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Sich wiedersehen

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«Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sage ich mir: ‹Es ist aus, Nick.› Oben alles dritte», gesteht er und berührt seine Zähne.

Wir gehen über den Kies des Friedhofs, und ich wüsste gern die Geschichten aller Toten. Ein Raunen dringt aus den Grabkammern herauf.

«Der Gedanke, nicht dazusein, hat auch seinen Reiz», erklärt er.

Tja. Wer weiss, was sie über uns sagen werden, denke ich, während ich die steinernen Engel am Wegrand betrachte. «Ich kannte ihn vom Sehen», werden sie sagen. Oder: «Ich traf ihn immer Sonntag früh, wenn ich die Zeitung holen ging.»

«Glaubst du an Gott?», fragt er mich unvermittelt, während unsere Schritte das Raunen im Hintergrund übertönen.

«Wirklich an Gott … Jetzt stellst du mir eine zu schwierige Frage. Früher mochtest du Nick La Rocca. Trugst eine Schleuder aus Kornellkirschenholz in der Tasche. Da hast du mir nicht solche Fragen gestellt.»

«Ja, aber bleibt was von uns, danach?»

«Ich weiss es nicht. Meine Mutter sagte immer: ‹Man macht so lange weiter, bis man unter die Erde kommt.› Wichtig ist das Weitermachen.»

Wir sind etwas zu früh da, und so sehen wir uns noch das Blätterballett auf dem Platz mit den Karussells vor dem Friedhof an. Der Oktobersturm rüttelt an den Holzpferden. Erinnerungen tauchen auf.

«Als Junge putzte ich oft die Fahrbahn des Autoscooters, dafür bekam ich dann einen Jeton», sagt er.

Wir haben uns aus den Augen verloren, Nick und ich. In unserer Jugend strolchten wir immer durch die Bars und suchten irgendwas. Bis eines Tages Remo mit dem Kolpak aus Mailand kam: Er hatte es geschafft wegzugehen, in einem Untermietzimmer in Brera zu leben, zu malen wie Van Gogh und stolz die exotische Kopfbedeckung zu tragen. Wir … wir hatten die Instrumente unserer Kunst in einem Felsenkeller verstaut, in dem vorher Formaggini gelagert wurden, aber keiner von uns konnte spielen: nur Elia, der, der den Mädchen gefiel, stümperte ein bisschen auf Trommel und Becken des Schlagzeugs herum. Ich besass eine Posaune vom Anfang des Jahrhunderts, die ich unter dem Schutt auf dem Speicher ausgegraben und repariert hatte, indem ich eine Taste, die nicht mehr auf Fingerdruck reagierte, mit einem Gummiband befestigte, und Nick blies auf einem mit Seidenpapier bedeckten Kamm, einem Instrument aus den Anfängen der Jazz-Ära, das vermutlich auch Nick La Rocca auf den Dampfern in New Orleans gespielt hatte.

Jetzt treffen wir uns nur noch bei Beerdigungen. Und da kommt uns die Lust an, über letzte Dinge zu sprechen.

«Hast du schon jemanden sterben sehen?»

Es gelingt uns einfach nicht, uns auf das Leben zu konzentrieren, das muss das Alter sein. Nick hat noch nie im Leben etwas zustande gebracht. Das einzige: die dritten Zähne oben. Er ist ein Alternativer, aber nur potenziell. Ein schüchterner Alternativer, der sich nicht verwirklichen konnte. Einer, der die Reisen der anderen liebt. Er liebt es, Reiseerzählungen zu lauschen. Am Sonntagmorgen geht er mit einem Päckchen Marlboro in eine Bar und setzt sich vor den Fernseher. Er weiss nicht, was er tun soll. Ein Pessimist. Er sagt, wir leben in einer bürgerlichen Militärdiktatur.

Es kommen weitere Freunde, die ich lange nicht gesehen habe.

«Der Mauro ist angezogen wie Gianni Agnelli», sagt Nick. «Schau, eine Goldkette hängt ihm aus der Tasche.»

Alle erinnern sich noch, wie Mauro in den Nightclub ging und unter den Tisch pinkelte. Jetzt ist er Bankdirektor.

Der Tita kommt, Gepäckträger mit Zigarette im Mund, einer aus der proletarischen Schicht, die sich vor dem Krieg entlang der Grenze angesiedelt hat. Wenn du ihm ein Glas Weissen spendierst, erzählt Tita dir, dass er das Laster des Rauchens als Kleinkind angenommen hat: In San Fermo geboren, trug ihn sein Vater in eine Jacke gewickelt heim, und ihm wurde schwummerig – so sagt er, schwummerig –, dann hat er sich mit einer Prise Tabak erholt und ist für immer klein geblieben.

Aber die Lella erkenne ich fast nicht wieder. Lella, die ich eines Dezemberabends nach einem Lauf durch den Schnee geliebt hatte. Geliebt ist nicht ganz der richtige Ausdruck: gegen das Mäuerchen bei der Schule gedrückt.

Wir küssen uns auf die Wangen. Dann reden wir über die Tote, die zu begleiten wir hergekommen sind. Sie lachte immer, die Tote, als wir auf dem Lehrerseminar waren. Einmal war ich mit ihr zusammen Vespa gefahren, und wir hatten ein Päckchen Parisiennes super in einer Bar geklaut. Das ist meine Erinnerung an sie.

Nach der Beerdigung sehe ich Lella wieder. Sie ist aufgedunsen. Alkohol? Medikamente?

«Dein Blick ist nicht mehr wie früher», sagt sie. «Ich habe noch das Foto von damals, als du im Mittelfeld links gespielt hast und dir der Haarschopf in die Augen hing. Ein quer gestreiftes Trikot hattest du an.»

Wir bestellen ein Bier. Was werden sie über uns sagen? «Der mit dem quer gestreiften Trikot», werden sie sagen, «Das Mädchen mit dem Mondgesicht.»

«Wenn ich ins Lehrerzimmer komme und die Gesichter der Kollegen sehe, geht es mir schlecht», sage ich. «Und was machst du? Was ist aus dir geworden?»

Sie fängt zu lachen an und hakt sich bei mir ein. Wir nehmen die Strasse bergauf, wo ich sie an jenem Abend in den Schnee gedrückt hatte. Sie unterrichtete in der Grundschule der kleinen Stadt und liebte, ausser mir, den Astronauten Yuri Gagarin. Eines Tages hängte sie im Klassenzimmer ein Poster von ihm auf, und der Schulinspektor stellte sie in einer Sitzung öffentlich bloss. Sie wollten sie erledigen, sie, Gagarin und ihre kleine Hündin. Wir lachen.

«Da, jetzt hast du wieder diesen Blick», sagt sie.

«Die Schule hat mich schwermütig gemacht. Achte nicht darauf.»

Was werden meine Schüler über mich sagen? «Er fuhr mit dem Fahrrad in die Schule», werden sie sagen, «dann hat er sich eine gebrauchte Vespa angeschafft.» Der eine oder andere besitzt vielleicht noch, in einem im Keller aufbewahrten karierten Heft, das Klassenfoto, das der hinkende Fotograf bei Jahresbeginn auf dem Platz vor der Schule von uns geknipst hatte. Damals fuhr ich mit der Vespa zur Schule. Gemma hatte in einem Aufsatz geschrieben: «Wenn ich gross bin, will ich den Lehrer heiraten.» Und im Oktober hatte sie mir ein Kistchen Trauben in die Schule mitgebracht, als Vorschuss auf die Mitgift.

«Ich stehe auf der Seite der Minderheiten», sagt Lella. «Basken, Irländer, Flüchtlinge.»

«Früher hast du davon geträumt, Juliette Gréco zu sein.»

Ich sehe sie noch auf den Strassen der Peripherie von Locarno, wir waren poetische Rebellen. Wir dachten, ein Klempner könne auch Dichter sein. «Je est un autre», sagten wir. Also war ich Zigeuner, voyou, Dichter; ich lief von zu Hause fort und hatte heimliche Liebschaften. Sie war Schauspielerin, Geliebte, Kommunistin …

«Die Ungerechtigkeiten nehmen kein Ende», sagt sie.

«Das weiss man. Du hast ganz Recht, Kommunistin zu sein. Aber die Leute sterben trotzdem», philosophiere ich.

Sie sieht mich an und sucht meinen Blick.

«Das ist kein Grund, alles aufzugeben. Du hast verraten, hast auch aufgegeben.»

«Ich? Ich bin schwermütig geworden.»

Wir bestellen noch ein Bier, und plötzlich kommt mir jener Nachmittag in der Osteria wieder in den Sinn. Die Tapete fällt mir wieder ein und Lella, die am Tisch sitzt, mit den an Haken hängenden Zeitungen in einer Ecke. Sie hatte ihr Tagebuch herausgezogen an jenem Nachmittag und die Seite vorgelesen, auf der stand: «Ich habe Angst, dass sich niemand an mich erinnert, an die Sätze, die ich gesagt habe.» Es herrschte ein besonderes Licht – unmöglich, dass es keine Spuren hinterlassen hat, jenes Licht, ein biss­chen wie damals, als ich sie in den Schnee mitgenommen hatte. An jenem Nachmittag fühlte ich, dass etwas geschehen konnte. So werde ich mich an sie erinnern: mit dem Gesicht vor den blauen Blumen der Tapete. «Das Mädchen mit den blauen Blumen.» Und während die Frau am Tresen uns beobachtete, kam mit dem Licht das Versprechen auf Glück herein. Vielleicht besteht der Trick zu leben darin, in den Augen das Licht eines Tages zu bewahren, an dem man gespürt hat, dass man glücklich sein konnte. Aber wie aufgedunsen sie jetzt ist. Und wie wird sie mich in Erinnerung behalten? In meinem quer gestreiften Fussballtrikot?

«Ich habe gelernt, nur die zu lieben, die mir nahe stehen», sage ich. «Dieses Licht, das am Himmel verlöscht und nicht wiederkehrt. Du bist noch in der Ideo­logie befangen.»

«Du bist zur anderen Seite übergelaufen», sagt sie.

«Was heisst das? Zur anderen Seite übergelaufen sind die, die so tun, als gebe es keinen Schmerz.»

Ich sehe sie wieder in der Osteria im Licht, das durch die Vorhänge hereinfällt. Warum hat sie zu trinken angefangen? Warum hat sie versucht, sich umzubringen? Da sind wir und zertrampeln die Oktoberblätter vor den erstarrten Pferden.

«Man verbringt das Leben damit, Dinge tun zu wollen», sagt sie, ihrer alten Begeisterung nachhängend.

«Ich bin zum Beobachter geworden», sage ich. «Anstatt Dinge zu tun, betrachte ich sie.»

«Ich hab es ja gesagt, du bist zur anderen Seite übergelaufen.»

«Anstatt etwas zu tun, sage ich es mir innerlich vor. Ich spreche mehr zu mir selbst als zu den anderen. Manchmal kommen die anderen mir vor wie verblasste Schilder. Damit sie wieder lebendig werden, muss ich mir innerlich von ihnen erzählen. Denkst du nie an die Gefährten von damals?»

«Sie verändern sich. Ab und zu kommt ein Maler vorbei und überstreicht das alte Schild mit Barytweiss. Aber erzähl mir von denen, die in dir leben.»

«Die, die unter den grossen Zweigen der Zeder vor der Grundschule vorbeigingen. Weisst du noch? Da muss auch Yuri Gagarin in seiner Kapsel vorbeigekommen sein, als du noch unterrichtet hast.»

Ab und zu fallen sie mir wieder ein, die Schulkameraden. Das Leben hat sie entstellt. Rico zum Beispiel kommt mir in den Sinn: in der Turnhalle machte er im Schwung Handstand auf dem Barren und sah uns lächelnd an, dann rieb er sich die Handflächen mit Magnesium ein und setzte zur doppelten Riesenfelge am Reck an mit diesen langen weissen Hosen, die nur die «Aktiven» trugen.

«Du bist alt geworden, wie Nick. Du lebst von Erinnerungen.»

«Ich versuche zuzuhören, von den anderen zu lernen. Ich erzähle dir etwas. Kürzlich sass im Bus nach Como ein alter Mann mit gefärbten Haaren, der Selbstgespräche führte. Er murrte über das Personal, das seine Pflicht nicht ordentlich tut. Du weisst schon, diese übergeschnappten Einzelgänger, die im Alter vor sich hin schimpfen. An einem bestimmten Punkt ist der Fahrer – wer weiss, wie oft er ihn schon gesehen hat – sauer geworden und hat gedroht, ihn aus dem Bus zu werfen. Wirklich unverhältnismässig. Da hat der Alte ihm tief in die Augen geschaut und gesagt: «Danke Gott, dass ich ein Boxer in Pension bin. Ich kann dich nicht anrühren.»

Der Oktober treibt weiter Blätter auf dem Platz zusammen, Lella lacht. Alle anderen sind gegangen.

«Man muss aufhören zu beobachten, etwas nur tun zu wollen. Man muss es tun», sagt sie.

«Da gab es nichts zu tun. Es war ein einsamer alter Mann, der sich tröstete. Aber man kann etwas daraus lernen: ‹Danke Gott, dass ich dich nicht anrühren kann …›»

Ich betrachte die aufgedunsene Lella. Sie redet wie in alten Zeiten. Aber sie sammelt jetzt Nippes, nicht mehr die Fotos von Gagarin. Ein besiegter Boxer auch sie, genau wie ich und wie Nick, vom Herbstwind geschüttelt.

Schattenblüten

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