Читать книгу Schneeflockenzeit - Albrecht Gralle - Страница 6

4 Meine Schwester Maria

Оглавление

Ich bin Zippora, Marias ältere Schwester. Zippora heißt Täubchen und war auch der Name von Moses Frau. Aber wie ein Täubchen hat sie sich nie verhalten. Sie muss ziemlich resolut gewesen sein. Immerhin soll sie Moses gezwungen haben, ihren Sohn zu beschneiden.

Und insofern fühle ich eine gewisse Zuneigung zu Zippora. Ich bin nämlich auch eher der zupackende Typ, ganz im Gegensatz zu Maria, meiner kleinen Schwester, die bis heute sehr zurückhaltend ist, fast schüchtern.

Eigentlich fiel sie kaum auf. Wir nahmen sie nie besonders ernst. Sie war weder frech, noch drückte sie sich vor der Arbeit. Angenehm unauffällig.

Letzten Endes hatte ich keine Ahnung, was in ihr vorging. Wenn wir zum Dorfbrunnen unterwegs waren und über alles Mögliche getratscht haben, war sie eher einsilbig gewesen. Nicht, dass sie meinte, sie sei über den Dorftratsch erhaben oder sie sei etwas Besseres, es fiel ihr einfach nicht genügend ein, was sie hätte sagen können.

Wir älteren Schwestern waren bald verheiratet und hatten unsere eigenen Familien und Maria war danach an der Reihe, sich zu verloben. Viele Verehrer hatte sie ja nicht und unsere Eltern waren froh, als ihnen Josef einfiel, ein junger Mann, weitläufig verwandt, den der Heiratsvermittler fragen konnte.

Er kam eines Tages, als ich gerade mit meiner Tochter zu Hause war, um sich unseren Eltern und Maria vorzustellen. Ein netter Mann, Bauhandwerker, freundlich. Ich sage nicht, dass er mich besonders beeindruckt hat, aber zu Maria passte er irgendwie. Sie war mit der Wahl einverstanden und wir feierten gleich die Verlobung, damit Josef am nächsten Tag wieder nach Nazareth zurückkehren konnte.

Bei uns ist die Verlobung schon eine Art Heirat nur mit dem Unterschied, dass man noch nicht zusammenwohnt.

Somit war also alles geregelt. Im nächsten Jahr sollte die Hochzeit sein.

Es war ungefähr vier Monate später, als Jakob, einer meiner Brüder, der in der Nähe wohnte, zu mir sagte: „Hast du es schon gehört?“

„Was denn?“

„Dass deine kleine Schwester schwanger ist?“

Mir fiel fast der Bratenspieß aus der Hand. „Maria ist schwanger?“

„Ja.“

„Habe ich die Hochzeit verpasst?“

„Nein.“

„Und du bist ganz sicher?“

Jakob blickte mich ernst an.

„Es ist das Dorfgespräch schlechthin“, sagte er.

Ich war geplättet. Die kleine, unscheinbare Maria. Schwanger! Jetzt war sie selber zum Tratsch am Dorfbrunnen geworden.

„Hm“, sagte ich, „hätte ich weder von ihr noch von Josef gedacht.“

Jakob seufzte: „Josef ist nicht der Vater.“

Mir blieb fast das Herz stehen.

„Was? Aber ... ich versteh nicht.“

„Was soll man da nicht verstehen? Du weißt doch, wie oft römische Soldaten durch unsere Dörfer kommen...“

Als Jakob gegangen war, konnte ich mich kaum beruhigen. Maria vor der Hochzeit schwanger und nicht von ihrem Verlobten! Eine Schande für die ganze Familie. Josef hätte sogar das Recht, sie steinigen zu lassen, denn Maria war nach unserem Gesetz eine Ehebrecherin. Aber das konnte nicht sein. Bestimmt hatte ihr ein Römer Gewalt angetan. Anders war es nicht zu erklären. Ich musste in unser Heimatdorf zurück und mit Maria reden und besprach alles mit meinem Mann. Von meiner Spontanreise wollte er nichts wissen. „Du reist mir nicht allein dorthin!“, sagte er.

„Werd ich auch nicht. Übermorgen machen sich die Viehhändler mit ihren Frauen auf den Weg in die gleiche Richtung. Ich werd mich der Gruppe anschließen.“

Und so kam ich wieder in unser Dorf. Meine Tochter ließ ich bei einer Freundin. Ich muss schon sagen, dass ich ziemlich gespannt war auf unser Gespräch.

Meine Mutter fiel mir weinend um den Hals, als ich kam. Ich konnte sie kaum beruhigen und dann traf ich Maria.

Und ich war … ja, wie soll ich es sagen? Ich war fast erschrocken, wie ruhig sie meinem Blick standhielt. Ungewöhnlich für Frauen. Wir lernen schon als Mädchen, dass man den Blick senken soll.

Nein, sie sah mir in die Augen und strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus.

Das brachte mich ein wenig aus dem Konzept. Ich hatte eine verheulte, eingeschüchterte Maria erwartet und jetzt das.

„Maria“, fragte ich, „was ist passiert?“

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einen Mann verführt hatte. Nein, nein, ausgeschlossen.

„Lass uns nach draußen gehen, Zippora“, sagte sie und nahm mich an die Hand, als sei ich die jüngere Schwester.

„Wo geht ihr hin?“, rief meine Mutter uns hinterher.

„Wir müssen reden, Mutter!“, sagte ich und sie verstummte.

Wir gingen über die abgeernteten Felder.

„Also, Maria“, fing ich an, „wer ist dieser Verbrecher, der unsere Familie Schande gemacht hat? Nenne mir seinen Namen und mein Mann wird ihn zur Rechenschaft ziehen.“

„Auch, wenn er ein Römer wäre?“, fragte sie. Dann schwieg sie.

„Maria“, sagte ich, „du musst uns den Namen nennen. Du brauchst ihn nicht zu schützen.“

„Er ist kein Verbrecher“, sagte sie, „er hat mich nicht überfallen, sondern vorher um Erlaubnis gefragt.“

Mein Mund wurde trocken. „Er hat dich um …? Du ... du hast eingewilligt, obwohl du mit Josef verlobt bist? Maria, ich erkenne dich nicht wieder.“

„Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte sie leise. Dann blieb sie stehen. „Zippora“, begann sie erneut, „hast du dir nie gewünscht, dass du den Messias zur Welt bringst?“

Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn jetzt?

„Klar, das wünscht sich doch jedes jüdische Mädchen“, antwortete ich.

„Siehst du? Und ich wurde gefragt, ob ich Gottes Sohn zur Welt bringen will. Und ich habe überlegt und dann ja gesagt.“

„Schön und gut. Und dann? Was hat der Mann dann mit dir gemacht?“

„Nichts.“

„Nichts? Aber …“ Kann es sein, dachte ich, dass Maria die Sache von Mann und Frau nicht mitbekommen hat? Aber nein. Sie lebt auf dem Land und weiß, wie die Ziegen zu ihren dicken Bäuchen kommen.“

Ich blieb stehen und nahm Marias Hand. „Jetzt mal ganz ehrlich Maria. Ich bin deine Schwester. Mir kannst du es sagen. Ich kann verstehen, dass du bei Mutter Hemmungen hast, aber bei mir?“

„Was willst du wissen, Zippora? Einzelheiten einer Zeugung?“

Wir gingen weiter.

„Ja aber, der Mann muss doch irgendetwas gemacht haben mit dir! Kinder entstehen nun mal nicht aus Luft und Liebe.“

„Der Mann, der mich gefragt hat, war ein Engel.“

„Okay, ein Engel …“

Maria seufzte. „Er sagte, die Macht des Allerhöchsten wird mich überschatten und ich werde einen Sohn zur Welt bringen, den ich Jeschuah nennen soll, das bedeutet: Gott rettet. Das war alles. Ich schwöre es dir. Ich habe es auch der Familie erzählt. Aber niemand glaubt mir.“

„Halt mal, ganz langsam“, sagte ich, „du behauptest allen Ernstes, der Höchste hätte dich … ähm … hätte in dich hinein ein Kind gelegt?“

„Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber danach war ich schwanger. Zwischen dem Engel und mir ist sonst nichts passiert.“

„Maria“, sagte ich, „du weißt, ich bin nicht gebildet, aber ich weiß von Jakob und anderen Männern, dass die Heiden an Jungfrauengeburten glauben und dass sie behaupten, dass ihre Kaiser und Helden von Göttern gezeugt seien, aber das ist heidnisch. Unser Messias muss nicht von einer Jungfrau stammen, das wäre ganz und gar unjüdisch.“

„Davon weiß ich nichts, Zippora. Ich kann dir nur sagen, was ich erlebt habe.“

Schweigend gingen wir weiter. Das musste ich erstmal verdauen. Schließlich fragte ich sie: „Und was sagt Josef dazu?“

„Ich weiß es nicht. Man wird es ihm wohl inzwischen mitgeteilt haben. Er wird sich überlegen, was er tun soll. Mich steinigen oder eine Scheidung im Stillen…“

Dazu fiel mir nichts mehr ein. Ich blieb stehen und nahm Maria in den Arm. Sie ließ es geschehen.

Und während wir so dastanden: zwei Schwestern, die miteinander aufgewachsen waren, spürte ich, dass Maria jetzt mehr für mich war, als eine Schwester. Sie war plötzlich eine Fremde geworden, eine erwachsene Frau mit einem Geheimnis. Und ich schauderte bei dem Gedanken, dass sie Recht mit allem haben könnte.

* * *

Schneeflockenzeit

Подняться наверх