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Erstes Kapitel
Vor der Erzählung

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Gestern warfst Du mir vor, daß ich nicht genug Bücher wie »Conscience« schriebe; ich antwortete, daß Du jedes Buch erhalten würdest, das Du fordern wolltest, und fragte, was für eins Du wünschtest.

Da sagtest Du: »Ich möchte eine Geschichte aus Deiner Jugend, ein kleines unbekanntes Drama, das unbemerkt im Schatten der großen Bäume jenes Waldes spielt, dessen geheimnisvolle Tiefen Dich zum Träumer, dessen melancholisches Rauschen Dich zum Dichter machte, eines von den Ereignissen, die Du zuweilen im Familienkreise erzählst, wenn Du von den langen Romanen ausruhen willst, die Du schreibst. Ich liebe Dein Heimathland, obgleich ich es nicht kenne, obgleich ich es nur von fern, durch Deine Erinnerungen, gesehen habe, wie man im Traume eine Landschaft sieht. —«

Auch ich liebe Dich, Vaterland, liebes Dorf! denn es ist doch nichts weiter, als ein Dorf, wenn es sich auch den Titel »Marktflecken« oder »Stadt« anmaßt. Ich liebe es so sehr, daß ich, nicht Euch, meine Freunde, wohl aber die Gleichgültigen mit Erzählungen davon ermüde. Für mich ist Villers-Cotterets das, was Colmar für meinen alten Rusconi; für ihn ist Colmar der Mittelpunkt der Erde, die Achse, um die sich die ganze Welt dreht; in Colmar hat er alle Leute kennen lernen. Mit Carrel hat er hier sich 1821 verschworen, Talma hat er hier 1816 spielen, Napoleon 1808 hier durchreisen sehen. Für mich datiert sich Alles von Villers-Cotterets, wie für Rusconi Alles von Colmar.

Nur hat Rusconi vor mir, ich weiß nicht ob den Vorteil oder Nachtheil, daß er nicht in Colmar geboren ist; er ist in Mantua, der Herzogsstadt, der Vaterstadt Virgils und Sordellas geboren, während ich in Villers-Cotterets zur Welt kam.

Du siehst, liebes Kind, daß ich, ohne sehr gedrängt zu werden, von meiner Vaterstadt spreche, deren weiße Häuser im Hintergrunde der Hufeisenform ihres ungeheuren Waldes das Aussehen von Vogelnestern haben, und von der Kirche mit dem langhälsigen Thurme überragt und überwacht werden. So bald Du von meinen Lippen das Siegel nimmst, welches meine Gedanken und Worte verschließt, quellen sogleich Gedanken und Worte rasch hervor, wie der Schaum aus einer Bierflasche, welcher uns zu einem Schrei zwingt und uns im Exil an der Tafel von einander entfernt oder wie der Schaum des Champagners, der ein Lächeln auf unsere Gesichter bringt und uns wieder vereinigt, indem er uns an die Sonne unseres Vaterlandes erinnert.

Nun, habe ich nicht wirklich dort gelebt, da ich dort das Leben erwartet habe? Man lebt viel mehr durch die Hoffnung, als durch die Wirklichkeit. Was vergoldet den Himmel und macht ihn blau? Ach, liebes Kind, Du wirst es einst erfahren; – die Hoffnung. Dort bin ich geboren, dort habe ich meinen ersten Schmerzensschrei ausgestoßen, dort sah meine Mutter mein erstes Lächeln, dort habe ich, ein Blondkopf mit rothen Wangen, nach jenen kindlichen Täuschungen gejagt, welche uns entweder entgehen oder uns, wenn wir sie erreicht haben, nur ein wenig samtartigen Staub an den Fingern zurücklassen, und die Schmetterlinge heißen. Ach, es ist nur zu wahr und sonderbar, was ich Dir sagen will: nur in der Kindheit sieht man schöne Schmetterlinge, dann kommen stechende Wespen, später Fledermäuse, die Vorboten des Todes.

Man kann die drei Altersstufen so zusammenfassen: Jugend, reifes Alter, Greisenthum; Schmetterlinge, Wespen, Fledermäuse. —

Dort starb mein Vater. Ich stand in dem Alter, wo man nicht weiß, was der Tod ist, kaum weiß, was ein Vater ist.

Dorthin habe ich meine Mutter nach ihrem Tode gebracht; auf dem reizenden Gottesacker – der mehr einem Blumengarten gleicht, worin Kinder spielen sollen, als einem Trauerfeld, wo Leichen schlafen – da schläft sie an der Seite des Soldaten vom Mauldefeld, des Generals von den Pyramiden. Ein Stein, den die Hand einer Freundin auf ihr Grab gesetzt hat, schützt sie Beide.

Zu ihrer Rechten und Linken liegen die Großeltern, der Vater und die Mutter meiner Mutter, Tanten, an deren Namen ich mich erinnere, aber deren Gesicht ich nur durch den gräulichen Schleier langer Jahre sehe.

Dort endlich werde ich selbst schlafen, so spät wie möglich, denn gewiß werde ich Dich nur ganz gegen meinen Willen verlassen, liebes Kind.

Da werde ich an der Seite der Frau, die mich stillte, die finden, die mich wiegte; Mutter Zine, von der ich in meinen »Erinnerungen« spreche und an deren Bett der Schatten meines Vaters mir Lebewohl gesagt hat.

Warum soll ich nicht gern von dem großen grünen Blätterdache sprechen, wo Alles für mich eine Erinnerung ist? Ich kannte dort nicht allein die Leute aus der Stadt, sondern auch die Steine der Häuser und selbst die Bäume des Waldes. In dem Maße, als diese Jugenderinnerungen verschwunden sind, habe ich sie beweint. Ihr Greise der Stadt, teurer Abbé Gregoire, guter Capitain Fontaine, würdiger Vater Niguet, geliebter Vetter Deviolaine, zuweilen habe ich Euch zu erwecken gesucht; aber ihr armen Schatten habt mich fast erschreckt durch eure Bleichheit und Stummheit, die trotz meiner zärtlichen und freundschaftlichen Erweckung an Euch blieb.

Ich habe euch beweint, ihr düsteren Steine vom St. Rémy-Kloster, euch, ihr ungeheuren Fenstergitter, euch, ihr riesenhaften Treppen, euch, enge Zellen, dich, des Cyclopen Küche; Stein nach Stein habe ich euch fallen sehen, bis Steinhaue und Spitzhacke eure Grundsteine fanden, die breit waren, wie die Grundmauern von Wällen, und eure Keller, die Abgründen glichen. Euch vorzugsweise habe ich beweint, ihr schönen Bäume des Parkes, ihr Riesen des Waldes, euch Massen von Eichen mit runzligem Stamme, euch Buchen mit glatter silberartiger Rinde, euch Zitterpappeln und Kastanienbäume mit pyramidenförmigen Blüthen, um die im Mai und Juni Bienenschwärme summten, die Körper voll Honig geschwollen, die Beinchen mit Wachs beladen. Ihr, die ihr noch so viele Jahre zu leben, so viele Geschlechter unter eurem Schatten zu beschützen, so viele Liebesabenteuer geheimnißvoll vorbeigehen zu sehen hattet, seid in einigen Monaten plötzlich und still auf den Moosteppich gefallen, den die Jahrhunderte zu euren Füßen hingebreitet hatten. Ihr hattet Franz I. und die Frau von Erampes, Heinrich II. und Diana von Poitiers, Heinrich IV. und Gabrielen gekannt; auf euren gefurchten Rinden spracht ihr von diesen berühmten Todten; ihr hofftet, daß die dreifach verschlungenen Halbmonde, daß die liebend vereinigten Buchstaben, daß die Lorbeer- und Rosenkrone euch vor dem gemeinen Tode und vor dem Kirchhofe der Bäume, dessen Name Holzhof ist, bewahren würden. Ach, ihr habt Euch getäuscht, ihr schönen Bäume. Eines Tages hörtet ihr den schallenden Lärm der Axt und das dumpfe Knirschen der Säge. Es war euer Untergang; es war der Tod, der euch zuschrie: »Nun ihr, ihr Stolzen!« Und ich habe euch auf der Erde liegen sehen, vom Gipfel bis zu den Wurzeln verstümmelt, eure Zweige um euch herum zerstreut, und es schien mir, als ob ich, um fünftausend Jahre älter, das ungeheure Schlachtfeld durchlief, das zwischen dem Pelion und Ossa liegt, und als ob ich jene dreiköpfigen, hundertarmigen Titanen zu meinen Füßen sähe, die den Olymp zu erstürmen versucht hatten und die Jupiter mit seinen Blitzen erschlagen.

Wenn Du jemals mit nur und an meinem Arme, liebes Herzenskind, durch alle diese großen Waldungen gehst; wenn Du durch jene Dörfer wandelst; wenn Du Dich auf jene bemoosten Steine setzest; wenn Du Deinen Kopf zu diesen Gräbern wendest, wird es Dir. zuerst scheinen, als ob Alles still und stumm wäre, aber wenn ich Dich die Sprache aller dieser meiner Jugendfreunde werde gelehrt haben, dann wirst Du begreifen, wie süß sie, todt oder lebendig, an mein Ohr murmeln. Wir werden im Osten anfangen; für Dich geht die Sonne kaum auf; bei ihren ersten Strahlen blinzeln Deine großen blauen Augen noch, in denen sich der Himmel spiegelt; da werden wir, indem wir uns etwas nach Süden wenden, das niedliche Schlößchen Villers-Helon besuchen, wo ich bei den Spielen meiner frühesten Jugend, mitten in dem dichten Gehölze, durch die Hecken hindurch lebende Blumen suchte, die das Spiel zerstreut hatte, und die Louise, Auguste, Karoline, Henriette und Hermine hießen. Ach! heute sind zwei oder drei von diesen schönen und so schlanken Blumen unter dem Winde des Todes gebrochen, die anderen sind Mütter, einige Großmütter; – vierzig Jahre sind seit der Zeit verflossen, von der ich mit Dir spreche, liebes Kind, und Du wirst erst in zwanzig Jahren wissen, was vierzig Jahre sind.

Auf der Fortsetzung unseres Weges kommen wir durch Lorey. Siehst Du diesen steilen Abhang, der mit Apfelbäumen bedeckt ist und seinen Fuß in jenem Teich badet? Hier fuhren eines Tages drei Jünglinge in einem Wagen, den ein Pferd zog – ob es ein einfältiges oder wütendes gewesen sei, haben sie nie erfahren – wie eine Lawine dahin, indem sie geraden Weges in diese Art von Cocytus eilten. Glücklicherweise blieb ein Rad an einem Apfelbaum hängen, der fast entwurzelt wurde. Zwei von den jungen Leuten wurden über das Pferd hinaus geschleudert; der dritte blieb, wie Absalon, an einem Zweige hängen, nicht an den Haaren – obgleich diese ganz dazu geeignet waren – sondern an der Hand. Von den beiden jungen Leuten, die über das Pferd geschleudert wurden, war der eine mein Vetter Hyppolite Leroy, von dem Du mich zuweilen hast reden hören, der andere mein Freund Adolf de Leuven, von dem Du mich immer reden hörst – der dritte war ich.

Was wäre aus meinem Leben und folglich aus dem Deinigen geworden, armes Kind, wenn der Apfelbaum nicht an dem genannten Orte auf meinem Wege gestanden hätte?

Indem wir immer von Osten nach Süden weiter gehen, müssen wir, ungefähr eine halbe Stunde entfernt, eine große Meierei finden. Sieh, da ist sie, das Hauptgebäude mit Ziegeln, die Wirtschaftsgebäude mit Stroh gedeckt, das ist Bouty.

Da, liebes Kind, wohnt noch, wie ich hoffe, obgleich er jetzt älter als achtzig Jahre sein muß, ein Mann, der, wenn ich mich so ausdrücken darf, meinem moralischen Leben das gewesen ist, was der liebe Apfelbaum, den ich Dir so eben gezeigt habe und der unsern Bankwagen aufhielt, für mein körperliches Leben war. Wenn Du in meinen »Erinnerungen« liest, wirst Du seinen Namen finden. Es ist der alte Freund meines Vaters, der einst auf der Rückkehr von der Jagd bei uns eintrat, nachdem seine Flinte geplatzt und seine halbe Hand weggerissen war. Als die Sucht mich ergriffen hatte, Villers-Cotterets zu verlassen und nach Paris zu gehen, sagte er zu mir:

»Geh! das Schicksal treibt Dich!« und er gab mir den berühmten Brief an den General Foy, der mir das Haus dieses Mannes und die Geschäftszimmer des Herzogs von Orleans öffnete.

Wir werden den alten guten Mann recht zärtlich umarmen, ihn, dem wir so viel verdanken und unseren Weg fortsetzen, der uns auf einer Straße auf den Gipfel eines Berges führen wird.

Betrachte von der Höhe dieses Berges herab das Thal, den Fluß und die Stadt.

Das Thal und der Fluß heißen das Thal und der Fluß Quroy.

Die Stadt ist la Ferté-Milon, die Vaterstadt Nacine's.

Wir brauchen uns nicht die Mühe zu nehmen, den Abhang hinabzusteigen und in die Stadt zu gehen; niemand würde uns das Haus zeigen können, das der Nebenbuhler Corneille's, der undankbare Freund Moliere's, der in Ungnade gefallene Dichter Ludwigs XIV., bewohnte. Alle Bibliotheken besitzen seine Werke; seine Statue, ein Werk des großen Bildhauers David, steht auf dem öffentlichen Platze; aber sein Haus ist nirgends, oder vielmehr die ganze Stadt, die ihm ihren Ruhm verdankt, ist sein Haus.

Man kennt doch wenigstens die Vaterstadt Nacine's, während die Homers unbekannt ist. —

Jetzt gehen wir von Süden nach Westen. Das hübsche Dorf, das nur eben aus dem Walde gekommen zu sein scheint, um sich an der Sonne zu erwärmen, ist Boursonne. Erinnerst Du Dich, liebes Kind, an die »Gräfin von Charny,« ein Werk von mir, das Du sehr liebst? Nun, dann kennst Du den Namen Boursonne ganz gut. Das kleine Schloß, das mein alter Freund Hutin bewohnt, ist das Isidor's von Charny. Aus diesem Schlosse sprengte der junge Edelmann alle Abend heimlich, auf den Hals seines englischen Pferdes nieder gebückt, und war in einigen Minuten auf der andern Seite des Waldes unter den Schatten dieser Pappeln; von da konnte er Katharine ihr Fenster öffnen und schließen sehen. Eines Nachts kam er von Blut ganz bedeckt zurück; eine der Kugeln des Vater Billot war ihm durch den Arm gegangen, eine andere hatte ihn in die Seite getroffen. Endlich verließ er es eines Tages, um nie wiederzukehren; er begleitete den König nach Montmedy und lag auf dem Markte von Varenes, dem Hause des Krämers Sausse gegenüber.

Wir sind von Süden nach Westen durch den Wald gegangen, haben Plessis-au-bois, In Chapelle aux Auvergnats und Coyalles durchschritten; noch einige Schritte und wir sind auf der Spitze des Berges von Vauciennes.

Hundert Schritt hinter uns fand ich eines Tages oder vielmehr in einer Nacht, bei der Zurückkunft von Crépy den Leichnam eines sechzehnjährigen Jünglings. In meinen »Erinnerungen« habe ich dieses düstere und geheimnißvolle Drama erzählt. Nur Gott und die Windmühle, die sich links vom Wege erhebt und langsam und melancholisch ihre großen Flügel dreht, wissen, wie die Sachen sich verhielten. Alle beide sind stumm geblieben; die menschliche Gerechtigkeit hat dem Zufalle nach gestraft; glücklicherweise gestand der Mörder auf dem Todtenbette, daß die Strafe gerecht war.

Der Kamm des Gebirges, dem wir folgen wollen und der die große Ebene zu unsrer Rechten und das schöne Thal zu unsrer Linken beherrscht, ist der Schauplatz meiner Jäger-Heldenthaten. Dort habe ich in das Geschäft der Nimrode und Braillants gepfuscht, die, wie ich mir habe sagen lassen, die beiden größten Jäger des Alterthums und der Neuzeit waren. Rechts war das Gebiet der Hasen, Rebhühner und Wachteln, links das der wilden Enten und Wasserschnepfen. Siehst Du dort den Fleck, der grüner als die andern ist, und der einem reizenden, von Watteau gemalten Rasen ähnlich sieht? Es ist Torfland, wo ich beinahe meine Beine gelassen hätte; ich sank dort ganz allmählich ein; glücklicherweise hatte ich den Gedanken, meine Flinte zwischen meine Beine zu bringen; auf der einen Seite der Kolben, auf der andern das Ende des Laufes trafen auf Erde, die etwas fester war, als die, wo ich einsank, und dies hielt mich auf in meinem geraden Hinabsteigen, welches mich geraden Wegs ins Reich der Schatten führen mußte. Auf mein Geschrei lief der Müller von der Mühle, die Du von hier bemerkst, herbei und warf mir seinen Hundestrick zu; ich faßte ihn an, er zog mich daran herauf und ich war gerettet. Um meine Flinte zu retten, die ich sehr werth hielt, weil sie sehr weit trug und ich nicht reich genug war, um mir eine andere zu kaufen, brauchte ich nur die Beine zu schließen und sie wurde mit mir gerettet.

Gehen wir jetzt weiter von Westen nach Norden. Diese Ruine dort unten, von der ein Stück wie der Turm von Vincennes dasteht, ist der Thurm von Vez, der einzige Überrest einer seit langem niedergerissenen Feudalburg. Dieser Thurm ist das granitene Gespenst der Vergangenheit; er gehört meinem Freunde Paillet. – Du wirst Dich des nachsichtigen Mannes erinnern, der mit mir, auf der Jagt, von Crépy nach Paris kam und dessen Pferd, wenn wir einen Feldhüter sahen, den Reiter, dessen Flinte Hasen, Rebhühner, Wachteln entführte, während der andere Jäger, ein friedlicher Reisender, mit den Händen in den Taschen herumging, die Landschaft bewunderte und Botanik studirte.

Jenes kleine Schloß ist das Schloß des Fosses. Hier erwachten meine ersten Gefühle, von hier datieren sich meine ersten Erinnerungen. Hier sah ich meinen Vater aus dem Wasser steigen, woraus er, mit Hilfe Hyppolite's, jenes verständigen Negers, der, um die Blumen nicht erfrieren zu lassen, dieselben hinaus- und die Töpfe herein that, die drei ertrinkenden jungen Leute gezogen hatte.

Der eine – den mein Vater rettete – hieß Dupuy. Hyppolite, der im Schwimmen ausgezeichnet war, hatte die beiden andern gerettet.

Hier wohnten auch Moquet, der vom Alp gedrückte Feldhüter, der auf seiner Brust eine Falle aufstellte, um die Mutter Durand zu fangen, und der Gärtner Peter, der mit seinem Spaten Nattern in zwei Stücke schlug, aus deren Leibe lebende Frösche herauskamen. Hier endlich alterte majestätisch Truff, ein Tier, das, halb Hund, halb Bär, in keine Klasse Buffons gerechnet werden kann. Auf seinen Rücken setzte man mich rittlings und er erlaubte mir, die Anfänge der hohen Reitkunst auf ihm zu lernen.

Jetzt wenden wir uns nordwestlich und erreichen Haramont, ein niedliches Dorf, das von Apfelbäumen ganz verdeckt in einer Lichtung des Waldes steht und durch die Geburt des ehrlichen Auge Pitou berühmt ist, des Neffen der Tante Angelika, des Zöglings des Abbés Fortier, des Mitschülers des jüngeren Gilbert und des Waffengefährten des Patrioten Billot. Da dies die einzige Berühmtheit ist, auf die Haramont Anspruch machen kann und die überdies noch von Leuten bestritten wird, die, vielleicht nicht mit vollem Unrecht, behaupten, daß Pitou nur in meiner Phantasie existiert habe, so wollen wir unsern Weg bis zu dem doppelten Pfuhle an den Weg von Compiegne und von Vivieres fortsetzen, in dessen Nähe ich von Boudous gastlich aufgenommen wurde, als ich aus dem mütterlichen Hause floh, um nicht in das Seminar von Soissons gehen zu müssen, wo ich zwei oder drei Jahre später wahrscheinlich, wie mehrere meiner jungen Kameraden, durch die Explosion der Pulvermühle getötet worden wäre. In der Mitte des breiten Durchhaues, der von Süden nach Norden geht, haben wir eine halbe Stunde hinter uns das massive Schloß, das Franz I. baute und worauf der Sieger von Marignan und der Besiegte von Pavia sein Salamander Siegel gedrückt hat, und, am Ende des Horizonts, einen hohen Berg, der mit Ginster- und Farrenkraut bedeckt ist. Eine schreckliche Jugenderinnerung hängt an diesem Berge. – In einer Winternacht, als der Schnee seinen weißen Teppich auf diese lange und breite Allee gebreitet hatte, bemerkte ich, daß mir in einer Entfernung von zwanzig Schritten ein Thier folgte, das die Größe eines großen Hundes hatte und dessen Augen wie glühende Kohlen glänzten.

Ich brauchte das Thier nicht zwei Mal anzusehen, um es zu erkennen.

Es war ein ungeheurer Wolf!

Ach! wenn ich meine Flinte, oder meinen Karabiner, oder auch nur meinen Feuerstahl und Feuerstein gehabt hätte! Aber ich hatte kein Pistole, kein Messer, nicht einmal ein Federmesser.

Glücklicherweise kannte ich, da ich schon im fünfzehnten Jahre seit fünf Jahren Jäger war, die Art des nächtlichen Herumschweifers, mit dem ich zu tun hatte; ich wußte, daß ich, so lange ich mich aufrecht halten und nicht fliehen würde. Nichts zu fürchten hatte. Aber siehe, liebes Kind, der Berg war mit Löchern ganz bedeckt, ich konnte in ein solches Loch fallen, dann wäre der Wolf mit einem Sprung auf mir gewesen und wir hätten sehen müssen, wer von uns beiden bessere Nägel und Zähne gehabt hätte.

Mein Herz klopfte stark; ich fing an zu singen, ich habe aber immer gräulich falsch gesungen; ein nur etwas musikalischer Wolf hätte Reißaus genommen; der Meinige war es durchaus nicht; die Musik schien ihm vielmehr zu gefallen; er machte die zweite Stimme mit klagendem und hungrigem Heulen. Ich schwieg und ging still weiter, den Verdammten ähnlich, denen Satan den Hals umgedreht hat und denen Dante in der dritten Höllenregion begegnet, wie sie vorwärts gingen und rückwärts sahen.

Aber ich bemerkte bald, daß ich eine große Dummheit beging; weil ich nach den Wolf hin sah, sah ich nicht auf meine Füße und stolperte; der Wolf nahm einen Anlauf.

Glücklicherweise fiel ich nicht ganz, aber der Wolf war mir zehn Schritte näher gekommen. Einige Sekunden lang konnte ich mich fast nicht mehr auf den Beinen halten, trotz einer Kälte von achtzehn Grad rann der Schweiß von meiner Stirn. Ich blieb stehen; der Wolf gleichfalls.

Ich brauchte fünf Minuten, um mich wieder etwas zu erholen; diese fünf Minuten schienen meinem Reisegefährten lang zu werden; er setzte sich auf seinen Hintern und stieß ein noch hungrigeres und kläglicheres Heulen aus als das erste war.

Bei diesem Heulen schauderte ich bis in das Mark.

Ich ging weiter, indem ich von nun an auf meine Füße sah und jedes mal stehen blieb, wenn ich sehen wollte, ob der Wolf mir noch immer folge, näher käme, oder zurück bliebe.

Als ich wieder anfing zu gehen, fing auch der Wolf wieder an; er blieb stehen, wenn ich stehen blieb, ging weiter, weim ich weiter ging, aber immer in derselben Entfernung; ja er näherte sich sogar mehr, als er sich entfernte.

Nach einer Viertelstunde war er nur noch fünf Schritte von nur entfernt.

Ich näherte mich dem Parke, d. h. ich war jetzt kaum eine halbe Stunde von Villers-Cotterets entfernt; aber hier war der Weg von einem breiten Graben unterbrochen, – dem berühmten Graben, bei dem ich, als ich ihn übersprang, um der schönen Laurentia eine Idee von meiner Beweglichkeit zu geben, unglücklicherweise die Nankinbeinkleider zerplatzte, in denen ich zum ersten Male zur Kommunion gegangen war; erinnerst Du Dich? – Diesen Graben hätte ich ganz gut übersprungen und gewiß mit mehr Behändigkeit noch, als an dem fraglichen Tage, aber zu dem Sprunge mußte ich einen Anlauf nehmen und ich wußte, daß der Wolf auf meiner Schulter sein würde, bevor ich den vierten Theil gelaufen hätte.

Ich mußte also einen Umweg machen und durch ein Drehkreuz gehen. Das wäre Alles ganz leicht gewesen, wenn das Drehkreuz nicht in dem Schatten der großen Bäume des Parks gelegen hätte. Was konnte in diesem Schatten geschehen?! Konnte die Dunkelheit nicht ganz anders auf den Wolf einwirken, als auf mich? Sie er« schreckte mich; konnte sie ihn nicht kühn machen? Je dichter die Finsternis ist, desto heller sieht da der Wolf.

Aber ich durfte nicht zögern; ich wagte mich in die Dunkelheit; ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß jedes von meinen Haaren einen Tropfen Schweiß trug, daß jeder Faden meines Hemdes naß war. Als ich durch das Drehkreuz ging, warf ich einen Blick hinter mich. Die Dunkelheit war so groß, daß die Gestalt des Wolfes nicht mehr zu erkennen war; man sah nur in der Finsternis zwei glühende Kohlen.

Nachdem ich hindurch war, drehte ich schnell das bewegliche Querholz um; das Geräusch dabei erschreckte den Wolf, und er blieb eine Sekunde stehen, aber fast in demselben Augenblicke sprang er so behend über das Kreuz, daß ich den Schnee unter seinen Tatzen nicht knirschen hörte. Er befand sich wieder in derselben Entfernung von mir.

Ich ging schnell wieder in die Mitte des Weges, befand mich wieder im Hellen, und sah, nicht mehr blos die beiden schrecklichen Augen, welche feurig im Dunkel glühten, sondern auch den ganzen Wolf.

Je mehr ich mich der Stadt näherte und sein Instinkt ihm sagte, daß ich ihm bald entgangen sein würde, desto mehr näherte er sich mir. Obgleich er aber höchstens nur noch drei Schritte von mir entfernt war, hörte ich doch weder seinen Gang, noch seinen Atem. Man hätte ihn für ein Geschöpf meiner Phantasie, für das Gespenst eines Wolfes halten können.

Nichts desto weniger ging ich immer weiter; ich durchschritt den Ballspielplatz; und kam zu jenem Teil, der Parterre heißt, einem weiten, offenen und ebenen Grasplatz, wo ich keine Löcher mehr zu fürchten hatte.

Der Wolf war mir so nahe, daß er, wenn ich plötzlich stehen geblieben wäre, mit seiner Nase auf meine Kniekehle hätte stoßen müssen. Ich hatte Lust, mit dem Fuße auszuschlagen, oder die Hände in einander zu schlagen und dabei irgend einen derben Fluch auszustoßen; aber ich wagte es nicht; wenn ich es gewagt hätte, wäre er zweifelsohne entflohen oder hätte sich wenigstens für einen Augenblick entfernt.

Ich brauchte zehn Minuten, um über den Grasplatz zu gehen, und kam an das Ende der Schloßmauer.

Da blieb der Wolf stehen; wir waren kaum hundertfünfzig Schritt von der Stadt entfernt.

Ich ging durchaus nicht schneller weiter; er setzte sich, wie früher, und sah zu. wie ich mich entfernte.

Als ich etwa hundert Schritte von ihm entfernt war, heulte er hungriger und kläglicher, als die beiden früheren Male. Die fünfzig Jagdhunde des Herzogs von Bourbon antworteten mit einstimmigem Bellen.

Dieses Heulen.war der Ausdruck seines Bedauerns, nicht etwas von meinem Fleisch fressen zu können, diese Hoffnung mußte er durchaus aufgeben.

Ich weiß nicht, ob er dort, wo er stehen geblieben war, die Nacht zubrachte, denn kaum fühlte ich mich sicher, als ich im schnellsten Laufe weiter eilte und bleich und fast todt in den Laden meiner Mutter kam.

Du hast meine arme Mutter nicht gekannt, sonst brauchte ich Dir nicht zu sagen, daß sie bei der Erzählung eine ganz andere Furcht empfand, als ich bei der Sache selbst.

Sie kleidete mich aus, ließ mich ein andres Hemd anziehen, wärmte mir mein Bett und brachte mich hinein, wie sie es zehn Jahre vorher getan hatte, dann brachte sie mir ein Glas Glühwein an das Bett, der nur in den Kopf stieg, und mein Bedauern verdoppelte, eine Tat, wie ich sie auf dem ganzen Wege im Kopfe gehabt hatte, nicht versucht zu haben, um mich meines Feindes zu entledigen.

Jetzt, liebes Kind, erlaube, daß ich als kluger Erzähler bei diesem Ereignisse abbreche; ich könnte Dir doch nichts Rührenderes erzählen. Außerdem ist diese Vorrede lang, und sogar länger geworden, als sie es sein sollte. Wähle aus allen den Geschichten, die ich Dir zehn Mal erzählt habe, diejenige aus, die ich dem Publikum erzählen soll. Aber wähle gut; denn, wenn Du schlicht gewählt hast, wird man nicht allein mich, sondern auch Dich, wegen der Langweiligkeit tadeln.

»Nun wohl, Vater, erzähle uns die Geschichte von Katharine Blum.«

»Diese wünschest Du vorzüglich?«

»Ja, sie gehört zu denen, die mir vorzugsweise gefallen.«

»Nun, weil Du sie so sehr liebst, mag es sein.«

Hören Sie also, meine lieben Leser, die Geschichte von Katharine Blum. Das Kind, dem ich Nichts abschlagen kann, das Kind mit den blauen Augen, will es, daß ich sie Euch erzähle!

Brüssel, den 2. September 1853.

Alexander Dumas.

Katharine Blum

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