Читать книгу Schattenblüten - Alberto Nessi - Страница 6

Begegnungen am Ende des Sommers

Оглавление

Am Nachmittag, wenn die Engel auf der Fassade der Pfarrkirche den Kopf aus den Wolken aus rissigem Putz hervorstrecken, gibt es Momente, in denen man nur Alte auf den Strassen sieht. Eine Taube flattert von der Traufe auf, streift den musizierenden Engel. Wenn die Totenglocke läutet, zögert der Fuss des alten Mannes, der gerade aus dem Portikus tritt, wem gilt wohl dieser Glockenschlag? Er ist einer, der mit niemandem spricht, allein mit seiner Zigarre, und er betrachtet den Asphalt, als suchte er das Licht, das er in seinem Dorf am See sah, bevor er es für diese Pfützen verliess. Auch die hinter dem Küchenvorhang stehende Frau hat das Läuten gehört.

Eine weisse Taube. Oder eine gewöhnliche Taube? Für den Strassenarbeiter ist es eine gewöhnliche Taube, eine piviún. Er und der Elektriker – ein vorzüglicher Schütze, der sein Gesicht immer zu einer Grimasse verzieht, als weinte er, und zu Hause auf der Truhe und in den Schubläden der Anrichte Medaillen, Diplome, Bänder und Pokale aufbewahrt, den ganzen Plunder, den er bei kantonalen und bundesweiten Wettschiessen gewonnen hat –, sie beide stiegen nachts auf den Kirchturm hinauf: Dort oben gibt es ein Treppchen, das direkt zu den Glocken führt, und da kann man die Tauben leicht packen, noch besser, wenn der Mond scheint, man spürt ihre laue Wärme in der Hand, dreht ihnen den Hals um und wirft sie auf das Pflaster des Kirchplatzes. Ihr letzter Flug. So leistet man der Gemeinde einen Dienst, denn die Tauben verschmutzen alles, das ist bekannt, habt ihr nie die Dreckkrusten auf den Dachrinnen gesehen?

Der Alte mit der Mütze dagegen betritt die funkelnde Bar und setzt sich unter den umgedrehten Lampenkranz mit dem Spotlight darin. Er trägt die Mütze eines Kapitäns zur See, ein Stück aus seiner Sammlung. Er hat eine Leidenschaft für Militärisches: Helme, Orden, Gasmasken, Bajonette, gekreuzte goldene Schwerter auf Achselklappen. Krieg und Wein in Korbflaschen. Er liebt Soldatenfriedhöfe. Kürzlich hat er einen schönen Helm verkauft an den Jungen mit Nieten und Eisenzeug an der Jacke, den man um die Bar herumlungern sieht, nachdem er sein Monster mit niedrigem Lenker geparkt hat.

«Weisst du noch, wie wir einmal mit Nazi-Helm auf dem Kopf zum Klassentreffen gegangen sind?» fragt der am Tisch sitzende Kapitän zur See seinen Nachbarn, der ihm beim Barbera Gesellschaft leistet.

Auch Battista, einer aus der Diaspora der Bergamasker Sägewerker, kam hierher, um auf den Abend zu warten. Er trug immer Hosen, die etwas zu kurz waren über den Schuhen, und schritt leichtfüssig wie ein Walzertänzer über das Trottoir. In der Bar erzähl­te er von damals, als er die Vogelfallen, mit denen er sich in seiner Kindheit vergnügte, beiseite geräumt und den Schnellzug in die Schweiz bestiegen hatte, eine Flanellhose, drei Hemden und drei Paar Unter­hosen im Bündel. Es war ein Sonntag im Juni, St.-Ludwigs-Tag. Im Gepäcknetz lag, mit dem Strick um­wickelt, die Sense, aber der Kontrolleur wollte ihn nicht weiterreisen lassen, denn der Krieg war kaum zu Ende, und er – er war noch nicht sechzehn, auch wenn ihm allmählich ein Schnurrbärtchen wuchs, und aufs Mähen verstand er sich wirklich gut, weil er das Handwerk schon als Kind erlernt hatte, mit einer kleinen Sense, die sein Vater für ihn gemacht hatte.

Jetzt ist Battista nicht mehr da, zum letzten Mal haben wir ihn mit wächsernem, schon abwesendem Gesicht den Kirchplatz überqueren sehen. Geblieben ist Fredo, immer die Zunge zwischen den Lippen wie eine Drohung oder eine schmerzliche Erinnerung oder ein Zeichen der Begierde beim Anblick der Frauenbeine, die an seiner Bank vorübergehen auf dem Weg in die Cooperativa–Comperativa sagte seine Mama. Sein Lieblingsthema ist das Bordell von Como: fünf Lire für acht Minuten, dann läutete die Klingel. Beim ersten Mal hat­te Fredo den Ausweis gefälscht, weil er noch nicht achtzehn war, und als er das Zimmer betrat, hat er eine Frau von hundertzwanzig Kilo vor sich gesehen, mit einem Geschlecht wie ein Hechtmaul, zum Hineinfallen.

Die Frau, die nicht altern will.

Sie zieht sich rot an, weil Rot die Schmerzen lindert, trägt hochhackige Schuhe und geht oft zum Friseur, um sich Dauerwellen machen zu lassen. Am Sonntagnachmittag erliegt sie der Verführung des Tanztees im «Delizie», auch wenn die Leute sagen: «Hinten Lyzeum, vorne Museum.» Begleitet wird sie von einer Freundin, einer mit auffallenden Haaren, die nie geheiratet hat und in zweieinhalb Zimmern über dem kleinen Lebensmittelladen wohnt, manchmal sehe ich ihr geschminktes Gesicht auf der Terrasse zwischen den Geranientöpfen schweben, mit Augen, die gern sündigen würden.

Vor dem Mietshaus hackt die Pförtnerin, die kürzlich ihren Mann verloren hat, im kleinen Beet. So lebt die Vergangenheit wieder auf in Form von Strandkiefer, Rhododendron, Stachelbeerstrauch. Man braucht nur zu giessen, zu hacken, das Unkraut zu jäten. Nachts behält die Pförtnerin ihre Pflanzen im Auge, denn eines Morgens hat sie, darin verfangen, einen Nylonstrumpf gefunden. In ihrem Zimmer im Erdgeschoss hört sie sie wachsen, wenn der Verkehr schweigt. Und in windigen Nächten, in ihrem Witwenbett ausgestreckt, hört sie sie miteinander sprechen. An einem Julimorgen hat sie anstelle ihrer windgezausten Bäumchen Stimmen gehört, die von den Grünanlagen vor dem Mietshaus kommen mussten. Worte, trocken wie abgebrochene Äste, und auch eine Frauenstimme, so schien ihr. Sie hat durch den Fens­terladen gespäht. «Sag mir, wer dich rübergebracht hat, sag mir, wer dir geholfen hat …», sagte der Polizist zu einem Schatten unter den Linden, vielleicht eine Türkin, eine Flüchtlingsfrau. Sie hat gelauscht, bis die erste Helligkeit die Turteltauben geweckt hat.

Vor dem Mietshaus erscheint um eine bestimmte Zeit die Frau aus San Fermo. Sie führt Selbstgespräche und bewegt ständig den Mund, als kaute sie. Sie wirkt wie ein schmächtiges Mädchen, hat aber das Gesicht einer Alten und die Augen eines Menschen, der viel Elend durchgemacht hat. Jeden Tag geht sie über die Grenze und kommt in die Svissera, um Fussböden zu putzen. Die Wachen kennt sie alle. Die italienischen Wachen nennt sie die mocassina. Sie trägt einen geschenkten Mantel und hat nie heiraten wollen, obwohl sich ihr mehrere Gelegenheiten boten: Einmal hat sich sogar ein distinguierter Herr um sie bemüht, ein Helvetier mit Bankkonto. Das «a» von Bank spricht sie mit verkniffenem Mund aus, ein unzufriedenes «a», das gern ein «o» wäre.

Die Frau, die beschlossen hat, nicht zu altern, schaut vom Fenster aus der Pförtnerin beim Hacken zu, schaut der Frau aus San Fermo zu, die mit einem kartoffelschalenfarbenen Gesicht hierhin und dorthin hüpft und in einem Winkel einen grossen Karton mit Lumpen aufbewahrt, aus dem man manchmal noch etwas Nützliches herausfischen kann. Dann lässt sie den Vorhang sinken und macht sich zum Ausgehen fertig. Sie zieht die hochhackigen Schuhe an. Das Gesicht ist mit einer Schicht Make-up bedeckt. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie noch jünger war – denn man kann nicht sagen, dass sie jetzt alt wäre – und den Tessiner Barbier kennen lernte, der ihr Mann werden sollte. Damals arbeitete sie als Verkäuferin in einem Stoffgeschäft in der Zentralschweiz, es gefiel ihr, alle Stoffe ordentlich in den Regalen gestapelt zu sehen und das gelbe Plastikmassband um den Hals zu tragen. Der Barbier begehrte sie, an der Schwelle jenes Ladens am Fuss der Berge. Er bewunderte sie in ihren eng anliegenden Kostümen. Bis er dann eines Tages seinen Mut zusammengenommen und ihr eine Puderdose mit Quaste geschenkt hatte.

Am Sonntagnachmittag geht sie mit ihrer Freundin mit den tizianroten Haaren ins Delizie, so bleibt sie jung. Es gab noch eine dritte Frau, die an Festtagen mit ihnen zum Tanztee ging, doch nun hat sie das Gesicht voller Narben: Eines Tages, als sie beim Heimkommen die Tür öffnete, ist das Gas explodiert. Sie ist schlagartig gealtert.

Der Mann, der seiner Tochter die Hand gibt.

«Machen wir grosse Springer beim Runtergehen?», fragt das Kind. Soll heissen: grosse Sprünge.

Sie kommen zu ihrem Haus, einer verlassenen Scheune mitten in den Weinbergen und Kastanienbäumen neben dem Weg, der zum Monte Generoso führt. Das Kind hat dem Papa mit ein bisschen Spucke die Haare gewaschen. Dann haben sie sich auf Chinesisch unterhalten, und das Kind hat eine kleine Bergnelke gepflückt, die chinesisch spricht.

«Da, diesen Moment habe ich schon gesehen. Du, wie du mich so anschaust», sagt das Kind.

«Wie meinst du das, hast du schon gesehen?»

«Ich weiss nicht, es sind Momente, die sich wiederholen.»

Das Kind hat ein weisses Schneckenhaus, eine Handvoll Brombeeren und die roten Früchte der Kornellkirsche gesammelt, Beeren, die Ende August reifen. Sie hat den Hühnern die noch grünen Trauben des Weinstocks hingeworfen. Jetzt versucht sie, auf einem Grashalm zu blasen, den sie zwischen die beiden Daumen gespannt an ihre Lippen hält.

Auch am letzten Sonntag, als ihr Vater sie an einem Tisch im Wirtshaus hinter der grünen Gazosaflasche betrachtete, hatte sie unter ihrem Chicco-dʼOro-Hütchen gelacht. Dann war sie nachdenklich geworden, hatte gesagt:

«Da, jetzt. Wir sind schon einmal so dagesessen. Die Dinge wiederholen sich.»

Der Vater legt sich neben der Scheune ins Gras und betrachtet die Halme, die sich am Spätnachmittag näher herunterbeugen. Er erinnert sich an einen Spaziergang, den er vor vielen Jahren auf diesem Weg gemacht hat. Er war mit Silvana und Renzo beim Beerensammeln. Die gleichen Beeren, die seine Tochter jetzt verwendet, um Halsketten zu machen.

«Was mag aus Silvana geworden sein?», denkt der Vater, im Gras ausgestreckt. Er war mit ihr in den alten, stillgelegten kleinen Bahnhof am Rand der Felder gegangen wie in einem amerikanischen Film; sie aber wollte lieber Beeren pflücken.

Und Renzo? Eine Medaille, mit grau gewordenem Gesicht und leicht verwegener Baskenmütze. Er sieht ihn weit weg und klein, im Spiegel der Bar, wo er ihm das letzte Mal begegnet war: da ist sein Bild, hinter den Aperitif-Flaschen, mit einem beschlagenen Lächeln. Er sieht das Haus im Dorf wieder, wo Renzo sich in Gesellschaft einer Ziehharmonika niedergelassen und wo er ihm die Geschichte des Sakristans aus dem letzen Dorf oben im Tal erzählt hatte, einem, der Die Verlobten seitenweise auswendig konnte: er war fasziniert von Einzelgängern, der Renzo. Einmal hatte er ihm seine Aufzeichnungen gezeigt. Ein Satz fällt ihm ein: «Die Natur ist keine gute Mutter.» Wo hatte Renzo es hergenommen, dieses Zitat? Aus einem Kalender? Aus einem Buch? Oder stammte der Satz von ihm selbst? Dieser Junge verstand von allem ein bisschen was und lehnte Spezialisierung ab. Aber um zu leben, muss man sich spezialisieren. Das ist es, Renzo konnte mit seinem Leben nichts anfangen. Bei der Beerdigung hatte der Pfarrer gesagt, dass ihn die schlechte Gesellschaft ruiniert habe. Eine dumme Pfaffenpredigt. Warum hatte Renzo sich bloss umgebracht? Und warum hatten er und Silvana sich nicht geliebt?

«Hilfe», schreit das Kind von ihrem Haus aus. Wie schön wäre es, diese Scheune mit dem Rosmarin davor zu besitzen und jeden Tag mit dem Vater auf diese Wiese zu kommen, um auf Grashalmen zu blasen!

Jetzt hat sich das Kind die Beeren um den Hals gelegt, eine Kette, die stärker leuchtet im letzen Sonnenlicht.

Schattenblüten

Подняться наверх