Читать книгу Ein schwerer erster Schritt: Dr. Lisa Groschner - Eine Praxis in den Bergen Band 1 - Alea Raboi - Страница 8
Оглавление3. Kapitel
Der Wind zeigte sich von seiner besten Seite. Der Bus ruckelte beängstigend, und Lisa schluckte schwer. Das unbehagliche Gefühl, das anfangs in ihr aufkeimte, loderte mittlerweile flächendeckend.
»Hier drinnen passiert uns nichts, keine Sorge«, beruhigte David sie.
Aus dem Fenster schauend spürte sie seinen Blick im Nacken. Sie ermahnte sich ruhig zu bleiben und keine negativen Gedanken zuzulassen. Um sich abzulenken, erinnerte sie sich an den Sommer vor ein paar Jahren, als sie zum letzten Mal in St. Albert gewesen war. Mit dem roten Fahrrad ihrer Großmutter hatte sie einen Ausflug gemacht.
Ein wohliger Schauer durchströmte sie, eine Wärme, die ihr Herz ummantelte, heute wie an jenem Tag. Mit diesem Fahrrad war sie häufig gedanken- und ziellos in der Gegend herum geradelt.
Zufrieden schwelgte sie in Erinnerungen, als David sie abermals ansprach. »Deinem Akzent nach zu urteilen kommst du nicht von St. Albert. Deine Großmutter vielleicht, aber nicht du, wie man unschwer heraushört.«
Sie nickte. »Ja, den penetranten Dialekt der Landeshauptstadt kann ich einfach nicht verheimlichen. Das heißt, ich arbeite dort, wohne aber in einem kleinen Dorf.«
»In welchem denn?«
Sie drehte ihren Kopf zu ihm und zog missmutig ihre Brauen zusammen. »Ich glaube, das geht dich überhaupt nichts an.«
Verteidigend hob er seine Arme. »Entschuldige bitte.«
Sie wandte sich wieder dem Fenster zu.
»Zicke«, ertönte es leise.
Abermals drehte sie sich um und setzte sich mit geradem Rücken hin. Neigte den Kopf zur Seite und fixierte ihn. »Wie bitte?«
»Nichts«, brummte er.
»Das klang aber gerade nicht nach Nichts.« Gehässig schürzte sie ihre Lippen und wartete auf eine Antwort.
»Ich habe dich gefragt, in welchem Dorf du wohnst. Nichts weiter. Aber du musst mir nicht antworten. Ist schon okay, ich lass dich jetzt in Ruhe.« Einige Sekunden schwieg er, um mit einem breiten Grinsen im Gesicht fortzufahren: »Frauen machen normalerweise immer, was ich will.«
»Oh«, seufzte Lisa fassungslos. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Nein, warte. Du musst mir die Frage nicht beantworten. Es ist dein Ernst.« Noch während sie den letzten Satz sprach, wandte sie sich von ihm ab.
»Das war nur ein Witz, aber egal.« Er legte eine kurze Pause ein. »Sag mal, was machst du denn eigentlich beruflich?«
»Ich bi...«
»Nein, sag nichts«, schnitt er ihr das Wort ab. »Lass mich raten. Du arbeitest entweder in einer Bank oder für eine Versicherung.«
»Was?«, gluckste sie. »Nein. Das wäre nichts für mich.«
»Dann bist du Eventmanagerin.«
»Auch nicht. Nein, ich bin Schönheitschirurgin.«
Er schaute sie von der Seite an. »Lass mich raten ... du bist Single und hast keine Kinder. Und du arbeitest für die oberen Zehntausend?«
»Ganz genau. Ich wäre sonst nicht da, wo ich jetzt bin. Mein ursprünglicher Bereich ist die Allgemeinmedizin, aber das wurde mir bereits mit Ende meines Studiums zu langweilig. Ich wollte eine neue Herausforderung, eine, die mich allumfassend ausfüllt, und durchlief daher im Anschluss das Facharztstudium für Plastische Chirurgie. Alles andere ... wäre unter meinem Niveau, um nicht zu sagen unter meiner Würde«, meinte sie blasiert.
»... nicht da, wo du jetzt bist ...? Du meinst in einem Bus ohne Klimaanlage?«, entgegnete er neckisch.
Sie lachte auf. »Danke, dass du mich daran erinnerst.«
Sie war ihm sehr dankbar, nicht weiter neben dem Raucher sitzen zu müssen. David war ein unterhaltsamer Nachbar, mit ihm würde die Zeit zügig vorbeigehen, obwohl er unsäglich selbstverliebt war. Aber alles war besser als den Krebskandidaten neben sich zu haben.
»Ich schließe mal für ein paar Minuten meine Glubscher«, sagte er.
»Mhm«, machte Lisa und tat es ihm gleich.
Endlich Ruhe. Diese verdammte Busfahrt.
Für einen Augenblick hielt sie den Atem an. Ja, tatsächlich: Es war still. Sie konnte es kaum glauben, so sehr hatte sie diesen Moment herbeigesehnt. Ein zufriedenes Lächeln huschte ihr über das Gesicht. Ihre Gesichtszüge lockerten sich, und sie fing an, sich zu entspannen. Der Stress der Reise wurde mit der nächsten Ausatmung aus ihren Gedanken herausgeschwemmt ...
»Mama, ich hab’ Hunger«, plärrte es hinter ihr.
Lisa riss sie die Augen auf.
»Mama, gib mir ein Sandwich.«
»Aber du hattest doch scho...«
»Ich will jetzt essen!«, brüllte Sarah, und Lisa schluckte einen Fluch hinunter und versuchte, sich auf ihre Entspannung zu fokussieren.
»Ist ja gut«, fauchte die Mutter leise.
Rascheln. Rütteln an der Lehne.
»Hier.«
Wie zum Teufel sollte sie das eine ganze Nacht durchstehen? Was war das nur für ein Höllentrip.
Sie ließ ihren Blick durch den Bus schweifen. Der Raucher stand auf und stellte sich in den Gang.
Will er hier drin etwa rauchen? Oh Gott, alles, bloß das nicht. Wenn der sich im Bus eine Zigarette anzündet, dann gehe ich den Rest des Weges zu Fuß!
Doch weit gefehlt, wie Lisa feststellen musste. Der Krebskandidat fing an zu singen. Die kleine Bergkirche von Uschi Bauer. »Ave Maria ...«
Okay, schlimmer geht’s immer.
Sie musste hier raus, sonst würde sie noch den Verstand verlieren. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf die Oberschenkel und spürte dann, wie sich Davids Blick durch sie bohrte.
»Sag mal«, begann er, »warum bist du eigentlich so angespannt, Frau Doktor?«
Einige Mitreisende stimmten nun mit ein und unterstützten den Raucher lautstark.
David breitete seine Arme aus. »Das ist doch wunderschön. Was sollen denn die Leute deiner Meinung nach tun? Stillsitzen bis wir weiterfahren? Die bringen wenigstens ein bisschen Stimmung in die Bude. Ob gut oder schlecht, darüber ließe sich streiten, aber sie sorgen für Stimmung.«
Er hatte recht. Obschon es furchtbar klang, war es doch wunderschön zu sehen, wie plötzlich eine Gemeinschaft entstand.
»Entspann dich doch, du hast Urlaub.«
»Und genau das ist das Problem. Ich hatte seit zehn Jahren keinen mehr. Ich bin auf Anordnung meines Arztes hier.«
David hob überrascht seine Brauen. »Jetzt bin ich aber beeindruckt, dass es noch Menschen gibt, die auf ihre Ärzte hören ... Das ist ja total verrückt. Dein Arzt sagt dir, du brauchst Urlaub, und du folgst seinem Rat? Als Ärztin?«
Lisa wiegelte den Kopf hin und her. »Na ja, ganz so war es nicht. Aber er hat gute Argumente gebracht.«
Er nickte zustimmend. »Weiser Mann.«
»Dass ihr Männer immer zusammenhalten müsst.«
Er legte den Kopf schief. »Tja ... Jetzt musst du nur noch ein wenig lockerer werden. Dich entspannen. Du weißt schon.«
Grimmig schaute sie ihn von der Seite an. Sie hasste das Wort Entspannen. Entspannen gab es bei ihr nicht.
»Du hattest bestimmt einen Burnout«, sagte er.
Sie überlegte kurz. Sollte sie es ihm erzählen? Zunächst wollte sie nichts sagen, doch dann kam es über sie, und sie redete in einem Schwall. »Als Schönheitschirurgin zu arbeiten, war schon immer mein Traum gewesen. Ich liebte es. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich nicht zur Arbeit wollte. Doch dann ...« Sie sammelte sich. »Doch dann überfuhr mich eines Abends ein betrunkener Autofahrer.«
David schlug erschrocken die Hände vor den Mund.
»Ich kam ins Krankenhaus.«
»Und?«
»Nun, ich trug keine lebensbedrohlichen Verletzungen davon, wenn du das wissen willst. Aber die Nervenbahnen in meiner linken Hand waren im Eimer. Es ist schon wesentlich besser geworden.« Sie machte Finger- und Handbewegungen. »Siehst du? Sie ist beinahe vollständig bewegungsfähig. Aber eben nur beinahe. Zu siebenundachtzig Prozent, um genau zu sein. Zu wenig für eine Operateurin.«
»Oh Mist. Heißt das, du kannst nie wieder operieren?«
»Genau das heißt es. Nach vier Monaten wäre ich fast wahnsinnig geworden. Mein behandelnder Arzt hat so lange auf mich eingeredet, dass ich zustimmte. Da meine Großmutter schon lange darauf wartet, mich endlich wiederzusehen, denke ich, war es eine gute Entscheidung.«
Mitfühlend lächelte er. »St. Albert wird dir guttun.«
Weitere Reisende sangen mit dem Raucher, es wurde stetig lauter im Bus, jeder wollte seinen Nächsten übertönen.
»So soll ich mich entspannen? Die sind hier doch alle des Wahnsinns!«
David lachte.
Der Geruch von Sarahs zweitem Thunfischsandwich machte sich breit. Lisa faltete aus ihrem Blazer ein Kissen, legte es an die Scheibe und lehnte ihren Kopf daran. Den Ärmel zupfte sie hervor und legte diesen auf die Nase.
Tief ein- und ausatmen.
Durch die Lautsprecher erklang ein Surren, dann ein Klacken, gefolgt von einem Rauschen.
»Geschätzte Fahrgäste«, ertönte die Stimme des Buschauffeurs, und mit ihr ein ohrenbetäubendes Quietschen, sodass die Reisenden ihre Hände an die Ohren pressten. »Wie es scheint, haben wir Glück, wie ich eben über Funk erfahren habe«, fuhr er fort, ohne auf die Unannehmlichkeit einzugehen. »Anscheinend macht der Abschleppdienst gute Arbeit und wir können bald weiterfahren.«
Ein Aufatmen ging durch die Menge, einige klatschten. David wandte sich Lisa zu. »Wie es aussieht, kommst du heute doch noch zu deiner Großmutter.«
»Halleluja.«
»Kann ich dich zu ihr fahren oder wirst du abgeholt?«
»Ach«, machte sie, »die wohnt nicht weit weg vom Busbahnhof. Es sind nur ein paar Meter. Aber danke.«
Es waren weit mehr als nur ein paar Meter, aber das ginge dann doch ein bisschen zu weit. Trotz guter Unterhaltung und ausgenommen, dass er Gelegenheitsarbeiter war, wollte Lisa nicht von David gefahren werden. Sie kannte ihn schließlich nicht.
Abermals schaute sie zum Fenster hinaus und versuchte, Sarahs Schmatzen zu überhören. Sie beobachtete, wie sich die Blätter in der Baumkrone immer weniger bewegten und dachte daran, wer alles welches Geschäft hinter dem Baum verrichtet hatte. Bei diesem Gedanken entglitten ihr die Gesichtszüge.
Als der Bus ins Rollen kam, straffte sie sich, zupfte ihre Haare zurecht und atmete erleichtert aus.
Endlich!