Читать книгу Wie Sie garantiert in den Himmel kommen - und auch wieder heraus - Albrecht Gralle - Страница 5
Ab in die Hölle
ОглавлениеDas Wort Ausflug nimmt man dort, wo Sie sind, manchmal wörtlich. Ja, Sie können fliegen in der anderen Welt. Ohne Flügel. Was soll man mit Flügeln in einer geistigen Welt, die andere Vorstellungen von Raum und Zeit hat?
Andie nimmt Sie an die Hand. Sie schweben über die Bäume, das nette Gartenlokal bleibt unter Ihnen liegen und Sie kommen sich vor wie in einem Bild von Marc Chagall. Ihre Kleidung verwandelt sich in leuchtendes Blau. Sie fliegen geradeaus weiter, über einen Wald, über Gärten und Getreidefelder, bis Sie zu einem Steinbruch kommen. Eine Schlucht tut sich vor Ihnen auf und ein mulmiges Gefühl beschleicht Sie. Aber Andies Griff hält Sie fest. Im Sturzflug rasen Sie auf den Boden zu und bleiben vor dem Eingang einer Höhle stehen.
„Hier ist einer der Eingänge, wenn man hinunter will“, sagt Andie.
„Was?“, rufen Sie. „Da hinunter? Wieso gibt es denn in einer geistigen Welt oben und unten?“
„Oben und unten sind hier innere Zustände, geistige Entfernungen, die sich so ausdrücken. Jeder innere Zustand sucht sich hier die entsprechende Form. Je weiter wir uns von Gott entfernen, desto enger und dunkler wird es deshalb. Hier richtet sich das Wetter und die Landschaft nach deinem Innenleben.“
Ach so, denken Sie, wie in den kitschigen Romanen. Sie blicken immer weniger durch und verstehen überhaupt nichts mehr. „Wieso haben wir uns denn von Gott entfernt?“, fragen Sie. „Er war doch in dem Gartenlokal gar nicht anwesend.“
Jetzt muss Andie lachen und während er lacht, bebt der Boden und ein paar Felsbrocken lösen sich und fallen hinunter.
„Gott – ist hier überall. Wenn er nicht hier wäre, würde diese ganze Welt zu Staub zerfallen und auch dein materielles Universum, in dem du aufgewachsen bist. Alles hängt zusammen.“ So einen Satz müssen Sie erst mal verdauen, aber jetzt gibt es kein Zurück. Nur noch eine letzte Frage: „Komme ich aus der Hölle wieder … wieder heraus?“
Andie nickt. „Ja, wenn du dich in meiner Nähe hältst. Außerdem bist du noch unreif und für die Hölle nicht vorbereitet. Sie würde dich wieder ausspucken.“ „Was?“, rufen Sie erstaunt. „Man muss sich auch für die Hölle vorbereiten?“
„Klar“, sagt Ihr Schutzengel. „Himmel und Hölle sind letzte Zustände. Darauf muss man vorbereitet werden. Also, los geht‘s!“
Wieder nimmt er Sie bei der Hand, und Sie gehen jetzt einen schrägen Gang hinab. Es wird dunkel und nur ein schwaches Glimmen, das von Andie ausgeht, erhellt Ihren Weg.
Je tiefer es hinuntergeht, desto übler wird der Geruch. Es riecht nach Herrentoilette, die monatelang von Klofrauen bestreikt wurde. Eigentlich haben Sie keine Lust, weiterzugehen, aber Andie sagt: „Wir sind gleich da und befinden uns dann im oberen Bezirk, in dem Gäste zugelassen sind. Oder sagen wir mal: Diese gemäßigte Hölle ist der unterste Ausläufer des Totenreichs. Die tiefe, echte Hölle kann ich für Besuche absolut nicht empfehlen.“
Aha, denken Sie. Klingt interessant, aber was Sie am meisten stört, ist dieser ekelhafte Geruch.
„Wie kann man in so einem Geruch nur leben?“, fragen sie.
„Das ist kein Problem für die Heimbewohner hier. Für sie ist der Geruch wohltuend aromatisch. Denk doch mal an die Hunde. Die lieben auch so einen Gestank und sind förmlich verrückt danach.“
Es geht um eine Biegung, dann noch ein paar Treppen hinunter und vor Ihnen liegt eine düstere Landschaft, die durchaus einen Reiz haben könnte, wenn man das Düstere, Melancholische liebt.
Andie nimmt irgendwoher zwei lange, schwarze Umhänge und zwei dunkle Hüte mit breiter Krempe und sagt: „Das ziehen wir an, damit wir nicht gleich auffallen.“
Die Straße führt auf einen Marktplatz. Ein paar gut gekleidete Männer und Frauen sitzen an Biertischen und zählen Geld.
Sie setzen sich dazu. Andie flüstert Ihnen zu: „Frag die Leute ein bisschen aus.“
Sie räuspern sich und sagen: „Hallo!“
Ihre Nachbarin, eine Frau um die fünfzig, die das Wort Schönheitschirurgie noch nie gehört hat, blickt verblüfft auf und sagt leicht genervt: „Was willst du?“
„Ich komme aus einer anderen Gegend, wollte mich mal umsehen und habe ein paar Fragen.“
„Frag mich“, sagt ein alter Mann neben ihr mit einem zerknitterten Gesicht. „Sie ist noch mit Geld zählen beschäftigt. Ich bin mit meiner ersten Schicht durch. Hast du Geld dabei? Ich könnte es für dich zählen.“ In seinen Augen glitzert es vor Verlangen. Sie wollen dem Mann eine Freude machen, greifen in ihre Tasche, finden zu Ihrer Überraschung ein paar Silbermünzen und legen Sie auf den Tisch. Die Frau blickt kurz hin, während sich ihre Lippen lautlos bewegen, und der Mann fängt an zu zählen, hört aber gleich wieder auf.
„Sag mal, willst du uns verarschen?“ Seine Stimme wird aggressiv.
Etwas verunsichert blicken Sie auf den Tisch und sehen, dass Ihre Münzen aus Holz sind, obwohl sie vorher aus Silber waren.
Er wirft die Münzen auf den Boden, wo ein paar Hunde danach schnappen, sie aber nach einer Zeit wieder herauswürgen.
Schließlich ringen Sie sich zu einer Frage durch: „Glauben Sie an Gott?“
„Gott?“ Der Mann von vorhin fängt an zu lachen. Eine Art wieherndes Lachen. „Was ist Gott? Das ist doch nur ein Wort! Gott gibt es nicht. Eine Wunschvorstellung! Das ist etwas für schlichte Gemüter.“
„Und die Welt, das Universum? Wo kommt das alles her?“, fragen Sie und finden es seltsam, dass Sie plötzlich eine Position einnehmen, die Sie vorher gar nicht im Blick hatten.
„Wie? Was? Wo das herkommt? Das war schon immer da. Und die Häuser haben wir selbst gebaut. Komische Frage.“
Inzwischen ist die Frau mit Geld zählen fertig geworden und blickt Sie interessiert an. Wenn Sie ein Mann wären, würde Sie sich jetzt plötzlich auf Ihren Schoß setzen und Ihr Hemd aufknöpfen. Sie scheint zu den Typen zu gehören, die keine langen Vorreden machen.
Wären Sie eine Frau, würde sich einer der Herren an Sie heranmachen und versuchen, Sie in eines der Häuser abzuschleppen.
Diese aggressive Anmache wirkt auf Sie ziemlich unangenehm, weil dabei nicht die kleinste Spur von Zuneigung und Liebe vorhanden ist. So extrem haben Sie es auf der Erde noch nicht erlebt. Da war zumindest eine winzige Spur Zuneigung auch bei den härtesten Egoisten vorhanden. Es läuft ihnen kalt den Rücken hinunter und jedes Gefühl von Erotik erfriert. Und der Geruch, der von diesen Pseudoliebhabern ausgeht, ist sehr unangenehm. Es riecht jetzt extrem nach Hühnerstall, wenn es draußen feucht ist.
Andie steht auf und zieht Sie hoch. Dabei verrutscht sein Umhang, und ein Strahl von himmlischem Licht zuckt über die Gesellschaft. Erschrocken springen Sie auf, weil Sie plötzlich von Ungeheuern umgeben sind: halb Tier, halb Mensch, haarige Wesen mit Klauen an den Händen, zwischen denen Flammen emporzüngeln. Bilder von Hieronymus Bosch fallen Ihnen dazu ein. Sie laufen schreiend weg und hören, wie man Ihnen nachruft: „Bleib doch hier. Du kannst den ganzen Tag Geld zählen und dich vergnügen. Das Leben ist herrlich!“
Sie entfernen sich von dem Dorf, geraten auf den schwankenden Boden eines Moores und fragen Andie leicht geschockt: „Was war denn das?“
„Ach das! Das himmlische Licht zeigt, wie die Leute in Wirklichkeit aussehen. Gott lässt sie in einer Illusion leben, damit sie sich mit ihrem wirklichen Aussehen nicht so quälen müssen.“
„Dann ist Gott auch in der Hölle?“
„In gewissem Sinne, ja. Sozusagen indirekt. Von den Bewohnern verdreht und verfälscht und verdrängt. Weiter oben ist sein Einfluss unverfälscht. Weißt du, nichts kann existieren, auch nichts Böses, wenn es nicht letzten Endes von göttlicher Energie gespeist wird.“
Das alles ist total neu für Sie, und jetzt fällt Ihnen etwas ein:
„Dann kommen diese … diese Vorstellungen vom Feuer und der Qual …“
„Ja?“
„Dann stammen diese Vorstellungen aus der … der Sicht der Himmlischen?“
„Korrekt. Vom Himmel siehst du die wahren Verhältnisse, aber für die Höllenbewohner ist das ihr Leben. Sie halten zäh an ihren Lieblingsbeschäftigungen fest, auch wenn sie furchtbar sind. Es gibt aber tiefere Höllen, wo sie sich das Leben gegenseitig noch mehr zur Hölle machen, aber sie wollen es nicht anders.“
„Dann … dann lässt Gott sie das Leben führen, das sie wollen?“
„Richtig. Wenn er ihnen ihre Lust auf Boshaftigkeit, auf Perversionen, auf Hass und Gestank wegnehmen würde, dann würden sie nicht mehr leben. Denn deine Lebensneigung ist dein Leben. Nimmt man dir das weg, dann hört dein Leben auf.“
Das Moor hat sich inzwischen in eine Graslandschaft verändert, aber das Gras ist gelb und zwischen den Büscheln wachsen dürre, ausgemergelte Bäume. Es sirrt in der Luft vor Stechmücken. Wieder tauchen ein paar Häuser auf.
Im Augenblick wissen Sie nicht, ob Sie wirklich noch ein paar Leute dort unten besuchen wollen, aber Sie sind neugierig und schließlich wird Ihr Schutzengel Sie beschützen. Das ist sein Job.
Es ist dämmrig geworden, und in den Häusern, die aus Lehm und Holz bestehen, schimmert Licht.
Andie klopft an eine der Türen.
Von drinnen hören Sie einen undefinierbaren Laut und treten ein. Eine trübe Lampe hängt von der Decke und beleuchtet eine Gruppe von Leuten, die eifrig beschäftigt ist, etwas zu zeichnen. Dabei halten sie kleine Platten in der Hand und schauen hinein.
Einer blickt kurz hoch, als die Tür aufgeht und brummt: „Hinsetzen und Schnauze halten!“
Etwas verschüchtert gehorchen Sie und schauen weiter zu, was diese Zeichner hier machen. Jetzt merken Sie, dass sie kleine Spiegel in der Hand halten und unentwegt Selbstporträts zeichnen.
Da haben Sie eine Idee. Schließlich sind Sie nicht auf den Kopf gefallen. Sie nehmen eine Ecke vom Mantel ihres Engels und schlagen sie zurück.
Ein Strahl von himmlischem Licht beleuchtet das Zimmer und Sie schaudern zurück, weil die Zeichner in diesem Licht wie Skelette aussehen mit Blechkronen auf den Köpfen. Sie sitzen auf Eisblöcken und frieren. Gleichzeitig hören Sie einen grauenhaften Schrei, der von unten kommt wie aus einem Gewölbe.
Dass Sie Andies Mantel zurückgeschlagen haben, hätten Sie lieber nicht machen sollen. Denn jetzt kommt Bewegung in die Truppe. Einer der Zeichner, dessen leichenhaftes Gesicht sich vor Hass verzerrt, springt wütend auf und kommt bedrohlich auf Sie zu.
Aber Andie hält seine Hand hoch und der Zeichner bleibt verblüfft stehen.
Auf schnellstem Weg verlassen Sie die Hütte und fliegen mit Andie in die Höhe, bis Sie auf einer Sommerwiese stehen.
„Nanu! Wo ist die Hölle geblieben?“, fragen Sie atemlos. „Hier“, sagt Andie und weist auf einen kleinen Riss im Rasen.
„Was? Da unten waren wir?“
„Ja. Die Hölle hat nicht viel Wirklichkeit. Frierst du noch?“
„Kaum“, sagen Sie.
Langsam gehen Sie weiter und erreichen eine Almhütte mit einer Bank in der Sonne. Erschöpft lassen Sie sich darauf nieder.
Andie bestellt einen heißen Tee und sieht Ihnen lächelnd beim Trinken zu.
Da fällt Ihnen plötzlich wieder etwas ein:
„Und dieser grauenhafte Schrei vorhin tief unter dem Boden?“
„Das war die tiefere Hölle. Das selbst gewählte Leiden dieser Leute ist so furchtbar, dass dir das Blut in den Adern gefrieren würde, würdest du sie dort besuchen.“
Allmählich kommen Sie wieder zu Kräften und merken durch den Kontrast: Auch wenn der Himmel Sie geschafft hat, war es insgesamt angenehmer für Sie da oben. Und Sie sehnen sich jetzt sogar ein bisschen nach dem Himmel, als Ausgleich.
Und da haben Sie schon eine neue Idee: „Sag mal, Andie?“, fragen Sie, „Könnte ich nicht mit so einem Schutzmantel und mit dem Hut in den Himmel gehen? Dann würden mich das Licht und die Luft nicht so fertig machen? Und ich könnte mich ein wenig länger umsehen?“
„Ich werde mal den Chef fragen“, meint Andie, wird plötzlich still und scheint nach innen zu horchen.
„Ja, du hast die Erlaubnis. Aber wir brauchen dazu einen anderen Mantel und einen anderen Hut. Wir brauchen etwas Weißes, Reflektierendes. Ist doch klar, oder?“