Читать книгу Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr - Albrecht Gralle - Страница 7

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Mitten in der Nacht wurde ich wach. Es war, als ob in den Wänden Tiere wären, die hin- und hertrippelten. Vielleicht Mäuse? Sie trippelten eine Zeitlang, waren still, als ob sie lauschten, dann rannten sie wieder los.

Ich fand es ein bisschen eklig, dass Tiere in unserem Haus waren und Lärm machten. Warum hatte ich sie nicht früher gehört? Vielleicht nagten sie die Holzbalken an, und eines Tages würde dann das ganze Haus zusammenbrechen. Zum Glück stand mein Bett an der Wand, da war es am sichersten. Aber trotz der Mäuse schlief ich dann doch wieder ein.

Morgens, beim Frühstück, saß Opa fertig angezogen und rasiert wieder auf meinem Platz und ließ sich von meiner Mutter bedienen.

„Der Kaffee kann ruhig ein bisschen stärker sein“, meckerte er. Meine Mutter tat so, als ob sie ihn nicht hörte, und fragte: „Wie hast du geschlafen, Papa?“

Er schlürfte lautstark seinen Kaffee und sagte: „Geht so. War eine Zeitlang wach und habe getippt.“

„Was hast du denn getippt, Opa?“, fragte Anna. „Schreibst du ein Buch?“

„Inzwischen könnte es fast ein Buch sein“, brummte er.

„Opa schreibt Briefe an die Zeitung“, sagte meine Mutter und holte ein neues Marmeladenglas. Sie sah ihren Vater an und fuhr fort: „Obwohl es mir schleierhaft ist, was du da schreibst. Du bist doch gestern erst angekommen …“

„… und hab gestern schon euer Käseblatt durchgelesen. Abgesehen von den zahlreichen Schreibfehlern gab es einiges zu bemerken. Wo ist eigentlich Sven?“

„Schon weg“, mampfte ich.

„Erst schlucken, dann reden, und jetzt das Ganze in einem richtigen Satz!“

„Wieso?“ Ich sah ihn erstaunt an. „Was denn für einen Satz?“

„Subjekt, Prädikat, Objekt, eben ein vollständiger Satz“, erklärte Opa, „nicht solche hingeworfenen Halbsätze. Also: Sven ist gegangen. Wohin? Zur Universität.“

„Aber Opa“, sagte ich, „das hört sich doch komisch an: Sven ist gegangen zur Universität. Es heißt doch: Sven ist zur Uni gegangen, und dann ist doch das Verb am Schluss!“ Ich merkte, wie meine Mutter kurz grinste, aber sofort wieder damit aufhörte.

Opa presste aus irgendeinem Grund die Zähne oder sein Gebiss zusammen und sagte: „Das weiß ich auch. Das liegt an dem zusammengesetzten Verb. Im Deutschen steht dann das Verb am …“

„Sven musste schon los“, sagte Anna und blickte ihren Großvater glücklich an.

„Falsch!“, grunzte Opa. „Müssen ist ein Hilfsverb und kann nicht allein stehen. Es heißt: Sven musste schon losgehen.“

„Aber wir sagen doch auch: Ich muss aufs Klo“, warf ich ein.

„Das ist Umgangssprache!“

„Sind wir hier in der Schule?“, fragte meine Mutter. „Also bitte, Papa!“

„Annika, du lässt hier viel zu viel durchgehen. Meine Enkel sollen richtiges Deutsch sprechen.“

„Was ist denn ein Werb?“, fragte Anna. „Ist das was aus der Werbung?“

„Das ist ein … ein Tuwort“, erklärte Opa. „Das richtige Sprechen bringe ich euch im Laufe der Zeit noch bei.“

„Auf die Art werden sie es nicht lernen. Und wenn du sie so anmachst, sagen sie lieber gar nichts, wenn du dabei bist.“

„Ich finde, Opa redet wie ein Ausländer“, sagte ich: „Sven ist gegangen zur Universität. Das ist ein ganz falsches Deutsch.“

„Zum Kuckuck!“, rief Opa und setzte seinen Becher etwas laut ab, sodass ein bisschen Kaffee danebenschwappte. „Ich lass mir von deinen Kinder nicht sagen, dass ich wie ein Ausländer rede!“

„Aber vorhin hat Opa gesagt …“, begann ich …

„Schluss jetzt, René. Er wollte damit etwas anderes klarmachen. Ihr könnt euch nach dem Essen von mir aus stundenlang über Grammatik unterhalten, aber nicht unbedingt in der Küche.“

„Was ist Gramaatik?“, fragte Anna.

„Wie die Sätze aufgebaut sind“, erklärte Opa.

„Das ist aber auch kein vollständiger Satz“, wollte ich sagen, aber ich kam nicht dazu, weil meine Mutter anfing zu husten, obwohl sie gar nicht erkältet war.

Danach verlief das Frühstück etwas ruhiger. Opa griff nach der Zeitung, und sein Kopf verschwand hinter den Blättern.

Obwohl Anna erst später Unterricht hatte, gingen wir zusammen los, weil wir dieselbe Richtung hatten. Sie traf sich dann mit einer Freundin im Pausenhof, bis ihre Stunde begann.

Wir hatten Religion. Das war ein Fach, wo ich ziemlich gut war.

Eigentlich gab es keine Geschichte in der Bibel, die ich nicht kannte. Herr Klinke, unser Religionslehrer, war auch ganz nett. Er war Pfarrer und musste in der Schule Unterricht geben. Vielleicht machte er es ja auch freiwillig. Meistens war es langweilig, aber ab und zu hatte er auch gute Ideen. Das Komische an ihm war, dass er die Worte so seltsam betonte. Plötzlich sagte er etwas ganz laut und dann wieder leise.

Meine Mutter meinte, das hinge mit dem Predigen zusammen. Manche Pfarrer denken, sie müssten irgendwie geschwollen daherreden. Jedenfalls war er diesmal guter Laune und vergaß alles Geschwollene.

„Heute machen wir mal ein Bibelquiz.“

Paul, dessen Vater bei der Bank arbeitete, meldete sich: „Kann man da etwas gewinnen?“

„Ja“, nickte Herr Klinke. „Das wirkt sich auf deine Gesamtnote aus. Also, passt auf. Ich erzähle euch Geschichten, und ihr müsst herausfinden, ob sie in der Bibel stehen oder nicht, und wenn ja, wie sie heißen. Seid ihr bereit? Mirka, leg deinen Schokoriegel weg, den kannst du in der Pause essen.“

„Aber ich hab noch gar nicht gefrühstückt.“

Herr Klinke seufzte: „Einen Bissen, damit du was im Magen hast, und den Rest später. Zustände sind das!“

Wir warteten, bis Mirka ihren Bissen geschluckt hatte, und hörten zu.

Herr Klinke holte ein paar Blätter aus seiner Tasche und ging beim Lesen auf und ab.

„Es war vor langer Zeit, da lebte in einem Dorf ein Hirtenjunge, der passte auf die Schafe und Ziegen auf, und er hatte sich eine Schleuder gebastelt, um damit wilde Tiere zu vertreiben, wenn sie näher kamen. Einmal hatte er sogar einen Löwen damit in die Flucht geschlagen. Weil der Junge oft stundenlang nichts zu tun hatte, übte er sich im Schießen und konnte im Lauf der Zeit ganz gut zielen …“

„David und Goliath!“, rief ich.

Herr Klinke blickte mich überrascht an, und ich hatte den Eindruck, dass er nicht gerade begeistert war.

„Ja“, sagte er, „René hat recht. Wer kennt noch die Geschichte?“

Gabriel aus Afrika, das genaue Land konnte ich mir nicht merken, meldete sich. Sven sagte mir später, dass es Eritrea hieß. Ich hatte herausgefunden, dass seine Eltern Christen waren, aber nicht evangelisch oder katholisch, sondern irgendwas anderes. Ich fand es komisch, dass ein Junge, der von so weit herkam, sich in der Bibel besser auskannte als der Rest der Klasse. Meine Mutter sagte, dass im Grunde die meisten Leute in Deutschland Heiden seien, obwohl sie als kleine Kinder getauft worden sind. Und man könnte sich von den Flüchtlingen heutzutage eine Scheibe abschneiden. Obwohl mir nicht klar wurde, was für eine Scheibe das sein sollte. Selbst die Muslims kennen ein paar biblische Figuren, sagte sie, weil Mohammed, ihr Prophet, die biblischen Geschichten geklaut hat.

Aber das habe ich den Kopftuchmädchen in meiner Klasse noch nicht erzählt, weil ich mir dachte, dass es nicht so gut ankommt.

„Gut“, nickte Herr Klinke. „Ich erzähle die Geschichte trotzdem weiter, und ihr beiden Schlaumeier passt genau auf, weil ich irgendwo einen Fehler einbauen könnte.“

„René ist nur so schlau, weil er in so einer komischen Kirche ist“, sagte Paul, „wo sie die Bibel auswendig lernen müssen, und wenn sie es nicht können, werden sie verhauen!“

„Das stimmt überhaupt nicht!“, rief ich. „Wir haben eine Kinderbibel zu Hause, und meine Mutter liest mir abends daraus Geschichten vor.“

„Ach, das Muttersöhnchen muss noch ins Bett gebracht werden“, krähte Paul.

Jetzt wurde ich ein bisschen wütend und schrie: „Und dein Vater betrügt die Leute und zieht ihnen das Geld aus der Tasche.“

„Ruhe!“, donnerte Herr Klinke dazwischen. „Vor fünfzig Jahren wussten fast alle Kinder in Deutschland noch, wie die Geschichten aus der Bibel heißen, das war ganz normal, weil die Eltern sie ihnen erzählt hatten. Ich finde es großartig, wie Renés Mutter das macht. Wir leben nämlich in einem christlichen Land, und ihr solltet euch schämen, dass ihr kaum noch wisst, was das ist.“

„Kinderbibel ist doch was für Babys!“, schrie Paul.

„Ruhe, hab ich gesagt, sonst werde ich sehr ungemütlich! Ich erzähle euch jetzt die Geschichte weiter. Das gehört zur Allgemeinbildung, aber das Wort kennt ihr wahrscheinlich nicht.“

Es stimmte. Ich fand, dass „Allgemeinbildung“ ein seltsames Wort war. Es klang nach einem Ersatzteil für Automotoren.

Herr Klinke nahm seine Wanderung wieder auf und erzählte von David, wie er seinen Bruder in der Hauptstadt besuchte und erfuhr, dass ein riesiger Soldat von den Feinden Israels sich über Gott lustig machte. Aber keiner unternahm etwas. Da meldete sich David. Er wollte gegen Goliath kämpfen. Alle lachten ihn aus, weil der Riese Goliath einen Panzer trug und schwer bewaffnet war. Aber David nahm seine Schleuder, zielte auf seinen Kopf, und der Riese fiel tot um.

Bisher war mir noch kein richtiger Fehler aufgefallen.

Auch als die Geschichte zu Ende war, hatte Herr Klinke sie richtig erzählt.

„Ich hab keinen Fehler entdeckt, Herr Klinke“, sagte ich.

„Ich habe ja auch nur gesagt, dass ich einen Fehler einbauen könnte …“

Paul meinte, mit einer Gummischleuder könnte man keinen Riesen töten, aber Herr Klinke malte eine Schleuder an die Tafel, so eine von damals, die hatte eine Schlinge, und man musste sie im Kreis drehen. Und dadurch bekam der Stein eine wahnsinnige Geschwindigkeit.

„Mein Vater sagt, dass die Geschichten in der Bibel alle erfunden sind“, fing Paul wieder an.

„Das stimmt nicht. Die Bibel lügt nicht“, rief ich.

„Du hast ja keine Ahnung“, meinte Paul, „außerdem ist dein Vater tot.“

„Aber ich habe einen Opa, der ist bei der Lufthansa, und der kann uns jederzeit Flüge besorgen.“

Dazu fiel Paul nichts mehr ein, und Herr Linke kam mit einer zweiten Geschichte. Diesmal handelte sie von einem Mädchen, das so arm war, dass es Zündhölzer auf der Straße verkaufte, und zum Schluss kam es irgendwie in den Himmel, das heißt, nachdem es erfroren war.

„Und?“, fragte Herr Klinke. „Wer kennt diese Geschichte?“

Henriette aus der dritten Reihe meldete sich und sagte: „Das ist ein Märchen von Hans Christian Andersen.“

Wir blickten alle zu ihr hinüber, denn Henriette sagte sonst kaum was. Ich schaute ein bisschen länger hinüber, weil Leili neben ihr saß.

„Stimmt. Das war keine biblische Geschichte. Außerdem gab es damals zu biblischen Zeiten noch keine Zündhölzer …“

„Höchstens Feuerzeuge“, sagte ich.

„Auch die gab‘s noch nicht“, meinte Herr Klinke.

„Aber wie hat dann der Prophet Elia die Sache mit dem brennenden Altar hingekriegt?“

„Gott hat seinen Blitz in den Altar geschleudert, und dann hat alles gebrannt.“

„Hat dann Gott auch letzte Woche das Haus in der Mozartstraße angezündet?“, fragte Paul.

„So kann man das nicht sagen.“

„Aber mein Vater hat gesagt, das ist höhere Gewalt, also ist es Gott gewesen.“

Es klingelte, und ich glaube, dass Herr Klinke irgendwie froh war, dass er die Stunde beenden konnte.

Wir hatten dann noch Gemeinschaftskunde und Erdkunde und die letzte Stunde war Sport.

Unsere Lehrerin ließ uns vor dem Hochsprung drei Runden um den Sportplatz drehen, und ich passte auf, dass ich mal neben Leili lief und ihr „Hallo, Leili!“ zurufen konnte. Sie blickte kurz hoch und lächelte mich an. Ich wusste aber nicht, ob es so ein höfliches Lächeln war oder eines nur für mich.

Als wir nach Hause gingen, hupte es plötzlich auf der Straße, und ich sah den VW Passat von Opa an der Straße stehen.

Ich ging zu ihm hin und fragte: „Wartest du auf mich?“

„Natürlich, mein Junge“, sagte er und lächelte.

Das kam mir komisch vor. Warum wollte er mich abholen? Und warum lächelte er? Irgendwie sah sein Lächeln merkwürdig aus. Und das war etwas, worin ich mich auskannte. Ich hatte nämlich für mich eine Lächeltabelle angefangen. Ursprünglich hatte ich sie aufgeschrieben, um Leilis Lächeln besser zu verstehen und hatte im Lauf der Zeit zehn verschiedene Lächeltypen herausgefunden:

Lächeln 1:ein harmloses Lächeln über irgendwas Nettes.
Lächeln 2:ein gemachtes Lächeln, weil es von Erwachsenen erwartet wird, zum Beispiel, wenn Familienbilder gemacht werden oder weil es einfach höflich ist.
Lächeln 3:teuflisches Lächeln, wenn du siehst, dass dein ärgster Feind eine richtig miese Pechsträhne hat.
Lächeln 4:verliebtes Lächeln. Ein Mädchen lächelt dich an, weil es dich cool findet.
Lächeln 5:Mutterlächeln, weil sie ein Baby im Arm hält.
Lächeln 6:rätselhaftes Lächeln. Das Lächeln könnte alles bedeuten, du kommst nicht dahinter, warum der andere lächelt.
Lächeln 7:Zerstreutes Lächeln, das eigentlich kein Lächeln ist, sondern nur gemacht wird, weil einem nichts Besseres einfällt.
Lächeln 8:Spöttisches Auflachen (ein merkwürdiges Wort. Gibt es eigentlich auch ein Zulachen?). Wobei ich nicht weiß, ob Nummer acht noch ein Lächeln ist.
Lächeln 9:Strahlendes Lächeln, echt oder manchmal auch unecht.
Lächeln 10:Unnachahmliches, spezielles Lächeln von Leili

Ich war mir ziemlich sicher, dass Opa Elias das Lächeln Nummer sechs aufgesetzt hatte, immerhin besser als Nummer drei. Jedenfalls fragte ich Opa, nachdem sein Lächeln Nummer sechs vorbei war: „Hast du Anna auch schon abgeholt?“

„Nein, die ist selbst gekommen, und da kam ich auf die Idee, dich abzuholen. Steig ein, Enkel!“

Ich stieg ein und nahm mir vor, aufzupassen.

Er fuhr an, und wir schwiegen. Bei einer roten Ampel kratzte sich Opa am Kinn und sagte beiläufig: „Ach, da fällt mir ein … Wer ist eigentlich diese Frau, die neben euch wohnt? Ich hab sie heute Morgen zufällig gesehen.“

„Rechts oder links von uns?“

„Wenn man vor eurer Haustür steht, rechts.“

„Ach so, das ist Frau Mergenthaler.“

„Und die … also die lebt mit ihrem Mann ganz allein in dem großen Haus?“

„Nee, die ist ganz allein. Ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben, glaub ich. Ab und zu kommt ihre Tochter vorbei. Mama meinte, sie ist letzte Woche fünfundsiebzig geworden.

„Aha. Fünfundsiebzig“, murmelte Opa, „sieht aber aus wie sechzig.“

„Sechzig ist aber auch schon ziemlich alt“, sagte ich.

„Nicht für mich.“

Na ja, wenn man so alt wie Opa ist, dachte ich, dann kommen einem sechzigjährige Frauen wahrscheinlich wie junges Gemüse vor. Ich wartete darauf, dass noch irgendetwas kommen würde, aber es kam nichts. Opa war nur höflich und wollte sich nach einer alten Frau erkundigen.

Als wir zu Hause ankamen, war meine Mutter ganz gut gelaunt, weil Opa mich von der Schule abgeholt hatte. Sie dachte wohl, dass es lauter Freundlichkeit gewesen war, aber ich konnte das Lächeln Nummer sechs nicht ganz vergessen, das plötzlich verschwunden war, als ich zu ihm ins Auto gestiegen war, so als ob er es ins Handschuhfach gelegt hätte.

Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr

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