Читать книгу Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr - Albrecht Gralle - Страница 6
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ОглавлениеWenige Wochen später war es dann so weit. Ein Sprinter rauschte an, mit einigen Sachen von Opa. Sein Bekannter hatte sich angeboten, ein paar Möbel für ihn zu transportieren. Opa kam erst am nächsten Tag in seinem eigenen Wagen, einem alten VW Passat Combi und drei Koffern und noch ein paar anderen Kleinigkeiten.
„Wir haben seine Wohnung noch nicht ganz aufgelöst, falls er es sich überlegt und wieder zurückziehen will“, meinte meine Mutter.
„Oder falls wir es uns überlegen“, sagte Sven.
„Dann muss er wieder zurück zu den Bibern“, sagte ich.
„Zu den was?“
„Na ja“, meinte ich, „Biberach ist doch die Stadt, wo es so viele Biber geben soll.“
Sven tippte sich an die Stirn.
In dem Sprinter waren zwei Stühle, sein Schreibtisch, ein kleines Tischchen und ein gewaltiger Ohrensessel aus dunklem Holz, mit rotem Samt ausgeschlagen.
„Sieht aus wie ein Thron“, meinte Sven.
„Den Schreibtisch braucht er, um seine Leserbriefe zu tippen und seine Seltsamkeiten zu sortieren“, sagte meine Mutter.
Wir sahen uns den Schreibtisch an und bekamen große Augen. Er war massiv und schwarz lackiert.
Der Fahrer grinste: „Das Teil ist geleimt und muss als Ganzes runter. Besorgt euch schon mal ein paar Leute. Ich hab mir mit einem Freund zusammen fast den Rücken kaputtgehoben.“
Zum Glück war noch unser Nachbar da, der ein Gestell mit Rädern hatte.
Zu viert bugsierten sie den Schreibtisch auf ein dickes Brett und schoben ihn, in Decken gehüllt, vom Wagen auf das Fahrgestell. Das ging noch.
Aber man musste ihn ein paar Stufen zur Einliegerwohnung hochtragen.
„Jedenfalls“, meinte Sven mit hochrotem Gesicht: „Der Schreibtisch ist ein Argument, dass Opa bleibt.“
Den roten Thron dagegen konnten zwei Männer bequem tragen.
Es war Frühling, als Opa am nächsten Tag kam, und meine Mutter hatte ihm auf seinen Schreibtisch eine Vase mit den ersten Tulpen gestellt.
Er sah sich die Vase an, deutete mit seinem Stock darauf und sagte nur: „Was soll denn das Gemüse hier?“
„Ein Willkommensgruß, Papa!“
Neben der Vase lag ein bunter Zettel, auf dem „Grüß Gott“ stand.
„Ich kann mit Blumen nichts anfangen, außer mit der Tabakpflanze.“
„In unserer Wohnung wird nicht geraucht“, sagte sie. „In deinem Reich kannst du natürlich machen, was du willst und weiter deine Gesundheit ruinieren.“
„Danke für deine frommen Wünsche, Annika.“
Da wir in der Nähe von Tübingen wohnten, sprachen wir ein leichtes Schwäbisch. Meine Mutter sowieso, ich auch. Nur mein Bruder dachte, er sei etwas Besonderes, weil er Theologie studierte. Deshalb bemühte er sich, auch zu Hause Hochdeutsch zu sprechen. Mein Großvater hatte für das Schwäbische noch nie etwas übrig gehabt, dabei war seine Frau eine Schwäbin gewesen, und er hatte sein halbes Leben in Biberach verbracht. Er stammte aus der Nähe von Leipzig, aber das Sächsische hatte er auch nie für voll genommen.
Obwohl ich noch nicht erwachsen war, merkte ich bei diesem kurzen Schlagabtausch zwischen meiner Mutter und ihm, dass es nicht langweilig werden würde.
Mit seinem Stock dirigierte er die Möbel an die richtigen Plätze.
„Willst du vielleicht ein Bild an die Wand?“, fragte meine Mutter.
„Was für ein Bild?“
„Irgendein Bild, das dir gefällt. Ihr habt doch zu Hause auch Bilder an den Wänden gehabt.“
„Die hat deine Mutter ausgesucht. Ich überleg mir‘s noch“, sagte er und ließ sich mit Ächzen auf seinem roten Thron nieder. „Ganz schön anstrengend, so ein Umzug“, sagte er.
„Besonders für die Leute, die deine Sachen schleppen“, sagte Sven und grinste.
„Sei nicht so frech!“, polterte Opa los.
Für eine Sekunde war es still, dann sagte meine Mutter: „Ach, Papa, das hat doch Sven nicht so gemeint. Soll ich dir helfen, deine Koffer auszupacken?“
„Nee, nee, lass man. Das mach ich lieber selber.“
„Na gut“, sagte meine Mutter, „um halb eins gibt es Mittagessen. Wenn du dreimal klingelst, wissen wir, dass es jemand aus der Familie ist. Ich habe zur Feier des Tages Salzkartoffeln, Gemüse und Hackbraten gemacht.“
„Na wenigstens nicht diese ewigen Spätzle“, sagte er.
Daraufhin schwieg meine Mutter, und wir ließen ihn allein.
Bisher hatte mich mein Großvater nicht richtig bemerkt. Ein kurzer Gruß am Anfang, das war alles. Nachher, beim Essen, wurde das dann anders.
Es klingelte dreimal. Opa marschierte mit seinem Stock in die Essküche und setzte sich ohne zu fragen auf meinen Platz. Etwas mürrisch setzte ich mich neben ihn. Bevor wir mit dem Essen anfingen, gab es eine gewisse Unsicherheit, bis meine Mutter sagte: „Wir beten vor dem Essen immer.“
„Ja, das habe ich schon befürchtet“, kommentierte mein Großvater, „fromm wie deine Mutter.“
„Du bist doch lutherisch getauft“, hielt meine Mutter dagegen, „und Martin Luther hat sicher auch vor dem Essen gebetet.“
„Ist ja gut, Annika.“
„Schweine beten vor dem Essen auch nicht“, sagte Sven, dem es Spaß machte, unseren neuen Gast zu ärgern. Vielleicht wollte er ihn damit auch nur loswerden.
Großvater schoss unter seinen buschigen Augenbrauen einen Blitz in Svens Richtung und sagte mit scharfer Stimme: „Hör mal gut zu, mein Junge, ich habe einen Weltkrieg überlebt und muss mir von einem pickeligen Studenten nicht ans Bein pinkeln lassen. Ist das klar?“
„Also bitte, Sven!“ Meine Mutter war leicht rot geworden.
„Außerdem“, fuhr Opa fort, „sollten wir alle etwas mehr Respekt vor den Hausschweinen haben. Sie bringen sich wenigstens nicht gegenseitig um. Also sind sie dem Menschen in einer Hinsicht überlegen.“
„Ich bete jetzt!“ Meine Mutter senkte den Kopf und betete: „Alle guten Gaben …“
Wir aßen schweigend, bis Großvater sich herabließ und das Essen kommentierte: „Die Kartoffeln sind zu mehlig.“
Beim Nachtisch, einem Apfelkompott, befasste er sich eingehender mit uns Kindern.
„Also, Sven. Was macht die Uni?“
„Hm“, überlegte er, „ich bin noch mit den Sprachen beschäftigt, Hebräisch und Griechisch, und mach was in Kirchengeschichte. Außerdem höre ich eine Einleitung zu den biblischen Fächern. Dann gibt es noch ein Seminar über Philosophie …“
„Sven ist stinkfaul“, sagte Anna, „aber schlau. Der kriegt ohne Lernen gute Noten. Das find ich gemein.“
„Stimmt“, nickte Sven. „Warum soll ich lernen, wenn man die Sachen von Anfang an kapiert?“
„Und du bist also das fleißige Lieschen?“, fragte Elias Anna.
„Nein, ich heiße Anna. Ich kapier die Sachen jedenfalls nicht gleich und muss das üben. Aber die meisten Wörter kann ich fast schon lesen …“
„Ja“, sagte ich. „Aaaaalllleeee meeeiiiine Eeeentchchchcheeen.“
„Blödmann! Wir lernen gleich ganze Wörter und nicht so doofe Buchstaben. Haustür kann ich schon auf einen Schlag lesen.“
„Und deine Lieblingsfächer?“
„Erdkunde. Und später will ich unbedingt Französisch lernen. Englisch kriegen wir dann sowieso.“
„Französisch kann ich auch noch“, meinte unser Großvater.
„Wirklich?“
„Ja, ich war im Krieg in Frankreich. Da lernt man das zwangsläufig. J‘espère que nous allons vivre bien ensemble.“
„Ich hoffe, dass wir … ähm …“, fing Sven an.
„… gut zusammenleben werden“, fuhr Opa fort.
Dann fragte Sven mit seiner freundlichsten Stimme: „Stimmt es, dass du bei der Lufthansa warst, Opa?“
„Ja.“
„Könntest du uns nicht einen Flug besorgen und …“
„Sven!“ Der strafende Blick meiner Mutter.
Opa richtete sich auf: „Ach so! Jetzt kapier ich’s, Annika! Hab mich schon gewundert, wie du die Kinder überredet hast, mich aufzunehmen. Du hast sie mit möglichen Flügen geködert, damit sie den Alten ertragen.“ Er stieß mit seinem Stock, der an der Wand gelehnt hatte, kurz auf, dass wir zusammenzuckten.
„Aber da habt ihr euch geschnitten. Aus Billigflügen wird nichts.“
Meine Mutter kniff ihren Mund zusammen und sagte: „Also Papa! Ich hab die Kinder mit nichts geködert. Das mit den Flügen war einfach eine Idee von Sven. Jungs sind nun mal so, dass sie alles Technische …“
Elias fuhr mit seiner Hand durch die Luft. „Erledigt, ich weiß Bescheid!“
Dann richtete sich sein Blick auf mich.
„Und du, René?“
Ich blickte auf. „Ich?“
„Ja, du. Du bist doch ziemlich patent und hast es bestimmt faustdick hinter den Ohren.“
Patent kannte ich nicht, ein seltsames Wort. Es hörte sich an, als ob man es in eine Schachtel legen konnte. Und was sollte Faustdick hinter den Ohren bedeuten?
„Ja“, sagte Sven, „er wäscht sich nicht gerne hinter den Ohren.“
Großvater Elias beachtete die Zwischenbemerkung nicht und fuhr fort: „Und wie läuft die Schule?“
Ich zuckte die Schultern. „Na ja, es geht.“
„René ist seit einem Jahr im Gymnasium“, sagte meine Mutter. „Im Uhland-Gymnasium.“
„Hoffentlich bleibt er dabei“, sagte Sven.
„Warum? Ist er nicht so intelligent wie du?“
„Das ist das Problem“, nickte Sven.
„Aber ich hab in Religion und in Musik eine Eins“, verteidigte ich mich.
„Das sind ja zentrale Fächer!“ Großvater hustete. Oder lachte er? Ich merkte, dass er vorher geraucht hatte, weil ich neben ihm saß.
„Und ich kann schon kleine Geschichten schreiben“, sagte ich schnell, „und ich habe ein Gedächtnis wie ein Tesafilm.“
„Aha“, brummte Großvater. „Kannst mir ja die eine oder andere Geschichte mal vorlesen. Kennst du Hermann Hesse?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Und ihr?“ Großvater blickte in die Runde.
Sven hatte den Kopf gesenkt, aber ich wusste, dass er mit seinem neuen Handy im Internet war und den Namen eingegeben hatte.
Plötzlich blickte er auf und sagte: „Hermann Hesse war ja ein deutscher Schriftsteller, 1877 in Calw geboren, Literaturnobelpreis 1946.“
„Donnerwetter!“, rief Opa Elias. „Schlaues Bürschchen …“
„Na ja“, meinte Sven, „man tut, was man kann.“
Großvater schwieg und griff in seine Westentasche. Wir schauten uns an und überlegten, was jetzt wohl kam.
„Schlaues Bürschchen“, wiederholte Anna kichernd.
Schließlich förderte er einen zerknitterten Zeitungsausschnitt zutage und sagte: „Übrigens, ich sammle schon seit Jahren merkwürdige Nachrichten.“
„Ja, ich weiß, Papa.“ Meine Mutter klang so, als habe sie das befürchtet.
Opas Stimme wurde lebhafter, als er weiterredete: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was alles auf der Welt passiert. Die absurdesten Sachen. Ich gebe euch mal eine Kostprobe.“
Er strich das Papier glatt, zog seine Lesebrille aus seiner Brusttasche, setzte sie sich umständlich auf und las, während es irgendwo leise klapperte. Meine Mutter sagte mir später, das sei sein Gebiss, das nicht richtig festsaß.
„Friedrichshafen, zweiundzwanzigster März. Überschrift: Klassenarbeiten im Abfalleimer. Wie der Redaktion zugetragen wurde, befanden sich die korrigierten Arbeiten der Klasse 7 C des Hindenburggymnasiums nicht in der Schule, sondern in einer Mülltonne. Folgendes war geschehen: Einer der Lehrer, der auf dem Weg zum Unterricht war, hatte von seiner Frau den Müllbeutel in die Hand gedrückt bekommen, um ihn an der Straße zu entsorgen. Noch ganz in Gedanken, entsorgte er aber stattdessen die Aktentasche in der Mülltonne und kam mit dem Abfallbeutel in der Schule an. Durch das beherzte Eingreifen einiger Schüler der Klasse 7 C wurde die Tasche in der Mülltonne entdeckt und dem rechtmäßigen Besitzer ausgehändigt. Der Fall war das Tagesgespräch der Schule. Der Direktor versicherte unserer Zeitung, dass es ein einmaliger Fall von Verwechslung war und der Kollege ansonsten korrekt seine Arbeit ausführe.
Na? Was haltet ihr davon?“
Wir hatten schon während des Artikels gegluckst und gelacht.
„Hast du noch mehr Artikel von der Art?“
„Oh ja. Er hat mindestens vier oder fünf Leitzordner voll“, sagte meine Mutter.
„Sechs“, verbesserte Opa. „Jetzt bin ich aber müde und muss mich etwas hinlegen. Tut mir leid, dass ich in der Küche nicht helfen kann.“
„Tut es dir wirklich leid?“, fragte Sven.
„Ein bisschen.“ Er stand auf. „Jedenfalls, das sehe ich schon, werden wir interessante Gespräche führen. Und wundert euch nicht, wenn ich gelegentlich auf meiner Schreibmaschine tippe.“
Er wartete nicht ab, was wir dazu meinten, und humpelte davon.
Als die Haustür ins Schloss fiel, fragte Anna: „Und warum sammelt er diese … diese komischen Nachrichten?“
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Er fing vor zwanzig Jahren damit an, da war ich gerade noch zu Hause. Und am Anfang fanden wir es alle ganz lustig, aber mit der Zeit … na ja, ihr werdet es selbst sehen.“
„Habt ihr ihn denn nie gefragt, warum er das macht?“, meldete sich Sven.
„Natürlich. Aber er ist uns immer ausgewichen und hat so allgemein geredet, dass er es eben interessant fände, was es so alles gibt. Aber es muss etwas dahinterstecken, sonst würde er es nicht schon so lange machen.“
Sie dachte nach und sagte dann zu Sven: „Und bitte sei nicht so frech zu ihm. Er ist unberechenbar und kann jähzornig werden, wenn man ihn reizt.“
„Ja, ja, er hat ja auch schon einen Weltkrieg überlebt. Aber was soll ich machen, wenn er unverschämt wird? Wie hast du es nur zu Hause ausgehalten?“
„Die Berufstätigkeit der Männer ist ein Segen“, sagte sie, und ich verstand nicht ganz, was sie damit meinte. Aber sie fuhr gleich fort: „Sven! Er ist ein alter Mann. Du kannst ihn nicht ändern. Wir haben schon alles ausprobiert. Und bei dem Thema Glauben kann er manchmal direkt ausfallend werden. Am besten gar nicht groß darauf eingehen, dann beruhigt er sich.“
„Da würde ich mir an seiner Stelle verarscht vorkommen.“
„Also bitte, Sven, deine Wortwahl ist wirklich ordinär! Woher hast du das bloß?“
„Ich rede völlig normal. Du musst mal hören, was andere so sagen. Dagegen bin ich der reinste Musterknabe.“
„Aha!“
Mit diesem Kommentar beschlossen wir das Essen. Zum Glück war Anna mit dem Ausräumen der Spülmaschine dran. Um die Teller wegzuräumen, musste sie allerdings auf einen Stuhl steigen.