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FÜNFTES KAPITEL

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Februar–Mai 1954

Eine Woche nach der Geburtstagsfeier ihrer Schwester Rosa stand meine Tante Hana Helerová um sieben Uhr auf, zog sich an, kochte sich einen Topf weißen Kaffee und aß eine Scheibe Brot. Nach dem Frühstück saß sie eine Weile unbeweglich da, die Augen ins Leere gerichtet, dann zuckte sie zusammen, kehrte mit den Gedanken in die Gegenwart zurück, schnitt eine dünne Scheibe vom harten Brot der letzten Woche ab und steckte sie in die Tasche im warmen schwarzen Pullover.

Sie wusch ordentlich das Geschirr ab, wischte den Tisch ab, fegte auf und schaute sich in der Küche um, ob alles war, wie es sein sollte. Dann ging sie ins Schlafzimmer, um das Fenster zu schließen und das gelüftete Bett zu machen. Sie klopfte das Kissen auf und dachte dabei an ihre Mutter, meine Oma Elsa, die zu sagen pflegte, dass das Bett erst auskühlen muss und nicht gemacht werden darf, solange es warm ist.

Mit der Hand strich sie über das weiße Federbett und fühlte, wie die Erde unter ihr schwankte. Sie atmete tief ein, richtete sich auf und ging in die Speisekammer, um den Leinenbeutel zu holen. Es war Montag, und montags ging sie in der Bäckerei im Nachbarhaus frisches Brot kaufen und ein paar notwendige Dinge im Laden unterhalb des Platzes.

Sie ging nirgendwo anders hin. Menschen mochte sie nicht und traute ihnen nicht. Nur manchmal ging sie ihre Schwester besuchen. Rosa ging zwar fast jeden Tag zu ihr, hatte aber ihr eigenes Leben, in das Hana nicht gehörte.

Nur zu Allerseelen ließ sie sich von Rosa überzeugen und ging mit ihr auf den Friedhof einen Strauß auf das Grab der Mutter legen. Warum sollte sie öfter dahin gehen, wenn niemand wusste, wo ihr Körper wirklich lag? Was für einen Sinn hatte es, sich vor einem Namen in Goldbuchstaben auf kaltem Marmor zu verneigen?

Als sie die Tasche vom Haken nahm, überfiel sie große Schwäche. Nichts Überraschendes. Atemnot, Schwärze vor Augen, zitternde Beine und Arme, Magenkrämpfe – das war nichts, was sie nicht kannte. Sie war mit ihren Beschwerden und Krankheiten ausgesöhnt und hatte gelernt, mit dem Gedanken zu leben, dass andere Frauen Mann und Kinder hatten und sie Krankheiten.

Sie setzte sich und wartete, dass die Schwäche vorbeiging. Früher oder später verschwand sie immer. Aus Gewohnheit griff sie in die Tasche, brach ein Stück Kruste ab und steckte es in den Mund. Ihr wurde schlecht, der Kopf drehte sich und die Küche schaukelte in wilden Kreisen. Sie stand vorsichtig auf, ging vom Tisch zur Wand, hielt sich an den Möbeln fest und schlurfte ins Schlafzimmer. Das Schaukeln wurde stärker, es warf sie von einer Seite auf die andere und zog ihr die Beine weg. Endlich ertastete sie das Kopfende des Betts und fiel auf das sorgfältig gemachte Federbett. Im letzten Moment, denn ihr Bewusstsein trübte sich und Hana fiel in eine andere Welt.

Auf einmal war sie nicht mehr zu Hause, sondern im Zug. Der Zug pfiff und ruckelte, durch die offenen Fenster kam eiskalte Luft und Hana erzitterte vor Kälte. Sie nahm nur die Kälte und den regelmäßigen Rhythmus der eisernen Räder wahr, die über die Gleise dahinjagten und sie an Orte brachten, von denen kein Weg zurückführte. Dann löschte jemand im Zug das Licht, Dunkelheit verschluckte alles. Aus dem Halbdunkel traten Gestalten hervor, sprachen zu ihr, zerrten sie dorthin, wohin sie nie wieder zurückwollte. Sie stopfte sich die Ohren zu, wollte ihnen entwischen, aber sie konnte sich nirgendwo verstecken.

Die Bäckerin erinnerte sich am Abend, dass die merkwürdige Hexe Helerová, die nicht einmal ordentlich grüßen konnte, kein Brot geholt hatte, aber gleich sprangen ihre Gedanken zu den 23 Kronen, die am Ende des Tages in der Kasse fehlten.

Der Verkäuferin im kleinen Kramladen fehlte Hana Helerová überhaupt nicht, obwohl sie regelmäßig jeden Montagmorgen nach neun ins Geschäft kam. Viel mehr ärgerte sie, dass die Käufer entgegen den vielen Hinweisen und Aushängen der Hygieniker die Ware befühlten, und sie musste sie neben der ganzen Hektik noch beaufsichtigen und ermahnen, damit sie keine Unannehmlichkeiten bekam.

Die Leute in der Stadt hatten ihre eigenen Sorgen, und so bemerkte niemand, dass zwei Abende hintereinander die Fenster ihrer Nachbarin Hana Helerová schwarz blieben und die Vorhänge aufgezogen.

Als ich die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, fantasierte sie und kämpfte im Fieber mit ihren Schrecken. Die Ankunft des dicken Doktors und den Transport ins Krankenhaus nahm sie nicht wahr. Zu der Zeit stand sie schon an der Grenze und es blieben nur ein paar kleine Schritte, um die unsichtbare Wand zu durchschreiten, zu ihren Lieben zu kommen und endlich zu erfahren, wo das Leben ihrer Mama Elsa und der Großeltern geendet hatte.

Während ich auf dem Platz herumtrampelte, der damals Stalingradplatz hieß, und nach der hohen Gestalt meines Retters Ausschau hielt, brachte man Tante Hana ins Kreiskrankenhaus. Die Infektionsabteilung war voll. Die Kranken lagen auf den Gängen und die Mediziner waren müde und verschreckt, genauso wie ihre Patienten, und so verwiesen sie den Rettungswagen gleich an der Pforte ans Krankenhaus in Hradiště. Der dicke Doktor stieg aus, er befand, seine Anwesenheit sei nicht nötig, weil man der halbtoten Patientin im Unterschied zu anderen nicht mehr helfen konnte. Die Kranke war nach zwei Tagen in hohem Fieber ohne zu essen und zu trinken so entkräftet, dass er keine Hoffnung für sie hatte.

In dem Moment, als ich im dunklen Flur unseres Hauses verzweifelt nach den Schlüsseln tastete, nahmen sie Tante Hana im Krankenhaus in Hradiště auf. Die Schwestern zogen ihr den schwarzen Pullover aus, das Kleid, die Strümpfe und die Wäsche, stopften alles in einen Sack und schickten es zum Desinfizieren. Dann wuschen sie sie, zogen ihr ein Leinenhemd an, flößten ihr etwas süßen Tee ein und brachten sie in ein Zimmer, wo sie auf den Tod warten sollte.

Ich schlief an diesem Abend im warmen Kämmerchen im ersten Stock des Hauses ein, das wie ein Schiff aussah, und nicht einmal im Traum fiel mir ein, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren würde.

Tante Hana lag mit zwei Sterbenden in einem kleinen Krankenhauszimmer und flüchtete vor ihren Albträumen. Sie wehrte sich gegen die Arme, die sie wieder und wieder aus dem Eisenbahnwaggon stießen, sie hielt sich an der Metalltür fest, hatte aber keine Kraft in den Fingern. Ihr Körper schmerzte, verzweifelte Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, ihr Mund war angstverzerrt und ein einziger Gedanke jagte durch ihren Kopf: Nein, nicht dorthin, dorthin gehe ich nie mehr zurück, lieber sterbe ich.

Dann stieß sie jemand und Hana fiel hinaus auf den kalten Betonbahnsteig. Sie nahm alle Kraft zusammen, erhob sich und humpelte weiter weg vom Zug. Das Geschrei hinter ihr war noch immer laut, aber als sie sich umsah, sah sie niemanden. Sie wusste, wenn sie entkommen wollte, musste sie so schnell wie möglich fort. Der Eingang zum Bahnhofsgebäude war offen und Hana lief durch die lange Halle und suchte den Ausgang. Alle Türen waren verschlossen und die Fenster vergittert. Schon gingen ihre Kräfte zur Neige. Ihre Beine waren schwach, die Knie knickten ein und ihre Hände zitterten. Sie stolperte von einer Tür zur nächsten, bis endlich eine nachgab.

Sie kam in einen kleinen, weiß gekachelten Raum. Auf der rechten Seite stand eine Reihe Waschbecken, auf der linken Kabinen mit Toilettenbecken. Und das Fenster in der Mitte der gegenüberliegenden Wand war offen und unvergittert. Sie schlug die Tür hinter sich zu, aber die Stimmen der Verfolger wurden nicht leiser. Sie fühlte, dass sie vor der Tür waren und jeden Augenblick hineinkommen und sie schnappen würden. Ihr blieb eine einzige Möglichkeit.

Sie zog einen in der Ecke stehenden Stuhl heran, stellte ihn unters Fenster, kletterte hinauf, setzte sich aufs Fensterbrett und streckte ein Bein hinüber. Sie schaute aus dem Fenster und sah in der Dunkelheit die Umrisse des Marktplatzes von Meziříčí. Sie muss nur noch hinüberlaufen und ist gleich in der Sicherheit ihres Hauses. Sie schließt die Tür hinter sich und macht nie wieder jemandem auf.

Sie streckte auch das zweite Bein hinüber, rutschte auf den Sims, der das ganze Gebäude umgab, und langsam, mit dem Rücken an die raue Wand gedrückt, glitt sie vom Fenster weg. Erst nach ein paar Schritten sah sie nach unten. Der Platz war fort. Unter ihren Füßen lag ein bodenloser Abgrund. Sie schloss die Augen, aber es war schon zu spät. Eine unsichtbare Macht ergriff sie und riss sie in die Tiefe.

Hanas Krankenbett stand am entfernten Ende des Raums und von der Tür trennten es die Betten der beiden Schwerkranken. Die Schwester schaute jede Stunde ins Zimmer, hörte ein bisschen auf den pfeifenden Atem und das Stöhnen der Sterbenden, aber die Abteilung war überfüllt mit Menschen, die ihre Hilfe viel mehr brauchten, und so ging sie nicht hinein und bemerkte Hanas Verschwinden überhaupt nicht.

Erst in den frühen Morgenstunden fand der Heizer auf dem Rasen vor dem Gebäude den reglosen Frauenkörper. Er stolperte fast darüber, als er von der Nachtschicht kam. Kaum hatte er den ersten Schreck überwunden, lief er ins Bereitschaftszimmer im Erdgeschoss, hämmerte an die Tür, und als sie aufging, platzte er hinein. »Ihr habt hier draußen eine Leiche«, brachte er heraus. »Die ist wohl aus dem Fenster gefallen.«

Der schlaftrunkene Doktor Jarolím, der in jener Nacht Dienst hatte und dem es geglückt war, vor einer knappen Stunde, nachdem der letzte Patient gegangen war, einzuschlafen, begriff nach einem Blick auf den verschreckten Heizer sofort, dass der Alte diesmal nicht betrunken war, auch wenn das ziemlich oft vorkam. Er nickte der Schwester zu, sie solle den Sanitäter rufen, und sie liefen schnell hinaus.

Hana lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, das Nachthemd war hochgerutscht und der weiße Kopf zur Seite geneigt. Der Doktor prüfte nicht erst, ob sie lebte oder nicht, er packte sie unter den Achseln und gemeinsam mit dem Sanitäter legten sie ihren ganz ausgekühlten, ausgemergelten Körper auf die Trage, warfen ein Laken darüber und trugen ihn hinein. Dann schoben sie den Heizer aus der Tür und verboten ihm unter Androhung des Rauswurfs über das zu sprechen, wovon er zufällig Zeuge geworden war.

»Ich weiß doch, was ein Arztgeheimnis ist, ich sage keinen Pieps«, schwor der Heizer, aber unter dem Einfluss der getrunkenen Wacholderschnäpse, die den Schock vertreiben sollten, vergaß er sein Versprechen schon am Mittag und beschrieb das schreckliche Erlebnis haarklein nicht nur seiner Frau und den Nachbarn sondern auch den Kumpanen in der Kneipe am Bahnhof.

Doktor Jarolím arbeitete schon viele Jahre im Krankenhaus. Seine Vorstellungen von der Schönheit und Nützlichkeit des Arztberufs und dem Dienst an den Bedürftigen verwandelten sich im Laufe der langen Praxis in alltägliche Routine, aber trotzdem mochte er seine Arbeit noch immer. Ein wesentlicher Teil seines Charakters war Dickköpfigkeit, und die brachte ihn dazu, auch gegen das Schicksal zu kämpfen, das dieser dünnen, weißhaarigen Frau ins halbtote Gesicht geschrieben stand. Er wollte sie nicht sterben lassen, wie ihm die Schwestern und die Kollegen einflüsterten, die gut wussten, dass es ihr Versagen war, dass die Patientin aus dem Fenster gefallen war, und dass früher oder später sich jemand finden würde, der sie daran erinnert.

»Es ist sinnlos«, sagten sie. »Die war schon dem Tode geweiht, als sie hergebracht wurde.«

Doktor Jarolím untersuchte den knochigen Körper, der von Qualen gezeichnet war, die kein lebendiges Wesen erleiden sollte, schob den Ärmel des schmutzigen Nachthemds hoch und ertastete einen kaum spürbaren Puls. Er drehte Hanas Kopf von einer Seite auf die andere, tastete Arme und Beine ab und organisierte blitzschnell das Röntgen. Er begleitete selbst die Liege mit der Kranken den langen Gang bis zum Aufzug, schob sie bis zur Röntgentür und verschaffte sich durch nervöses Klopfen Einlass. Dann trieb er die Laborantinnen an, als ob sie die chemischen Prozesse beschleunigen könnten, prüfte lange die Bilder und kam zufrieden zu dem Schluss, dass diese Frau, die die Haare einer Greisin und den Körper einer Märtyrerin hatte, in Wahrheit aber nur 35 Jahre alt war, nach dem Sturz aus dem zweiten Stock nur beide Schienbeine, die rechte Hand und ein paar Rippen gebrochen hatte.

Es war fast Mittag, als er die ganz eingegipste Hana, immer noch ohne Bewusstsein, persönlich in die Infektionsabteilung zurückbrachte, sie dem Chefarzt übergab und höhnisch bemerkte: »Jetzt wird sie Ihnen wohl nicht mehr weglaufen.«

»Sie sollten wissen, Herr Kollege, dass bei hohem Fieber …«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Jarolím. »Aber wenn sie stirbt, werde ich Sie nicht decken, Kollege hin Kollege her.«

Jedes Mal, wenn einer der Kranken den Kampf gegen den Typhus verlor und eine Schwester den Körper mit einem Laken bedeckte und fortbrachte, wendeten sich Patienten aller Konfessionen und politischer Zugehörigkeiten an den, an dessen Existenz sie auf einmal gern glauben wollten. Sie falteten die Hände und baten darum, dass er gerade sie verschonen und die Rückkehr in ihr altes Leben erlauben möge.

Tante Hana erwachte nach ein paar Tagen aus dem hohen Fieber und begann ihre Umgebung wahrzunehmen. Die Hände falten konnte sie allerdings nicht, denn ihr rechter Arm war bis über den Ellbogen im Gips. Sie hätte sowieso nicht gebetet. Sie verstand nicht, wie man ein Wesen um etwas bitten konnte, das im besten Falle nicht existierte, und im schlechtesten das ganze Leid über sie gebracht hatte, oder aber – obwohl es allmächtig war – es nicht wenigstens verhindert hatte.

Mit dem Abklingen der Typhusepidemie verringerten sich die Sterbefälle und die Patienten gingen einer nach dem anderen aus dem Krankenhaus nach Hause. Auch Hana, für die man noch vor ein paar Wochen keine Hoffnung hatte, erholte sich schnell, konnte sich aber immer noch nicht selbst versorgen, weil ihre Beine in einem Gipspanzer eingesperrt waren.

Von der Familie ihrer Schwester wusste sie nichts, aber sie wunderte sich überhaupt nicht, dass sie die ganze Zeit im Krankenhaus niemand besuchte, weil Besuche in der Infektionsabteilung verboten waren. Sie erinnerte sich nicht, wie sie zu den Brüchen kam, und erst allmählich, eher von den Mitpatienten als vom Personal, erfuhr sie, wie sie im Fieber durch die Gänge irrte und auf dieser umnebelten Flucht vor nichtexistierenden Verfolgern aus dem Fenster im zweiten Stock fiel. Weil niemand gesehen hatte, wie sie umherirrte und fiel, tauchten verschiedene Versionen auf. Einigen zufolge versuchte sich Hana umzubringen, andere wiederum behaupteten, sie sei im Gegenteil Opfer eines Verbrechens geworden. Es gab auch eine Variante, in der übernatürliche Wesen auftraten, denn genau wie Hana hatten auch die anderen Kranken im Fieber Wahnvorstellungen und wussten jetzt nicht, was Wirklichkeit war und was Traum. Bald fürchteten sich die Patienten so, dass sie zu zweit auf die Toilette gingen. Schließlich musste Doktor Jarolím eingreifen und Hana offiziell erklären, was wirklich passiert war.

Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, jemand anderem als sich selbst die Schuld an ihrem Sturz zu geben, wofür ihr die Schwestern unendlich dankbar waren und sich um die wortkarge Patientin kümmerten, als sei sie ihre liebste Freundin.

Erst Mitte Mai waren die Beinknochen so weit geheilt, dass sie das Gewicht von Hanas dünnem Körper tragen konnten, der Arm ließ sich schon bewegen, wenn auch nicht ganz ausstrecken, die Rippen waren zusammengewachsen, sodass sie sich nachts auf die Seite drehen konnte und tags tief einatmen. Hana hatte längst verlernt, ihre Gefühle zu erforschen, sie beherrschte die Kunst, nicht über die Zukunft nachzudenken und bei Tageslicht die Vergangenheit zu vergessen. Nur manchmal traf eine plötzliche Erinnerung sie unvorbereitet, hüllte sie wie eine dunkle Decke ein und stoppte sie auf der Stelle. Sie hatte gelernt, nicht an Menschen und Dingen zu hängen, und deshalb war der Krankenhausaufenthalt für sie erträglich und die Heimkehr weckte weder Gefühle noch Erwartungen.

Der Krankenwagen brachte sie bis vor die Haustür. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich vom Fahrer. Der schlug nur die Autotür zu und war froh, dass er diese seltsame Frau los war. Er plauderte gern mit seinen Fahrgästen, aber dieses Weibsstück saß den ganzen Weg regungslos da und sagte kein Wort. Hätte sie nicht aufrecht gesessen, hätte er gedacht, sie sei gestorben. Er musste immerzu hinschauen. Er war so von ihr aus der Fassung gebracht, dass er ein paarmal fast jemanden rammte. Beim nächsten Mal nimmt er lieber keinen Fahrgast mehr in die Kabine. Sollen die schön hinten sitzen.

Hana schloss die Henkel ihrer Tasche und ging zum Haus. Ihr fiel gar nicht ein, tief die Frühlingsluft einzuatmen und sich auf dem Marktplatz der Heimatstadt umzuschauen. Sie forschte nicht nach Neuigkeiten, es interessierte sie nicht, wie es den Nachbarn und Bekannten während der Epidemie erging. Sie stieg geradewegs in ihre Wohnung im ersten Stock, öffnete die Fenster, um die schwere Luft hinauszubekommen, und erst beim Blick auf das nichtgemachte Bett und die vertrocknete Klivie, die einzige Pflanze, die sie besaß, weil sie sie vor langem von ihrer Schwester zum Geburtstag bekam, wunderte sie sich, warum Rosa nicht ein einziges Mal hier gewesen war. Sie setzte sich an den Küchentisch und schaute auf den Leinenbeutel, der noch immer da lag, wo sie ihn vor fast einem viertel Jahr fallen gelassen hatte, und dachte nach.

Rosa war die einzige Verwandte, die ihr geblieben war – also außer ihren ekelhaften Sprösslingen. Sie war ein paar Jahre jünger und die Mutter hatte sich vor langen Zeiten in den Kopf gesetzt, sie sei kränklich, und so hatte Hana sie die ganze Kindheit am Hals. Dann drehte sich das irgendwie um. Als nur noch sie beide auf der Welt übrig waren, hatte Hana keine Kraft mehr, sich um sich zu kümmern und erst recht nicht um andere. Aber Rosa hatte auf einmal Kraft und Liebe im Überfluss. Sie liebte ihre Kinder, ihren Mann und es blieb noch genug Liebe für ihre Schwester übrig. Sie sorgte für Hana wie für ein viertes Kind, auch wenn die das gar nicht wollte. Sie lehnte es ab, sich von den Gefühlen der Schwester versklaven zu lassen, und ging ihrer Familie mit Absicht aus dem Weg. Rosa ließ sich nicht wegstoßen, drängte sich ihr auf, umgab sie mit ihrer Liebe und ließ nicht zu, dass sie sich ganz von der Welt zurückzog und in befreiender Gleichgültigkeit versank.

Hana sah sich die graue Staubschicht auf Fußboden, Möbeln und Fensterbrettern an und begriff im selben Moment, warum kein Brief ins Krankenhaus kam, warum sich niemand für ihren Gesundheitszustand interessierte oder Obst schickte. Sie fühlte einen scharfen Schmerz, ihr Brustkorb öffnete sich, und wie aus einem aufgerissenen Sack der Sand unaufhaltsam auf die Erde herausrieselt, so verflog aus ihr alles, was sie noch an die Welt band.

Sie begriff, dass Rosa tot war.

Sie stand auf und ging schneller aus der Wohnung, als es jahrelang ihre Gewohnheit war. Auf ihren wunden Beinen ging sie die Treppe hinab, über den gepflasterten Platz, an der Pestsäule vorbei, ging am Haus Zu den zwölf Aposteln vorüber und bog in die schmale Gasse ein, die zum Fluss führte. Das Schaufenster der Uhrmacherei war schmutzig, die Zeiger auf den staubigen Zifferblättern standen still. Sie drückte die große, gehämmerte Klinke und rüttelte an der Tür. Sie versuchte es noch einmal und dann sah sie sich ratlos auf der Straße um. Ihr schien, als schaute jemand aus dem gegenüberliegenden Fenster und zog gleich wieder den Kopf zurück.

Eine Weile stand sie unentschlossen da und ging dann auf die andere Straßenseite. »Guten Tag«, entschloss sie sich, Richtung Fenster zu rufen. Niemand erschien, also haute sie mit der Faust an die Tür. Zwischen frisch gepflanzten Geranien tauchte ein bebrilltes Gesicht auf.

»Guten Tag«, grüßte sie wieder. »Ich bin die Schwester von Frau Karásková.« Sie überlegte, wie weiter. »Wissen Sie vielleicht, wo ich sie finde?«

»Da müssen Sie zum Nationalausschuss«, antwortete die Frauenstimme. Die Augen hinter den Brillengläsern schauten sie forschend an und Hana fühlte sie noch im Rücken, als sie in die Straße einbog, die zurück zum Platz führte.

Und dort, in dem Haus mit den schön gewölbten Decken schob ihr die Standesbeamtin eine lange, alphabetisch geordnete Liste zu und ging fort. Auf dem Papier standen die Namen der während der Epidemie Erkrankten, die Krankenhäuser, wohin man sie gebracht hatte, Datum der Aufnahme und der Entlassung. Bei zwanzig Namen standen außer dem Datum auch Kreuze.

So erfuhr Hana Helerová, dass Rosa, Karel und ihre zwei Kinder gestorben waren. Als die Beamtin zurückkehrte, saß Hana noch immer am Tisch und sah auf den mit der Schreibmaschine getippten Namen ihrer Schwester. Ihre Augen waren trocken und der Kopf völlig leer. Es drangen keine Laute zu ihr durch, nur mitten in der Brust wuchs die eisige Kälte und breitete sich im ganzen Körper aus. Sie erhob sich.

»Da ist noch die Angelegenheit mit der Beerdigung«, sagte die Beamtin. »Sie sind auf Stadtkosten beerdigt worden, weil man nicht wusste, wann … ob … Aber wenn ein lebender Verwandter gefunden wird …«, sie räusperte sich verlegen. »Das ist Gesetz, wissen Sie? Das muss bezahlt werden.« Sie schob Hana einen Umschlag zu.

Hana sah nicht einmal hin, ließ den Umschlag auf dem Tisch liegen und drehte sich zur Tür.

»Dann schicken wir Ihnen das per Post«, rief die Beamtin ihr hinterher.

Hana schloss die Bürotür hinter sich. Nach mir, ihrer einzigen Verwandten, fragte sie nicht einmal.

Hana

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