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Ein Vogel, der durch die Zeit fliegt

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Le Locle, 1er août 1857

«Cherubino Patà, peintre, en passage en cette ville, prévient le public qu’il se charge de faire des portraits à l’huile, de toutes manières et de toutes dimensions. Prix du portrait grandeur naturelle: 20 francs. S’adresser à l’Hôtel de la Couronne ou à l’église catholique.»

Dieses «grandeur naturelle» hatte mich beeindruckt. Noch nie hatte ich einen Künstler gesehen. Was Gemälde betraf, erinnerte ich mich nur an den heiligen Georg auf dem Pferd in meinem Dorf, das kleine Fresko von der Madonna mit dem Tüchlein und die Exvoto-Täfelchen. Deshalb ging ich an jenem Nachmittag zur «Couronne» und stellte mich unter das eiserne Schild, auf dem die Königskrone glänzte, um von dort durchs Fenster Cherubino zu beobachten, der Porträts malend von Dorf zu Dorf zog. Er kam mir wie ein wahrer Engel vor. Vielleicht sogar ein Erzengel. Kurz, ein göttliches Wesen, das aus dem Nichts etwas erschaffen konnte.

Le Locle: «loculo», Grabnische, nannten meine Landsleute den Ort. Weil dort eine Grabeskälte herrscht und ein Wind weht, der von dreißig Pfoten gebracht wird, er fährt dir in die Knochen wie Todeskälte. Wind und Raben streifen über die Felder.

Ich war mit meiner Mama in den Jura gekommen, weil die Gebirgsluft Lungenschwachen guttut. Und was mich als Erstes beeindruckte, waren die Raben. Es sind keine heiteren Vögel: Mein Vater starb, als ich wenige Jahre alt war, dort unten in meinem Tal, und an jenem Tag krächzten die Raben.

Jetzt diesen Zeitungsausschnitt aus meiner Jugend zu betrachten, kommt mir seltsam vor. Jetzt, da das bedruckte Papier zu meinem Alltagsrauschen geworden ist, höre ich das Schwirren des Vogels, der mir diese Erinnerung bringt. Jeder Flügelschlag ein Tag, der vergeht.

Damals, als ich den fahrenden Künstler heimlich durch die Scheiben des Hôtel de la Couronne beobachtete, lag mein ganzes Leben noch vor mir. Ich beobachtete jenen Cherub mit seiner schlauen Miene und den zerzausten Locken, genau so, wie ein Maler sein muss. Er bewegte den Pinsel auf der Leinwand, und nach und nach nahmen die Gesichtszüge des vor ihm posierenden Monsieur Le Maire Gestalt an. Stolz stand er da, nachdem er den Zylinder an den Kleiderständer gehängt hatte, mit seinem steifen Kragen, die Hände auf den Spazierstock gestützt; und mir war, als spiegelte sich in den Formen, die sich allmählich auf der Leinwand abzeichneten, auch seine Gattin mit dem Schirmchen und dem weißen Pferd.

Auf dem Bild waren Frau und Pferd nicht vorhanden. Aber ich sah sie, weil ich von klein auf seherische Augen hatte. Da, das Gesicht des Bürgermeisters, vornehmer als in Wirklichkeit, faltenlos, da, die Nase, freundlich unter dem Pinsel, nun die Krawatte, die Uhrkette auf der Weste, das Wiehern des Pferdes … Lebensgroß. Für zwanzig Franken wird man schön und unsterblich wie der heilige Georg. Wie Wilhelm Tell, unser Held, den die Republikanhänger an jenem Tag auf den Straßen mit Fanfarenstößen feierten.

Ehrlich gesagt bin ich es gewohnt, Dinge zu sehen, die nicht da sind. Ist Schönheit in dem Bettler an der Ecke der Rua do Chiado? In dem Krebs, der ihm das Gesicht zerfrisst? In der Kaverne, die sich in meiner Lunge gebildet hat? Und doch, wenn ich unterwegs bin, dringt bei jedem Schritt die Schönheit in mich ein, als ließe der Staub der Tage eine feine Leuchtspur zurück. Auf der Straße sehe ich in jeder Bewegung einer Frau die Natürlichkeit, die das Begehren entzündet, der Anblick der Passanten erheitert mich. Mitten im Grau flammt eine Kerze auf, die sagt: «Du könntest glücklich sein …»

Ich weiß nicht, ob jener Cherubino Patà ein großer Maler ist. Damals jedoch schien er mir der Zauberer und Schöpfer persönlich zu sein. Als der Bürgermeister fort war, bat Cherubino mich, ihm ein wenig Tabak zu holen, und gab mir etwas Kleingeld. Mit schlauem Blick sah er mich unter seinen Locken an. Er war gut gelaunt, hatte Lust zu reden.

«Hé, mon gars … Was wolltest du da hinter der Scheibe mit diesem Ministrantengesicht? Du hättest doch hereinkommen können, das ist ja nicht verboten.»

«Mir fehlte der Mut, Monsieur l’artiste.»

«Ich höre, dass du so ähnlich sprichst wie ich, mon gars. Du hast einen merkwürdigen Akzent. Du bist nicht von hier.»

«Nein, ich bin nicht von hier. Ich stamme aus einem engen Tal nahe Italien.»

«Aus einem engen Tal? Hundsgemeine Welt, ich komme aus einem abgeschlossenen Tal, das sie in der Vergangenheit mit einem Tor verriegelt hatten, um Pest und Krieg nicht her­einzulassen: ein riesiges Tor, das auf den Abgrund hinausging.»

«Sind Sie früh fortgegangen aus diesem abgeschlossenen Tal, Monsieur?»

«Je me suis sauvé … Hör zu, mon gars, wie heißt du?»

«Ich heiße Giuseppe. Aber meine Mama nennt mich José.»

«José …?»

«Mama ist Lusitanerin.»

«Hör zu, mein kleiner Lusitaner, geh und hol mir ein bisschen starken Rauchtabak und komm dann herein, ein Glas Cidre trinken.»

Nächste Woche, vielleicht

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