Читать книгу Die Gleichgültigen - Alberto Moravia - Страница 4
ОглавлениеKAPITEL 2
Unter dem dreiarmigen Kronleuchter funkelten im Schein dreier kleiner Lichtkegel der weiße Block des Tisches, das Geschirr, die Gläser, die Karaffen, einem Marmorklotz gleich, der von den Steinmetzen noch kaum bearbeitet wurde. Hier und dort ein wenig Farbe, der Wein war rot, das Brot braun, eine grüne Suppe dampfte in den Tellern. Aber das strahlende Weiß machte das alles zunichte und glänzte makellos zwischen den vier Wänden, wo sich die übrigen Dinge, die Möbel und die Bilder, in einem einzigen matten Halbdunkel verloren. Carla saß schon an ihrem Platz, den abwesenden Blick starr in den Dampf der Speise gerichtet, und wartete ohne jede Ungeduld.
Als Erste von den dreien trat die Mutter herein; den Kopf zu Leo zurückgewandt, der hinter ihr ging, erklärte sie gerade in exaltiert ironischem Tonfall: »Man lebt nicht, um zu essen, sondern man isst, um zu leben … Sie hingegen tun das Gegenteil, Sie Glücklicher.«
»Aber nicht doch …«, erklärte Leo beim Hereinkommen und berührte mit einer misstrauischen Geste und aus reiner Neugier den bestenfalls lauwarmen Heizkörper, »Sie haben mich falsch verstanden, ich sagte, wenn man etwas tut, darf man dabei nicht an etwas anderes denken; wenn ich arbeite, zum Beispiel, dann denke ich nur ans Arbeiten, und wenn ich esse, nur ans Essen und so weiter, dann ist alles in Ordnung …«
»Und wenn du stiehlst?«, hätte Michele gern gefragt, der nach ihm kam. Aber er konnte einen Mann, den er gegen seinen Willen beneidete, nicht hassen. »Im Grunde hat er recht«, sagte er sich, während er zu seinem Platz ging, »ich denke zu viel.«
»Sie Glücklicher«, wiederholte die Mutter sarkastisch, »bei mir hingegen läuft alles schief.« Sie nahm Platz, setzte eine würdevolle Leidensmiene auf und rührte mit gesenktem Blick in der Suppe, um sie abkühlen zu lassen.
»Und warum läuft alles schief?«, fragte Leo, als er sich seinerseits setzte. »Ich an Ihrer Stelle wäre doch glücklich: eine hübsche Tochter, ein intelligenter Sohn mit aussichtsreicher Zukunft …, ein schönes Haus …, was will man mehr?«
»Sie verstehen mich schon richtig«, entgegnete die Mutter mit einem schwachen Seufzer.
»Ich? Nein, selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen für dumm gehalten zu werden, muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts verstehe.« Die Suppe war alle. Leo legte seinen Löffel ab: »Außerdem seid ihr alle unzufrieden …, glauben Sie nicht, Signora, Sie seien die Einzige. Soll ich es Ihnen beweisen? Nun, Carla, sag die Wahrheit, bist du zufrieden?«
Das Mädchen hob die Augen; dieser leutselige, Gutmütigkeit heuchelnde Ton verschärfte ihre Ungeduld. Hier saß sie wie all die anderen Abende an der Familientafel, die üblichen Diskussionen, die üblichen Themen, je länger, desto unerträglicher, und vor allem dieses übliche illusionslose und hoffnungslose Licht, so gewöhnlich, so abgenutzt wie der Stoff eines viel getragenen Kleidungsstücks und so untrennbar von den gewohnten Gestalten, dass sie manchmal, wenn das Licht über dem Tisch plötzlich angeschaltet wurde, schon die vier Gesichter im trüben Lichtkreis zu sehen meinte, das ihrer Mutter, das des Bruders, das von Leo und ihr eigenes. Da waren sie, die ewigen Begleiter ihrer Langeweile, und nun kam Leo daher und traf sie, wo ihre Seele besonders schmerzte. Doch sie beherrschte sich: »Es könnte in der Tat besser gehen«, gab sie zu und senkte erneut den Kopf.
»Na also«, rief Leo triumphierend, »habe ich es Ihnen nicht gesagt …? Auch Carla …, aber damit nicht genug …, selbst Michele, keine Frage … Nicht wahr, Michele, bei dir läuft doch ebenfalls alles schief?«
Auch der Junge sah ihn zuerst an, bevor er antwortete. »Jetzt müsste man ihm ordentlich Bescheid sagen, ihn beschimpfen, einen richtigen Streit vom Zaun brechen und sich am Ende mit ihm überwerfen.« Jedoch fehlte ihm die Aufrichtigkeit; bloß tödliche Ruhe, Ironie, Gleichgültigkeit.
»Könntest du es nicht einfach lassen«, sagte er ruhig, »du weißt doch besser als ich, wie die Dinge laufen.«
»Ach, der Schlaumeier«, rief Leo, »der Schlaumeier Michele will sich um eine Antwort drücken, dabei ist es offensichtlich, dass auch du unzufrieden bist. Sonst würdest du nicht ein Gesicht machen wie sieben Tage Regenwetter.« Er bediente sich aus der Schale, die ihm das Mädchen reichte, und fuhr fort: »Ich hingegen, meine Herrschaften, möchte betonen, dass es mir gut geht, sehr gut vielmehr, und dass ich äußerst zufrieden bin, sogar mehr als zufrieden. Sollte ich wiedergeboren werden, dann wollte ich als kein anderer wiedergeboren werden als der, der ich bin, mit exakt meinem Namen: Leo Merumeci.«
»Glücklicher Mensch!«, rief Michele in ironischem Ton; »aber sag uns wenigstens, wie du das machst.«
»Wie ich das mache?«, sagte Leo mit vollem Mund; »einfach so …, aber wollt ihr nicht vielmehr wissen«, fügte er hinzu, während er sich einschenkte, »warum ihr drei nicht so seid wie ich?«
»Warum?«
»Weil ihr euch über Dinge aufregt, die es nicht wert sind …« Er schwieg und trank; es folgte eine Minute des Schweigens; alle drei, Michele, Carla und die Mutter, fühlten sich in ihrer Eigenliebe gekränkt. Der Junge sah deutlich, wie er war, erbärmlich, gleichgültig und mutlos. Er sagte sich: »Ach, ich möchte dich einmal in meiner Lage erleben.« Carla dachte an das Leben, das sich nicht ändert, und an die Hintergedanken des Mannes. Sie hätte gern gerufen: »Ich habe wirklich Gründe«, aber von allen dreien war es schließlich die impulsive und redselige Mutter, die sprach.
In dieser allgemeinen Neigung zur Unzufriedenheit mit ihren Kindern auf eine Stufe gestellt zu werden, traf sie, bei der hohen Meinung, die sie von sich hatte, wie ein Verrat. Ihr Geliebter verließ sie nicht nur, sondern machte sich auch noch über sie lustig: »Von mir aus«, unterbrach sie endlich das Schweigen in jenem ironischen und hämischen Tonfall, mit dem man einen Streit anzettelt; »aber ich, mein Lieber, habe gute Gründe, nicht zufrieden zu sein.«
»Ich zweifle nicht daran«, sagte Leo.
»Wir zweifeln nicht daran«, wiederholte Michele.
»Ich bin kein Kind mehr wie Carla«, fuhr die Mutter mit zornbewegter Stimme fort, »ich bin eine Frau mit Erfahrungen, und zwar schmerzhaften Erfahrungen, oh ja, sehr schmerzhaften Erfahrungen«, wiederholte sie, erregt durch ihre eigenen Worte. »Eine Frau, die viele Unannehmlichkeiten und Probleme überstanden und es dennoch immer geschafft hat, ihre Würde zu bewahren und ihre Überlegenheit über die anderen, oh ja, mein lieber Merumeci«, brach es mit bitterem Sarkasmus aus ihr hervor, »alle anderen, Sie eingeschlossen …«
»Ich hatte nie daran gedacht …«, hob Leo an; nun begriffen alle, dass die Eifersucht der Mutter ihren Weg gefunden hatte und ihn auch bis zum Ende gehen würde; sie alle erkannten unwillig und angeekelt das jämmerliche Unwetter, das sich im ruhigen Licht des Abendessens zusammenbraute:
»Sie sind es, mein lieber Merumeci«, fuhr Mariagrazia fort und fixierte den Geliebten mit bohrenden Blicken, »der vorhin so leicht dahergeredet hat … Ich bin nicht eine ihrer eleganten und skrupellosen Freundinnen, die einzig ihr Amüsement im Kopf haben und sich so recht und schlecht durchschlagen, heute diesen, morgen jenen … Nein, Sie täuschen sich … ich fühle mich sehr, aber auch sehr verschieden von diesen Damen …«
»Das wollte ich nicht sagen …«
»Ich bin eine Frau«, fuhr die Mutter in wachsender Erregung fort, »die Ihnen und vielen Ihresgleichen Lebensart beibringen könnte, die jedoch das seltene Zartgefühl besitzt oder die Dummheit, sich nicht in den Vordergrund zu drängen und wenig von sich selbst zu reden, und deshalb fast immer verkannt und missverstanden wird … Aber darum«, und hier erhöhte sie die Frequenz ihrer Stimme noch einmal, »und weil ich zu gut, zu diskret, zu großzügig bin, aus all diesen Gründen, ich kann es nur wiederholen, habe ich nicht weniger als die anderen das Anrecht, mir zu verbitten, wann auch immer von wem auch immer beleidigt zu werden …« Sie warf noch einmal einen wütenden Blick in Richtung des Geliebten, senkte daraufhin die Augen und begann mechanisch, das vor ihr platzierte Geschirr und die anderen Gegenstände hin und her zu schieben.
Auf den Gesichtern der Beteiligten breitete sich die allergrößte Bestürzung aus: »Ich hatte doch nie im Leben daran gedacht, Sie zu beleidigen«, erklärte Leo ruhig; »ich sagte bloß, dass ich der Einzige unter uns bin, der nicht unzufrieden ist.«
»Versteht sich«, entgegnete die Mutter vielsagend, »dass Sie nicht unzufrieden sind.«
»Mama, jetzt sei doch vernünftig«, warf Carla ein, »er hat dich wirklich nicht beleidigt.« Nun, nach dieser letzten Szene, hatte das Mädchen eine entsetzliche Verzweiflung gepackt: Ein Ende machen, dachte sie mit Blick auf ihre kindische alte Mutter, die gesenkten Hauptes ihrer Eifersucht nachzuhängen schien, ein Ende mit alldem, um jeden Preis etwas verändern. Die absurdesten Lösungen schossen ihr durch den Kopf; weggehen, verschwinden, sich in der Welt verlieren, in Luft auflösen. Sie erinnerte sich der selbstgefälligen Worte von Leo: »Du brauchst einen Mann wie mich.« Das war das Ende: »Er oder ein anderer«, dachte sie, ihre Geduld war erschöpft. Ihr leidender Blick wanderte vom Gesicht der Mutter zu dem von Leo: Das waren die Gesichter ihres Lebens, hart, maskenhaft, verständnislos. Sie senkte die Augen auf ihren Teller, wo die Speisereste im geronnenen Fett der Soße erkalteten.
»Du«, befahl die Mutter, »hältst den Mund; du kannst das nicht verstehen.«
»Mein liebe, gnädige Frau«, protestierte der Geliebte, »ich habe genauso wenig verstanden.«
»Sie«, sagte die Mutter mit Nachdruck und zog die Augenbrauen hoch, »haben mich nur allzu gut verstanden.«
»Sei’s drum«, setzte Leo nach und zuckte mit den Schultern.
»Schweigen Sie doch, schweigen Sie doch endlich«, unterbrach ihn die Mutter verächtlich, »es ist besser, Sie sagen gar nichts mehr … An Ihrer Stelle würde ich versuchen, mich in Vergessenheit zu bringen, zu verschwinden.«
Stille; das Mädchen trat ein und trug das Geschirr ab. »So«, dachte Michele, als er den Zorn allmählich aus dem Gesicht seiner Mutter weichen sah, »der Sturm ist vorüber, jetzt wird das Wetter wieder schön.« Er hob den Kopf. »Und«, sagte er ohne jeden Anflug von Freude: »Ist die Angelegenheit jetzt erledigt?«
»Vollends«, entgegnete Leo bestimmt, »deine Mutter und ich, wir haben uns wieder vertragen.« Er wandte sich Mariagrazia zu: »Nicht wahr, wir haben uns vertragen?« Ein pathetisches Lächeln erschien auf dem Gesicht der Mutter; sie kannte diese Stimme und den einschmeichelnden Ton aus besseren Zeiten, als sie noch jünger und der Geliebte ihr treu gewesen war:
»Glauben Sie, Merumeci«, sagte sie und betrachtete eitel ihre Hände, »dass es so leicht ist zu verzeihen?«
Die Szene wurde sentimental; Carla zitterte leicht und senkte die Augen; Michele lächelte verächtlich. »Na bitte«, dachte er, »umarmt euch, und das war’s.«
»Verzeihen«, sagte Leo in possenhaft gravitätischem Ton, »ist die Pflicht eines jeden guten Christen.« (Der Teufel soll sie holen, dachte er unterdessen; zum Glück gibt es die Tochter, um mich für die Mutter zu entschädigen.) Er beobachtete das Mädchen unauffällig, ohne den Kopf zu wenden. Sinnlicher als ihre Mutter; rote, fleischige Lippen; sicher bereit, sich hinzugeben; nach dem Essen müsste er es versuchen; das Eisen schmieden, solange es heiß ist, nicht erst morgen.
»Nun«, sagte die Mutter, jetzt vollends beruhigt, »dann wollen wir christlich handeln und verzeihen.« Ihr bis dahin verhaltenes Lächeln breitete sich nun pathetisch und strahlend über zwei Zahnreihen von zweifelhaftem Weiß aus. Ihr ganzer verfallener Körper erschauerte: »Ach übrigens«, fügte sie in unerwarteter Mutterliebe hinzu, »wir dürfen nicht vergessen, dass Carla morgen Geburtstag hat.«
»Das feiert man doch jetzt nicht mehr«, sagte das Mädchen und hob den Kopf.
»Wir feiern ihn trotzdem«, antwortete die Mutter in gewichtigem Ton, »und Sie, Merumeci, können sich schon für morgen früh als eingeladen betrachten.« Leo deutete über dem Tisch eine Art Verbeugung an: »Es ist mir eine Ehre«, dann wandte er sich an Carla: »Wie alt wirst du?«
Sie schauten sich an. Die Mutter, die der Tochter gegenübersaß, hob zwei Finger und spitzte den Mund, als wollte sie »zwanzig«, sagen. Carla sah es, begriff und zögerte. Dann erfasste eine plötzliche Härte ihr Inneres: Sie will, dass ich mich jünger mache, damit sie nicht so alt erscheint. »Vierundzwanzig«, antwortete sie, den Gehorsam verweigernd, ohne rot zu werden. Enttäuschung glitt über das Gesicht ihrer Mutter.
»So alt schon?«, rief Leo in scherzhafter Verwunderung. Carla nickte und wiederholte: »So alt schon.«
»Das hättest du nicht sagen sollen«, hielt ihr die Mutter vor, und die bittere Orange, die sie zum Nachtisch aß, verstärkte noch ihren säuerlichen Gesichtsausdruck. »Man ist immer so alt, wie man aussieht, und du siehst nicht älter aus als neunzehn.« Dann schluckte sie das letzte Stück hinunter; die Orange war aufgegessen. Leo zückte sein Zigarettenetui und bot allen daraus an; fein erhob sich der bläuliche Qualm über den Resten der Tafel. Für einen Augenblick verharrten sie bewegungslos und schauten einander stumm in die Augen. Dann erhob sich die Mutter. »Gehen wir in den Salon«, sagte sie, und einer nach dem anderen verließen sie alle vier das Esszimmer.