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3 Wie Schneeflocken
ОглавлениеDu warst gerade achtzehn und hattest keine Ahnung, Lisa. Du hast dich einfach mitreißen lassen von den Demos. Weil es tierischen Spaß macht, hast du gesagt.
Weißt du noch, einmal hast du auch mal einen Pflasterstein geworfen, in der Berliner Straße. Aber er flog nicht weit, nur drei, vier Meter und landete in einem Vorgarten, genau zwischen den Sonnenblumen. Zwei davon knickten gleich um. Ich weiß noch, wie erschrocken du warst, Lisa.
Du hast seitdem nie mehr Sonnenblumen gekauft.
Auch später, bei der Brokdorfgeschichte, warst du dabei. Diesmal besser informiert. Wir saßen im Zug, und die Leute kamen von überall her, sogar aus Hannover. Es war, als ob wir zusammen einen Familienausflug machten.
Man redete die anderen mit Du an, auch die älteren Leute. Die Stimmung war großartig.
Der gemeinsame Marsch mit den Transparenten hatte so etwas Leichtes und Ernstes gleichzeitig. Unsere Welt hatte Konturen, Lisa. Wir wussten genau, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde waren ...
Weißt du, ich hab mich damals nie richtig getraut, dir zu sagen, dass ich dich mochte. Ich dachte, dass du es von selbst merkst, weil wir doch gemeinsam gearbeitet haben. Aber als du dann plötzlich mit Norbert aufgetaucht bist, eng umschlungen, gab mir das einen Stich.
Ich hatte immer gemeint, es bestehe eine unausgesprochene Abmachung zwischen uns. Aber wahrscheinlich hätte ich mit dir reden sollen. Ich war ganz schön wütend auf Norbert. Schon allein bei seinem Namen wurde mir schlecht, richtig körperlich schlecht. Und er hatte diese widerliche Angewohnheit, beim Reden völlig unmotiviert die Zähne zu blecken. Mir war schleierhaft, wie du so jemanden lieben konntest.
Dann kam der Abend, als wir zum fünften Mal Easy Rider im Kino gesehen haben. Norbert war schon gegangen, und du hast mich gefragt: Mensch, Georg, was ist eigentlich mit dir los? Da hab ich mich erst gewunden und so herumgeredet, aber du hast nicht nachgelassen, sondern so lange gefragt, bis ich es schließlich gesagt habe.
Und dann konnte ich mit dem Reden kaum aufhören. Alles kam hoch: mein Hassgefühl auf Norbert, meine heimliche Liebe zu dir, von der ich angenommen hatte, dass du sie gespürt hast, das Gefühl, betrogen worden zu sein und den Zeitpunkt verpasst zu haben ...
Du hast mich dann wortlos in eine Kneipe geschleppt, hast zweimal Bier bestellt, Hefeweizen, und wolltest alles ganz genau wissen.
Für mich war das so ungewohnt, weißt du. Ich konnte stundenlang über soziale Ungerechtigkeiten reden oder über Kernenergie, aber einer Frau zu sagen: Ich mag dich, das war... na ja, eben was völlig anderes.
Ich seh‘ noch, wie deine Augen immer größer wurden.
Aber warum hast du denn nie etwas gesagt?, fragtest du mich.
Ich dachte, dass du ... dass es klar war, dass wir uns mögen, habe ich leise herausgebracht.
Da hast du dein Bierglas laut auf den Tisch geknallt, und ein paar Spritzer sind auf die Tischdecke geklatscht.
Wenn ich das früher gewusst hätte! Du hast es fast geschrien und etwas leiser hinzugefügt: Mensch, Georg, wenn man jemanden liebt, muss man das doch irgendwann mal sagen.
Das kam mir so kleinkariert, so... so bürgerlich vor, meinte ich kleinlaut.
Ist es aber nicht, hast du gesagt.
Dann hast du gelächelt und mich gefragt: Weißt du, was mich interessieren würde?
Was denn?
Was dir an mir so gefällt.
Und ich hab dann alles Mögliche aufgezählt: dein Gesicht, das für mich schön und gleichzeitig ein wenig schelmisch wirkt, deine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, deine Art, so unbeschwert an Sachen ranzugehen und dass man mit dir total gut zusammenarbeiten kann. Na ja, Dinge in der Art eben.
Du hast dich einfach zu mir rübergebeugt und hast mich geküsst. Nicht nur so ein bisschen, sondern richtig lange. Ich glaube, für die Leute am Nebentisch war es schon peinlich. Zuerst war ich überrascht von diesem Spontankuss, aber dann habe ich es genossen, deine warmen Lippen zu spüren und den Duft deines billigen Parfüms. Zwischendurch fiel mir Norbert ein, aber ich habe sein Bild schnell wieder zur Seite geschoben und mich auf den Kuss konzentriert.
Als wir uns halb betäubt voneinander lösten und uns anblickten, habe ich dann doch gefragt: Und Norbert?
Du hast gelacht und mit deiner Hand den unsichtbaren Norbert über die Schulter geworfen. Einfach so.
Vergiss Norbert, hast du gemeint. Das war doch nur eine Verzweiflungstat.
Weißt du noch?
Jedenfalls, ich war sprachlos.
Als unser erstes Kind in die Schule ging, einundachtzig war das, haben wir sogar geheiratet. Damals, bei unseren Demos hätte ich glatt einen Lachanfall bekommen, wenn jemand zu mir gesagt hätte, dass ich einmal heiraten und ein eigenes Kind haben würde.
Familienvater, das klang so wahnsinnig etabliert. Aber für Jenni war es leichter, wenn ihre Eltern einen gemeinsamen Namen hatten.
Vielleicht wolltest du auch heiraten, weil du deinen Nachnamen nie mochtest, Lisa.
Klar, Winter, klingt schon besser als Nideregger mit einem D und zwei Gs. Und man muss Winter nicht dauernd buchstabieren. Von daher kam der obligatorische Doppelname für dich nie in Betracht.
Eigentlich wollten wir Jenni antiautoritär erziehen, aber irgendwie kamen wir damit nicht zurecht. Jemand sagte uns damals: Auch Eltern haben ein Recht zu leben.
Weißt du, Lisa, du hast Kindererziehung nie dogmatisch gesehen, sondern ich glaube, du hast es intuitiv richtig gemacht. Eines Tages hattest du die Schnauze voll und hast beim Frühstück auf den Tisch gehauen, dass die Tassen klapperten, weil Jenni sich schon wieder mit dieser widerlichen Mäkelstimme über das Essen beschwerte. Du hast sie richtig angebrüllt. Von da an ging es besser.
Eigentlich wolltest du auch kirchlich heiraten, aber das hätte ich damals nicht gebracht. Du warst so völlig frei von Vorurteilen und hast gesagt, es sei einfach feierlicher, und so etwas wie Gott muss es einfach geben ... Nein, nicht ganz ... du hast gesagt: Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.
Aber du hast mich dann nicht weiter bearbeitet. Das ist auch etwas, das ich an dir schätzte, Lisa. Hörst du mich, Lisa? Dass du damit leben kannst, wenn einer ganz anders denkt als du. Mir fällt das wesentlich schwerer. Wenn es Engel gibt, müsstest du einer sein.
Vierundachtzig kam unser zweites Kind: Armin. Und du hast dich dann freistellen lassen als Lehrerin. Bei Jenni haben wir uns noch die Arbeit zur Hälfte geteilt. Ich konnte das damals einrichten, weil ich beim Jugendamt gearbeitet habe.
Wir sind tatsächlich eine richtige Familie geworden. Du hast Wert darauf gelegt, Lisa, dass Jenni und Armin Musikunterricht bekamen und ich habe dich bewundert, wie du dir jeden Tag Zeit genommen hast, um mit ihnen zu üben.
Inzwischen kann Armin ganz gut auf der Gitarre spielen, wenn er mal Zeit hat, und Jenni kann sich auf ihrer Querflöte hören lassen.
Ich werde Jenni und ihren Freund morgen mitbringen, Lisa, damit sie dir etwas vorspielt. Vielleicht hilft das ja. Musik soll ja helfen.
Und dann kam der April sechsundachtzig, der Reaktorunfall in Tschernobyl. Das hat uns ziemlich aufgeschreckt und unser politisches Gewissen wachgerüttelt, das etwas eingeschlafen war. Ich weiß noch, wie hilflos ich mich fühlte, als wir davon hörten und am nächsten Tag die Kinder draußen spielten und vom Regen überrascht wurden. Es war eine apokalyptische Stimmung. Täglich verglichen wir die Becquerelwerte auf den Milchtüten. Wir aßen keine Haselnüsse mehr und keine Pilze. Die ersten Menüwitze tauchten auf: Heute strahlender Rehrücken.
Du bist dann später mit halber Stundenzahl wieder in den Schuldienst eingestiegen, Lisa. Ich weiß noch, wie aufgeregt du am Anfang warst, aber dann kamst du ganz gut rein. Mir war das sowieso klar. Ich glaube, Kinder spüren das, wenn eine Lehrerin sie mag.
Ach ja, fast hätte ich den November vergessen, neunundachtzig, als die ersten Leute aus Nordhausen rüberkamen. Du warst richtig euphorisch und hast darauf bestanden, eine Familie zum Essen einzuladen. Ich bin dann mit den Kindern losgezogen, in die Fußgängerzone, und hab eine Familie gefunden. Ich kam mir vor, wie ... ja wie ein Menschenjäger. Das Gespräch war ganz schön zäh, erinnerst du dich? Und die Leute fühlten sich dann verpflichtet, uns später ein Paket zu schicken.
Was soll ich noch von uns erzählen, Lisa? Wie wir allmählich in der Stadt Fuß gefasst haben und wie wir versuchten, uns im Arbeitskreis Asyl zu engagieren und dass du mit Begeisterung in der Kantorei mitgesungen hast, mich manchmal zu Gottesdiensten geschleppt hast und ich im Tischtennisverein meine überflüssigen Pfunde wegschwitzen wollte? Es war schon ein eigenartiges Gefühl, dich vorne in der Kirche zu sehen, wie du gesungen und gelächelt hast, als ob du deinem Gott persönlich ein Ständchen bringst. Auch da fällt mir nur das Wort Engel ein.
Nun sind wir mittlerweile mit unseren über sechzig Jahren ein älteres Ehepaar, oder nicht? Ich habe einen grauen Bart, und die Haare sind dünn geworden. Du hast ein paar Lachfalten mehr und klagst über deine Krampfadern.
Jenni kommt manchmal am Wochenende vorbei und sieht dir immer ähnlicher, findest du nicht? Sag doch was, Lisa!
Aber du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht willst. Ich werde weiter an deinem Bett sitzen und von uns erzählen. Der Stationsarzt hat gemeint, dass manche Worte und Sätze dich doch erreichen könnten. Jeden Tag werde ich kommen und werde dir etwas von uns erzählen. So ein Koma kann doch nicht ewig dauern. Vorhin, als ich von meiner Liebeserklärung in der Kneipe erzählt habe, da sah es so aus, als ob dein rechtes Augenlid gezuckt hat. Aber vielleicht war es auch nur Einbildung.
Ob du jetzt etwas erlebst, und du kannst es nur nicht mitteilen? Ist dein Geist irgendwo in anderen Orten gelandet, während dein Körper hier liegt? He! Ich will nicht, dass du bei den Engelchören bleibst, hörst du?
Deine linke Hand ist halb geschlossen, als ob du etwas Unsichtbares festhalten willst. Ich stell mir vor, dass sich die Zeit für dich anfühlt wie Schneeflocken, die durch deine Hände tropfen. Und du möchtest diese Schneeflockenzeit festhalten, möchtest deine Hand schließen, und es geht nicht. Aber es ist doch gut, wenn die Zeit vergeht, Lisa! Glaub mir! Lass sie einfach weiterlaufen. Dann können wir gemeinsam noch einiges erleben. Versuch nicht, sie festzuhalten!
Ich weiß, wenn du an meinem Bett sitzen würdest, dann würdest du für mich beten. Gerade jetzt, so kurz vor Weihnachten. Aber ich kann das nicht. Wahrscheinlich würdest du mich auslachen und sagen: Aber beten kann doch jeder.
Wie sollen wir überhaupt Weihnachten feiern ohne dich? Einer von uns wird die Weihnachtsgeschichte lesen, das verspreche ich dir, aber ein Gebet zu sprechen? Das können wir nicht. Deine Gebete waren so besonders, so frisch wie … ja eben wie frisch gefallener Schnee. Aber da fällt mir doch eins ein – ein Gebet: Gott, wenn du Lisa wieder aufweckst, dann möchte ich … Nein, nein, so ein Gebet würdest du ablehnen, keine Versprechungen unter Druck.
Weißt du, Lisa, ich ... ich möchte mit dir noch so viel unternehmen!
Warum wachst du nicht auf, Lisa? Ich brauch dich, hörst du mich?
* * *