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Die Stunde der Füchse

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für Antonia

Auf dem Weg kommen mir alle diese Füchse entgegen, wenn ich meine Schicht in der Raststätte beende und allein nach Hause gehe. Es ist schon Nacht, eine kranke Helligkeit steigt von der Autobahn herauf, und von der Wiese hier in der Nähe tönt der Klang einer Glocke herüber: eine Ziege, eine verirrte Kuh, ein Engel, der sich im Septembernebel verlaufen hat, wer weiss. Dann tauchen auf der Schwelle zur Nacht die Füchse auf.

Begonnen habe ich meinen Dienst an einem schönen, azurblauen Nachmittag, einem Nachmittag mit dem Kastanienbaum vor dem Himmel, würde der Dichter sagen, den ich im Juni an der Matura behandelt habe: während die stachelige Schale auf die Wiese fiel und eine lachende Kastanie heraussprang, stand ich dort hinter der Theke. Wie ein Nachtfalter, ging es mir vor einigen Tagen durch den Kopf, ein Nachtfalter, der sinnlos um die Lampe flattert. So bewege ich mich hinter der Theke der Autobar und serviere Café crème und Cappuccini.

Der König der Autobahn ist der Café crème, hat Angelo gesagt. Und die Deutschen mögen Cappuccino so gern. Diese Deutschen mit dem Kassenbon in der Hand, die «Hallo» sagen oder mit der Faust auf den Tresen schlagen. Manchmal, wenn ganze Reisebusse kommen und man nicht mehr weiss, wo man anfangen soll, muss ich lachen.

Ich lache, um nicht zu weinen. Zum Glück ist Angelo da, der mir hilft. Er ist ein Proletarier und durchschaut die Lage immer sofort, er macht mir ein warmes Brötchen mit Nutella, und kürzlich, als wir am Abend von der Raststätte weggingen, hat er mir eine Traube gepflückt und mit den Worten überreicht, dass man von denen nehmen müsse, die haben, um denen zu geben, die nichts haben, er muss das Evangelium, das Kapital oder etwas Ähnliches gelesen haben, der Angelo. Ich habe mich gefühlt wie einer dieser Füchse, die um diese Stunde durch die Weinberge streichen.

Aber wir werden eine Revolution machen, ich und Angelo. Jetzt bleibe ich einen Monat hier, verdiene mir Geld, um nach Kuba zu fahren, und dort kaufe ich mir dann eine Baskenmütze mit dem Stern des Che und lerne Revolution machen, und wenn ich zurückkomme, werden wir den Aufstand der Tankwarte, der Verkäuferinnen, Putzfrauen und Kellner der Raststätte anführen. Die in den Schliessfächern der Banken versteckten Schmuckstücke werden wir beschlagnahmen, und auf der Autobar wird die Fahne des pueblo unido wehen.

Vor ein paar Tagen ist ein griechischer Lastwagenfahrer hereingekommen, der nur Griechisch sprach, er wollte ein Bier, aber wir verkaufen keinen Alkohol, also habe ich ihm ein alkoholfreies Bier gegeben, er war ein bisschen enttäuscht, und nur so, um ihn zu trösten, habe ich das einzige griechische Wort zu ihm gesagt, das ich kenne: ouzo. Der Grieche ist zu seinem Lastwagen gegangen, hat ein Fläschchen Ouzo geholt und es mir geschenkt, es gibt doch gute Menschen auf der Welt. Angelo dagegen sagt, dass alle böse sind.

Wenn er das sagt, wird er gute Gründe dafür haben. Er ist ein Grenzgänger, einer ohne Rechte, denn die Gewerkschaften halten zu den Unternehmern, sagt er. Hier in der Autobar, zum Beispiel, kommen die Bullen rein und trinken etwas, ohne zu bezahlen, essen ein Brötchen, ohne zu bezahlen, es besteht eine Abmachung zwischen dem Chef und den Polizisten, jedes Jahr lädt der Chef sie zum Abendessen ein, sie mögen sich. Auch die Männer, die auf der Autobahn arbeiten, die mit den orangefarbenen Anzügen, können hier umsonst essen, aber kürzlich ist ein Kroate hereingekommen und hat einen Kaffee getrunken, aber sein Brötchen wollte er bezahlen. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ihm auch das Brötchen umsonst zusteht, wie den Polizisten: Aber er hat gesagt, die sind «was Besseres» als er. Auch des­halb werden ich und Angelo den Aufstand anführen.

Die Bullen im Dienst der Unternehmer. Manchmal tun sie mir allerdings auch Leid, wie der, der vor ein paar Tagen hereinkam, mit einem halb traurigen, halb gleichgültigen Gesicht und stark vorstehenden Augen. Ich habe mit ihm zu reden angefangen, und er gab mir sogar Recht und er tat mir ein bisschen Leid, auch sie haben mörderische Dienstzeiten. Dann hat er den Kaffeerahm-Deckel genommen und ihn sorgsam in seinem Portemonnaie verstaut, für seine Tochter, die so was sammelt.

Der Chef der Bar und der Tankstelle ist einer, der frühmorgens herkommt, einen Café crème trinkt und die Autos zählt, die auf der Autobahn vorbeifahren, er betet zum Herrgott, dass er ihm eine schöne Menge dröhnender Autos vorbeischickte. Die Autos sind sein Leben. Insgeheim jedoch ist er in Züge verliebt. Er hat eine tolle Spielzeugeisenbahn in seiner Villa «Mio sogno» oben auf dem Hügel, Miniaturlokomotiven, die einen Haufen Geld kosten, und wenn er nicht hier ist, um die Autos zu zählen, sitzt er ganz brav in seinem Wohnzimmer und schaut den Zügen zu, die am Bahnübergang halten, in die Tunnels einfahren, an den Weichen die Gleise wechseln und glücklich zwischen kleinen Seen und Bäumchen dahinfahren wie im Swissminiatur. Aber wenn ich aus Kuba zurückkomme, wird die Villa des Chefs in eine öffentliche Anlage mit Enten im Teich verwandelt, der Chef macht seine Schichten an der Tankstelle wie die anderen, und alle Kinder dürfen mit der Eisenbahn spielen, auch Angelos Tochter.

Keine Rechte. «Wenn du willst, ist es so, sonst kannst du ja gehen.» Und die Gewerkschaften schweigen, gehen mit dem Besitzer Eisenbahn spielen. Hier gibt es einen Haufen Arbeislose, die Angelos Stelle sofort nehmen würden. Aber er hat eine zehnjährige Tochter zu Hause, ein scheues Mädchen, die Mutter ist auf und davon, und er lebt jetzt allein mit dieser Tochter, die Silvana heisst, und in der Schule sagen sie Silvana, die Nutte, zu ihr, weil die Welt böse ist. Es gab zwar eine Nachbarin, eine Sechzigjährige, die kam und half Angelo und Silvana ein bisschen im Haushalt, aber jetzt hat sie einen Kerl gefunden, und plötzlich ist die Alte wieder jung geworden, hat angefangen sich zu schminken wie meine Mathelehrerin und lässt sich nicht mehr blicken. Silvanas Onkel ist gestorben, ihr Freund ist an einem Tumor gestorben, der Grossvater ist gestorben, die Grossmutter ist gestorben, sogar der Hund ist gestorben, Silvana ist allein geblieben und geht am Samstagabend mit ihrem Vater Angelo Walzer und Tango tanzen, um all diese Toten zu vergessen.

Er erzählt mir alles, der Angelo. Einmal ist er zum Chef gegangen, um zu fragen, ob er in der Zeit, in der auch seine Tochter Ferien hat, Urlaub nehmen kann, um ein bisschen mit ihr zusammen zu sein, aber der Chef hat zu ihm gesagt, wenn es ihm so passt, wie es ist, gut, sonst kann er ja gehen. Kurzum, die Unternehmerphilosophie. Aber auch die anderen im Dorf sind böse, sagt Angelo. Sie schauen ihn schief an, weil er getrennt lebt.

Wenn ich mit meinem Nachtfaltergeflatter um den Tresen fertig bin, kommen mir die Füchse entgegen hier auf dem Weg, der mich nach Hause führt: Da ist die Frau – die ehrbare Signora nennt Angelo sie –, die sich morgens im Motel mit ihrem Liebsten trifft; da ist die Kassiererin, die meiner Tante ähnlich sieht und nie lächelt, da ist diese gemeine Ziege, die sich als Chefin aufspielt und heute Mariangela zum Weinen gebracht hat, da ist der Typ im blauen Anzug, der einen Café crème bestellt und dann zu dir sagt, du sollst seinen draussen geparkten Mercedes anschauen, und dich fragt, ob du mit ihm abendessen gehst; da ist der schweigsame Taxifahrer, der am Spielautomaten sein Glück versucht, da ist die Putzfrau, die die Zimmer im Motel sauber macht und Gretel heisst. Gretel ist eine grosse, dicke Frau, die einen Haufen Unglück gehabt hat, aber sie erzählt es mit einem Akzent, der mich zum Lachen bringt. Erst hat sie mit dem Auto ihren Sohn angefahren, so eine Schnittwunde am Kopf. Dann ist sie beinahe in Flammen aufgegangen: sie stand mit der verdammten Alkoholflasche da neben dem Kamin, und plötzlich hat sie Feuer gefangen, Verbrennung dritten Grades, ihr Sohn nur zweiten Grades, zum Glück ist sie dick, und ihr Fettpolster am Bauch hat sie gerettet, sie hat mir die Katastrophe gezeigt, sie würde schon gern noch mit einem Mann gehen, aber sie schämt sich, so verbrannt, wie sie ist.

Dann gibt es noch die, die stehlen. Sie kommen rein, womöglich distinguierte Herren in Jacke und Krawatte, gehen an den Regalen mit den Waren entlang und lassen stangenweise Zigaretten im Regenmantel verschwinden. Und es gibt die, die dich beim Wechseln betrügen und dir falsche Schecks unterschieben, und dann musst du zahlen, die, die volltanken und dann abhauen, und einmal ist der Tankwart aus seiner Kabine gelaufen, um die Nummer des davonrasenden Autos zu sehen, aber in dem Augenblick ist einer zur Kasse gegangen und hat ihm sechstausend Franken geklaut: sobald du dich hier aus dem Käfig wegrührst, wird dir übel mitgespielt.

Wenn die Schicht zu Ende ist und ich dieses dunkle Strässchen entlanggehe, wo ich allein auch Angst habe und es mir immer so scheint, als wäre einer im Gebüsch versteckt und wartete auf mich, dann kommen mich die Füchse besuchen, die Nachtgedanken.

Einer sagt, man muss eine Revolution machen, um die Menschen zu verändern. Aber wie kann man das Böse auf der Erde zum Verschwinden bringen? Und die Narbe auf Gretels Bauch? Und die Tränen des kleinen Mädchens, zu dem die Schulkameraden Nutte sagen? Und die Deutschen, die Cappuccino bestellen nach dem «Hallo» und dich hinter dem Tresen anstarren, während du ihnen nicht ausweichen kannst, weil du dort eingesperrt bist wie in einem Schaufenster?

Da sind diese hungrigen Füchse, die mir entgegenkommen, wenn ich durch die dunklen Weinberge nach Hause gehe, ich höre eine vergessene Glocke auf der Wiese, und aus der Tiefe weht der gelbliche Atem der Autobahn herauf, alle Trauben haben die Farbe der Nacht, und auch ich bin ein Fuchs, pflücke eine Traube und nehme sie mit nach Hause: Denn man muss denen nehmen, die haben, um denen zu geben, die nichts haben.

Schattenblüten

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