehen, in Frankreich, da habe ich begriffen, was wahre Kunst ist. Kunst ist, die Menschen des Alltags lebendig zu machen. Das kann der Schweinehirte sein, die Frau, die einem Kind das Lesen beibringt. Die Menschen, die du um dich siehst. Mit ihren Beulen und schmutzigen Füßen und ihren guten und schlechten Gedanken und den Dingen, wie sie sind, Leute, die arbeiten oder weinen oder Steine klopfen. Wenn du einen Felsen malst, musst du auch die Zeit mitmalen, die sich Tag für Tag auf diesem Felsen abgelagert hat, die weder weiß noch rosa noch hellblau noch braun ist, sondern ein bisschen von all diesen Farben zusammen.

Gott wohnt in den Chorhemden der Messknaben, nicht in den Flügeln der Seraphim, denk daran. Glaubst du an Gott, kleiner Ministrant? Courbet glaubt an die Natur und ans Gefühl. Naturreligion. Vor dem Meer sitzend, malt er die Wellen und den Sturm. Vor einer Frau malt er ihr nacktes Fleisch.

Monsieur Courbet habe ich in Frankreich kennengelernt. Dort habe ich zum ersten Mal ein Bild von ihm gesehen: Ich bin mit meiner Staffelei unterwegs, um Porträts zu malen, und eines Tages erfahre ich, dass es in der Kapelle des Seminars ein Gemälde von ihm gibt. Die Leute aus Ornans waren gekommen, um es zu besichtigen. Und alle sagten: ‹Das da ist der Messner, und das ist der Totengräber, und hast du das Kind vom Milchmann gesehen, sieht es nicht aus, wie es leibt und lebt? Schau, die Schwester der Lehrerin …›

Nur zwei der Betrachter waren nicht zufrieden: ‹Ja, er hat den Pfarrer und die Messknaben und den Hund gemalt, aber uns nicht, nein …› Und sie erinnerten sich daran, dass sie doch auch mit der Musik von Ornans unter die Fenster gezogen waren, um den Künstler zu feiern.

Alle waren sie an dem Tag da, um das Bild anzuschauen. Sechsundvierzig Menschen, ich habe sie gezählt, alle ‹grandeur naturelle›, alle auf dem Begräbnis, die Männer auf der einen Seite, manche mit vom Wein gerötetem Gesicht, die weinenden Frauen auf der anderen. In der Mitte der Totengräber, der einen Moment vom Weinberg heruntergekommen war, um das Grab zu schaufeln. Und eines Tages wird der Totengräber uns alle forträumen, mon gars, wir werden den Kohl des Pfarrers fett machen, wie sie in meinem Dorf sagen.

Voriges Jahr bin ich extra nach Paris gefahren, um Courbets Ausstellung in der Avenue Montaigne zu sehen. Ein großer Pavillon, es kostete einen Franc Eintritt. Darüber, großgeschrieben: du réalisme. Ich verstehe die schwierigen Wörter nicht, mon gars. Aber dort in dem Pavillon habe ich die Bilder der wahren Malerei gesehen. Das Begräbnis von Ornans war da, und dann noch ein anderes Werk, ebenfalls riesig, bestimmt drei Meter hoch und doppelt so breit, es zeigte das Atelier des Malers, mit einer nackten Frau und einem kleinen Jungen, der Monsieur Courbet beim Malen zusieht. Und das dritte Bild, das mir am allerbesten gefallen hat, war das Bild von den Steinklopfern: ein Alter mit Strohhut und ein Bub im zerrissenen Hemd, der die Steine trägt.»

Der Cidre der «Couronne» stieg mir zu Kopf; und während Cherubino so mit mir redete, schien mir, als würde ich selbst ein bisschen zu dem Steinklopfer und dem Jungen, der dem Maler zuschaut, und zu dem Messknaben. Und die nackte Frau, die sah ich vor mir.

«Warum ich es nicht auch wie Courbet mache, kleiner Ministrant? Weil er der Meister aller Maler auf Erden ist und ich bloß ein kleiner Sakristeimaler, hundsgemeine Welt.»

In Lissabon ist die Sonne morgens jung. Hier im Halbschatten, unter den Augen von Balzac, Cervantes und Proudhon, träume ich davon, den Menschen zu erneuern.

Frauen auf dem Weg zum Markt gehen vorbei, der Krüppel, der stehen bleibt und die ausgestellten Bücher anschaut, ohne die Titel zu verstehen. Dann streckt er die Hand aus; und wenn ihm jemand einen Escudo gibt, bekreuzigt er sich. Das Leben ist ein schwarzes Unglückslied: Wie viele sind die Elenden, die einen Lohn bekommen, der nicht fürs Essen reicht? Ich habe gelesen, dass es in Europa und den Vereinigten Staaten insgesamt siebzig Millionen Arme gibt. Siebzig Millionen, die zum Hunger verurteilt sind. Dantes Hölle ist hier auf Erden.

In der Anfangszeit kam Cecilia auch in die Buchhandlung. Ich wartete auf ihren Blick. Jetzt aber lässt mir die Krankheit keine Wahl. Ich werde Cecilia verlassen müssen, ich werde die Genossen aus der Sektion und die Freunde des Cenáculo verlassen müssen.

Antero, der Beste, hat seine Koffer gepackt und sich davongemacht aus dem Gestank Lissabons. Er braucht Raum und Freiheit. Er ist nach Amerika aufgebrochen, er will die Kultur der Puritaner kennenlernen. Als Reiselektüre hat er sich ein Exemplar des «Don Quijote» mitgenommen.

Dann ist Eça losgefahren, in den Orient. Und ist mit einem großen Seidenhut zurückgekommen. Ich werde eine längere Reise machen. Doch im Augenblick begnüge ich mich damit, bis Belém zu fahren. Es gefällt mir, mich am Ufer des Tejo niederzulassen und aufs Wasser zu schauen. Während ich dort sitze, verschwindet das Heute, von der Strömung fortgetragen, und ein Wind bringt mir die Schatten der Vergangenheit, als wären sie lebendiger als die Gegenwart.

Nächste Woche, vielleicht

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