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1 Das weiße Klavier
ОглавлениеIn dem Zimmer einer Altbauwohnung stand ein Klavier halb vergessen in einer Ecke. Weil es mehr zur Dekoration diente und von menschlichen Fingern kaum berührt wurde, befand es sich seit Jahren in einer miserablen Stimmung. Die Saiten waren ausgeleiert, der Rahmen war verzogen, und wenn ausnahmsweise doch einmal jemand darauf spielte, hörte es sich an, als ob es Bauchschmerzen hätte.
Nun stand das Klavier mit seinem Stimmungstief auch noch ausgerechnet in einem Zimmer mit anderen Instrumenten zusammen, die durchaus in Gebrauch waren und häufiger in die Hände genommen wurden. Nur für das Klavier fand sich kein Spieler. Die anderen Instrumente seufzten jedes Mal genervt, wenn eines der Kinder zum Spaß darauf herumklimperte.
„Unerträglich“, quietschte die Klarinette und machte ihre Klappen zu.
„Das ist ja nicht auszuhalten“, brummte der Bass in der Ecke und drehte sich zur Wand.
„Eine Beleidigung für Empfindsame!“, hauchte die Blockflöte. „Und was wird erst passieren, wenn unsere Musiker in ein paar Wochen Weihnachtslieder spielen wollen? Auf diesem verstimmten Kasten? Unmöglich!“
„Phhh!“, zischte die Klarinette. „Dazu braucht man kein Klavier. Flöte, Klarinette und Bass genügen.“
Das Klavier war zwar alt, aber nicht dumm. Es bekam ganz gut mit, was die anderen sagten. Aber was sollte es tun? Es konnte seinen verzogenen Rahmen nicht alleine zurechtbiegen. Einmal hatte es das probiert, aber da ging ein lautes Knacken durch seinen Körper, und schnell hörte es mit seinen Dehnübungen wieder auf.
Es gab nur ein einziges Wesen, dem die Zustände des Klaviers nichts ausmachten: Das war eine junge Maus, die sich aus der Winterkälte in den Klavierkasten geflüchtet und es sich darin gemütlich gemacht hatte. Je weniger auf dem Klavier gespielt wurde, desto besser. Dann hatte die Maus ihre Ruhe. Sie fühlte sich im Bauch des Klaviers richtig wohl.
An den dicken Basssaiten konnte sie wunderbar hinaufklettern und wenn sie sich auf die höheren Saiten schwang, klangen immer geheimnisvolle Töne nach draußen.
„Habt ihr das gehört?“, fragte die Klarinette.
„Was denn?“, grummelte der Bass, der sich gerade bewundernd im Fenster spiegelte und in der Dämmerung sah, wie der erste Schnee fiel.
„So eine eigenartige Musik, die aus dem Klavier kam…“
„Ach, das bildest du dir nur ein“, meinte der Bass, „vielleicht schnarcht es nur.“
Aber die Blockflöte, die auf dem Notenständer lag und einen guten Überblick hatte, wusste Bescheid. „Im Klavier lebt eine Maus!“
„Was?“ Bass und Klarinette waren entsetzt.
„Es ist eine Zumutung, mit so einem halb vergammelten Instrument im selben Zimmer zu wohnen“, gab die Klarinette pikiert von sich.
„Womöglich nagt uns diese Maus noch an!“, schimpfte der Bass brummend und schüttelte sich, dass die Saiten klirrten.
„Tja“, hauchte die Flöte, „mit dem alten Kasten ist absolut nichts mehr los.“ Sie wandte sich an die Klarinette: „Wir sind da aus einem ganz anderen Holz geschnitzt, nicht wahr? Wir sind nicht so riesig und so kompliziert gebaut. Man kann uns überall hin mitnehmen. Ich sage immer: Man muss beweglich bleiben und nicht so schwer und behäbig sein wie ein Klavier.“
„Na ja“, meinte der Bass, der sich halb angesprochen fühlte, „man kann schon groß und dick sein und trotzdem beweglich bleiben!“ Damit drehte er sich elegant einmal um sich selbst.
Das Klavier schwieg, weil es diese trübsinnige Unterhaltung Wort für Wort mitbekam und inzwischen selber dachte, dass mit ihm nicht mehr viel los sei.
„Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen“, dachte es und ließ seine Saiten noch mehr hängen. „Irgendwann geht eben alles zu Ende“, sinnierte es weiter, „sterben müssen wir alle.“
Von da an gab es seinen Musikgeist auf und seine Saiten klangen nur noch stumpf und leer.
Aber dann kam Evelyn! Evelyn war eine gute Bekannte der Familie und hatte seit neuestem einen Freund, der ein Antiquitätengeschäft besaß, John hieß und ursprünglich aus Ghana kam.
Sein Lieblingsinstrument war das Klavier, denn er sagte immer: „Das Klavier ist der Beweis, dass es geht.“
„Das was geht?“, fragte Evelyn am Anfang ihrer Beziehung.
„Das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen. Du brauchst nur auf die Tasten zu blicken, und du merkst: Die weißen brauchen die schwarzen Tasten, sonst klingen die Akkorde eintönig und langweilig und die schwarzen brauchen die weißen Tasten, sonst kriegen sie keine vollständigen Tonleitern und Melodien hin.“
Jedenfalls kam Evelyn eines Tages in das Musikzimmer und verliebte sich in das ausgeleierte Klavier. Sie sah es sich an, erfuhr, dass die Klaviermarke immer noch gefragt war, kaufte es, beförderte die Maus nach draußen und schaffte das alte Stück in ihre Wohnung. Dann holte sie einen Klavierstimmer, der sich lange das Instrument ansah, abklopfte und schließlich sagte: „Hmm, ein gutes Klavier, doch ich befürchte, wir kriegen es nicht mehr so hin, wie es mal war. Aber ich kann es so stimmen, dass es insgesamt tiefer klingt und in sich stimmig ist. Vielleicht können wir seinen Geist zu neuem Leben erwecken!“
„Na, das ist doch wunderbar!“, rief Evelyn. „Was brauchen wir dauernd hohe Stimmungen? Ein bisschen tiefer ist sogar gemütlicher. Und ich bin sowieso ein Alt.“
Geduldig schmirgelte sie den Lack ab und strich es weiß an. Dem Klavier tat das gut und ein neuer Geist wehte durch seine Saiten. Als John mit ein paar Freunden vorbeikam, spielte er: „Nobody knows the trouble I‘ve seen“ und fing an zu improvisieren. Nach einer Weile sagte er: „Mann! Der Kasten hat Charakter! Da kommen diese neuen Modelle nicht mit.“
Seit dieser Zeit war das Klavier der Mittelpunkt des Zimmers. Evelyn fing an, ein paar Lieder für Ihre Weihnachstparty zu üben und sang dazu.
Besonders bei der Strophe: „… Ich stand in Spott und Schanden, du kommst und machst mich groß“, musste sich das Klavier richtig zusammenreißen, sonst hätte es geweint vor Freude, und das wäre nicht gut für seine hölzernen Innereien gewesen.
Schade, dachte es, dass die Klarinette, die Flöte und der Bass mich nicht sehen und hören können! Ich glaube, die würden gelb werden vor Neid.
* * *