Читать книгу Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr - Albrecht Gralle - Страница 8
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ОглавлениеZufällig sah ich nachmittags, als ich meine Hausaufgaben machte, wie Opa, der etwas in der Hand hielt, zu dem Nachbarhaus hinüberging und bei Frau Mergenthaler klingelte. Er hatte seine ausgebeulte Strickjacke ausgezogen und ein Jackett an. Ich sah, wie unsere Nachbarin aufmachte und wie Opa ihr eine Schachtel überreichte, die wie ein Geschenk aussah.
Komisch, dachte ich, Frau Mergenthaler hatte doch letzte Woche schon Geburtstag gehabt. Ganz schön nett von Opa, ihr zu gratulieren. Vielleicht war Opa doch gar nicht so schlimm, wie wir alle dachten.
Als wir gegen sechs Abendbrot aßen, wir waren tatsächlich alle einmal anwesend, was nicht jeden Tag vorkam, fehlte Opa. Zehn Minuten später klingelte er und setzte sich gut gelaunt an den Tisch.
Meine Mutter blickte ihn kritisch an, weil er dieses Jackett trug, und mir fiel auf, dass er irgendwie nach Zitronen roch.
„Warst du auf einer Veranstaltung?“, fragte sie.
„Auf einer Veranstaltung?“, sagte er stirnrunzelnd. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na ja, dein Outfit. Du hast dich so … zurechtgemacht …“
„Auch in meinem Alter sollte man auf sein Äußeres achten.“
„Opa war bei Frau Mergenthaler“, platzte Anna heraus. Sie hatte ihn wohl auch gesehen. Ich hatte mich zurückgehalten, weil ich mir nicht sicher war, ob es Opa recht war, dass wir von seinem Besuch wussten.
„Bei Frau Mergenthaler?“, wunderte sich meine Mutter.
„Meine Güte, du tust geradeso, als ob es ein Weltwunder ist, wenn man mal die neuen Nachbarn begrüßt. Es ist doch einfach höflich, sich da mal vorzustellen. Ich bin schließlich nicht asozial!“
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, sagte sie.
„Im Übrigen hat sich Charl… Frau Mergenthaler ganz gut gehalten mit ihren fünfundsiebzig Jahren. Sieht aus wie sechzig.“
„Du bist ja gut informiert.“
„Na ja, sie hat erzählt, dass sie Geburtstag hatte, und da fragt man mal nach.“
Meine Mutter verstummte und war mit dem Essen beschäftigt. Als wir fertig gegessen hatten und in unsere Zimmer verschwanden, blieb ich noch kurz hinter der Küchentür stehen und hörte, wie meine Mutter sagte: „Du hast doch nicht etwa die Absicht, Frau Mergenthaler den Hof zu machen?“
„Was soll das heißen? Willst du mir verbieten, dass ich Frauen kennenlerne? Übrigens hat sie eine tadellose Figur!“
„Ich möchte nicht, dass Charlotte sich falsche Hoffnungen macht. Du weißt ja vermutlich, dass ihr Mann vor einem Jahr gestorben ist, und da ist man natürlich empfänglich für nette Worte und so weiter …“
Ich hörte, wie Opa auf den Tisch haute. „Das wird ja immer besser!“, polterte er.
Meine Mutter: „Nicht so laut, Papa!“
Opa: „Meine eigene Tochter will mir den Umgang mit tollen Frauen verbieten. Unglaublich! Was wäre denn dabei, wenn ich mich mit Charlotte befreunde?“
„Ach, ihr nennt euch auch schon beim Vornamen! Das ging ja schnell!“
„In meinem Alter macht man nicht viele Umwege, um zum Ziel zu kommen.“
„Und wie heißt dein Ziel?“
„Ich fange eine Beziehung mit einer netten Frau an, die einsam ist und sehr … anregend. Und wenn alles gut läuft, werde ich auch mit ihr Sex haben, wenn es das ist, was du befürchtest!“
Ich spürte förmlich, wie meiner Mutter die Worte fehlten. Es blieb ein paar Sekunden still, dann sagte sie: „Mit allem habe ich gerechnet, aber nicht, dass du, dass du …“
„He! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Annika. Ich bin nicht bereit, mich deinen säuerlich christlichen Moralvorstellungen unterzuordnen.“
Meine Mutter lachte kurz auf. Es war das Lächeln Nummer acht: spöttisches Auflachen.
„Funktioniert das überhaupt noch in deinem Alter?“, fragte sie.
„Soll ich jetzt in die Details gehen?“, begann Opa. „Es dauert natürlich etwas länger, bis das Blut in Wallung kommt und …“
„Hör auf“, seufzte sie. „Ich will das alles gar nicht wissen. So habe ich mir deinen Aufenthalt hier nicht vorgestellt.“
„Annika, beruhige dich. Es ist nichts Schlimmes passiert. Die Welt wird nicht untergehen, wenn ich eine Beziehung mit einer Frau beginne. Im Gegenteil, sei froh, dann gehe ich euch nicht auf die Nerven!“
Ich hörte, wie Stühle gerückt wurden, und schlich davon. Ich hatte genug gehört und war gespannt, wie sich die Geschichte mit Frau Mergenthaler und Opa weiterentwickeln würde.
Am nächsten Morgen wusste ich nicht, ob ich das Mäusegetrappel geträumt hatte oder nicht. Beim Frühstück sagte ich dann: „Bei uns gibt es Mäuse oder andere Tiere.“
„Was?“ Sven und meine Mutter blickten mich an. Anna war noch in ihrem Zimmer.
„Ich bin gestern Nacht davon aufgewacht. Da war so ein Trippeln.“
„Mich würde das nicht wundern“, meinte Sven. „Dieses Haus hätte im Grunde total überholt werden müssen.“
„Dann muss ich im Keller nachsehen, ob irgendwelche Packungen angeknabbert sind“, überlegte meine Mutter.
„Ich werde mal ein paar Mausefallen besorgen, dann sehen wir ja, ob es welche gibt. Oder es ist ein Marder oder ein Dachs. Die halten sich auch gerne in so alten Häusern auf.“
„Ein Dachs?“
„Ja. Warum nicht?“
Für mich waren Dachse fabelhafte Tiere. Wir hatten ein Buch, aus dem mir meine Mutter und früher auch mein Vater lange vorgelesen haben. Darin kam eine Flussratte vor, ein Kröterich, der dauernd angab und immer die neuesten Automodelle fuhr, es gab den langsamen, vorsichtigen Maulwurf, und es gab den Dachs. Das war der Chef von allen. Er wohnte im wilden Wald, und wenn es zu wild wurde, weil die Wiesel zu viel herumwuselten, sagte Herr Dachs zu der Ratte und dem Maulwurf: „Ich werde mal wieder eine Botschaft aussenden, damit im Wald Ruhe einkehrt.“
Gegen den Dachs kam niemand an. Er war es auch, der den Kröterich zur Besinnung brachte, aber nur für kurze Zeit. Die Angeberei konnte man ihm nicht austreiben.
Jedenfalls, ich fand es plötzlich großartig, dass ein Dachs bei uns wohnen sollte. Ich wollte ihn unbedingt sehen.
„Und … und was passiert, wenn der Dachs in die Mausefalle tritt?“, fragte ich.
„Der Dachs?“ Mein Bruder wischte meine Sorgen mit einer Handbewegung weg. „Der Dachs lacht nur über Mausefallen. Wenn er aus Versehen in eine hineintappt, beißt er mit seinen Zähnen das Ding durch.“
Ich war beruhigt und hätte es mir auch nicht anders vorstellen können.
„Ich weiß schon, René, warum du den Dachs magst“, sagte meine Mutter. „Du denkst an die Geschichten von der Ratte, dem Maulwurf und dem Kröterich, stimmt’s?“
Ich nickte, weil ich den Mund voll hatte.
„Trotzdem fände ich es nicht schön, wenn ein Dachs hier wäre. So ein Tier gehört doch in den Wald.“
Sven stand auf. „Das sollten wir ihm mal sagen. Aber vielleicht sind es ja Mäuse. Oder wir schaffen uns eine Katze an.“
„Nein! Keine Haustiere“, sagte meine Mutter. „Mir reichen drei Kinder und ein alter Mann.“
Diesmal war Opa nicht zum Frühstück erschienen. Und ich musste zur ersten Stunde, oder als vollständiger Satz: Ich musste zur ersten Stunde gehen.
Komisch. Obwohl Opa erst zwei Tage da war, hatte ich das Gefühl, dass immer etwas Aufregendes passierte, wenn er auftauchte.
„Oh nein!“, rief meine Mutter plötzlich.
„Was ist denn?“
Sie raschelte mit der Zeitung. „Sonst dauert es manchmal Wochen, bevor sie eine Nachricht in die Zeitung setzen, aber der Leserbrief von Opa ist schon drin.“
„Was schreibt er denn so?“
Sie antwortete nicht, sondern las: „Als eifriger Zeitungsleser, der erst vor kurzem hierhergezogen ist, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass in dem Artikel über das neue Straßencafé das Wort sitzen falsch gebraucht wurde. Es heißt nicht: Herr X ist auf seinem Stammplatz gesessen, sondern Herr X hat auf seinem Stammplatz gesessen. Ist gesessen wird zwar im süddeutschen Raum ab und zu gebraucht, ist aber falsch, genauso wie die bescheuerte Manie, das Genitiv-S im Deutschen mit einem Apostroph abzutrennen. Wir sind schließlich nicht in England! Werden Zeitungsartikel heutzutage überhaupt noch korrigiert? Falls Sie jemanden brauchen, der das gegen ein geringfügiges Taschengeld für Sie erledigt, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.“
„Das klingt, als ob Opa früher mal Lehrer gewesen wäre“, meinte ich.
„Ich glaube, er wäre gerne Lehrer geworden“, sagte meine Mutter, blickte auf die Uhr und rief in den Flur: „Anna! Wo steckst du denn? Frühstück!“