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ZWEITES KAPITEL

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Februar 1954

Gleich am nächsten Morgen schaute ich heimlich in die Speisekammer, ob nicht wenigstens ein gefüllter Spritzkuchen für mich übriggeblieben war, fand aber nicht mal ein Krümelchen. Eine Weile überlegte ich, bockig zu sein, aber dann sagte ich mir, dass ich mir auch die von Papa versprochenen Schläge ertrotzen könnte, und beschloss, den Eltern großzügig zu verzeihen und zu tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. Vom obersten Regal nahm ich mir wenigstens ein paar harte Pfefferkuchen, aus denen Brösel gemacht wurden, die Mama über Pflaumenknödel, Brei oder Nudeln gab. Sie versteckte sie hinter den Kompottgläsern und dachte, ich wüsste das nicht. Dann fand ich die Tüte mit den Erbsen und stopfte sie vorsorglich ganz nach hinten.

Am Freitag stand Dagmarka nicht aus dem Bett auf. Ich trieb sie an, puffte sie, zog an ihrer Bettdecke, aber alles umsonst. Als sie sich an den Kopf griff und leise zu weinen anfing, begriff auch ich, dass sie wohl krank war und nicht zur Schule ging. Ich lief die Treppe hinunter in die Küche und teilte Mama mit, dass es Dagmarka schlecht ging und mein Kopf auch zu schmerzen begann.

Mama fasste mir an die Stirn. »Iss und ab in die Schule«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf den Platz am Küchentisch neben Papa. Verdrossen setzte ich mich und probierte zu husten, aber Papa sah mich drohend an und so ließ ich das lieber.

Um eins kam ich ordentlich ausgehungert aus der Schule heim, denn ich hatte in dem morgendlichen Durcheinander meine Schulbrote vergessen. Keiner beachtete mich, denn Dagmarka hatte hohes Fieber und erkannte niemanden. Sie schrie immerzu etwas von Glöckchen über der Tür und Mama machte ihr mit Hilfe des alten Herrn Doktor Janotka Umschläge.

»Das wird Ziegenpeter sein«, sagte der Doktor. »Stellen Sie sich darauf ein, dass diese zwei das auch bekommen.« Er zeigte auf Otík und mich. Ehrlich gesagt, als ich sah, wie schlecht es Dagmarka ging, wäre ich lieber in die Schule gegangen.

Der Herr Doktor hatte recht. Otík wurde am nächsten Tag auch krank und es ging ihm vielleicht noch schlechter als Dagmarka. Dann kam der Doktor jeden Tag zu uns und sah sehr beunruhigt aus, weil das Fieber nicht nachließ, und obwohl die beiden ständig Kopfschmerzen hatten und vor Schwäche nicht aus dem Bett hochkamen, bekamen sie die bei Ziegenpeter typischen Beulen hinter den Ohren nicht. Der Doktor versuchte ihnen den Kopf zum Brustkorb zu beugen, ob sie nicht Hirnhautentzündung hätten, Mama weinte vor Angst und Erschöpfung, Papa versuchte so gut es ging zu helfen, stand aber in der Küche eher im Weg herum, und ich wartete noch, wann ich auch krank werde.

Schließlich erkrankte nicht ich, sondern Mama und Papa, aber da wussten wir schon, dass wir nicht die Einzigen waren, die diese seltsame Krankheit ereilt hatte, denn in der Stadt wurden es immer mehr Kranke. Es war klar, dass es sich um etwas Ansteckendes handelte und man die Kranken von den Gesunden trennen musste, und weil es in Meziříčí kein Krankenhaus gab, brachten sie meine ganze Familie in die Infektionsabteilung in der Kreisstadt.

»Lauf zu Tante Hana«, sagte Mama zu mir. Ihre Wangen brannten, sie sprach schwerfällig und ihre Zunge war ungewöhnlich braun. »Vergiss nicht abzuschließen. Und nicht, dass du wieder was anstellst.« Sie streichelte meine Wange und ließ sich in den Krankenwagen bringen. Ihr Kopf war gebeugt und der Blick so gleichgültig, wie ich es oft bei Tante Hana sah. Sie setzte sich neben Papa und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Er öffnete die Augen, fragte: »Hast du die Uhren aufgezogen?« Und schloss die Augen wieder. Mama antwortete nicht, auch ihre Lider klappten zu.

Ein Mann im weißen Kittel schlug die Krankenwagentür zu und ich blieb allein auf dem Bürgersteig vor der Uhrmacherei zurück. Niemand war da, der mir verboten hätte, auf den Dachboden zu gehen, in den Keller oder auch an den Fluss. Niemand, der mich lieb gehabt hätte.

Ich ging die Treppe hoch, setzte mich auf das Sofa in der leeren Küche, die auf einmal schrecklich groß war, und hörte dem lauten Ticken der Uhr zu. Zu Tante Hana zu gehen, hatte ich überhaupt keine Lust, aber was blieb mir übrig. Entschlossen holte ich Luft und auf einmal schien es mir, als hörte ich aus dem oberen Stockwerk ein schlurfendes Geräusch. Ich erstarrte, drückte mich ganz in die Sofaecke und zog mir ein Kissen auf den Schoß. Nein, das war mir nur so vorgekommen. Mir wurde klar, dass ich noch nie ganz allein im Haus gewesen war. Ich griff nach der Tasche, die mir noch Mama geholfen hatte zu packen, und hörte wieder dieses Geräusch. Als ob jemand auf dem Dachboden herumginge. Ich schoss aus der Küche, riss unten vor der Tür nur den Mantel vom Haken, nahm die Schuhe in die Hand und lief los. Erst auf dem Platz fiel mir ein, dass ich nicht abgeschlossen hatte.

Tante Hana wohnte in dem Haus, in dem Oma Else und Opa Ervin sie und meine Mama zur Welt gebracht hatten. Vier große Fenster zeigten auf den Platz und ich beneidete Tante Hana, dass sie auf dem breiten Fensterbrett sitzen und das menschliche Gewimmel unter sich beobachten konnte. Unser Haus war zwar zweigeschossig, aber wenn ich weiter als bis in das enge Sträßchen sehen wollte, müsste ich bis auf den Dachboden klettern, von wo aus man die ganze Stadt überblicken konnte. Aber da durfte ich natürlich nicht hin. Gleichzeitig war mir völlig klar, dass Tante Hana nie aus dem Fenster schaute, da sie keine Menschen mochte und sich überhaupt nicht für sie interessierte.

Stufe für Stufe stieg ich die Treppe zu Tante Hanas Wohnung hinauf und versuchte mir vorzustellen, wie sie es aufnimmt, wenn ich ihr sage, dass ich ein paar Tage bei ihr blieben soll. Freuen wird sie sich nicht, da war ich mir sicher. Sie war so an ihre Einsamkeit gewöhnt, dass sie zu sprechen vergaß. Sie ging nur für dringende Einkäufe oder die seltenen Besuche bei meiner Mama aus dem Haus. Eigentlich war ich nicht einmal sicher, ob sie wusste, wie ich heiße. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich je angeredet hätte. Bestimmt nicht – sie hatte noch nie mit mir gesprochen.

Ich klingelte an der Wohnungstür, aber nichts war zu hören. Ich klingelte noch einmal, diesmal ordentlich. Drinnen war es noch immer still. Ich drückte mein Ohr an die Tür. Das müsste schon großes Pech sein, wenn die Tante gerade nicht zu Hause wäre. Ich drückte die Klinke, es war nicht abgeschlossen.

»Tante?«, rief ich in die halboffene Tür, aber es war nichts zu hören. »Tante. Ich bin das, Mira. Mama hat mich zu dir geschickt.« Ich überlegte, dass sie am Tisch sitzen könnte, wieder mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen, und nichts mitbekam. Ich ging also in den Flur, schaute in die Küche und schließlich ins Schlafzimmer.

Und dort fand ich sie. Sie lag angekleidet auf dem Bett, so, wie sie immer zu uns kam, auch das schwarze Kopftuch hatte sie umgebunden, obwohl es jetzt von ihren weißen Haaren auf die Schultern gerutscht war. Sie lag auf dem Rücken, seltsam durchgebogen, als ob ein schmerzhafter Krampf sie gepackt hätte, das Kinn war zurückgebeugt, die Augen offen und aus ihrem halboffenen Mund drang ein seltsames Röcheln.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich ging zwei Schritte vor. »Tante?« Aber da sah ich schon, dass sie dieselbe Gesichtsfarbe wie Dagmarka hatte. Ihre Augen waren trübe und sie zitterte – noch mehr als ich, als ich ins eiskalte Wasser gefallen war.

»Mama!«, schrie sie auf einmal. »Mama, ich … ich wusste, dass ihr zurückkommt.« Sie warf heftig den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie sind nicht hier, nicht hier.« Tränen flossen ihr aus den Augen. So viele Tränen hatte ich nicht einmal bei Otík gesehen, und der konnte wütend sein.

Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckte, die heftigen Fieberzuckungen, die schmerzhaften Krämpfe, die Schreie oder die Tränen. Ich lief durch die Wohnung, die Treppe hinunter und packte draußen den ersten Menschen, der mir begegnete, und hängte mich verzweifelt an seinen Ärmel. »Was soll ich machen? Was soll ich machen? Der Tante geht es furchtbar schlecht.« Und damit meine Bitte noch ernster klang, fügte ich hinzu: »Sie ist ohnmachtslos.«

Der Mann in dem langen Mantel stieß mich unsanft weg und trat ein Stück zurück. Zu der Zeit war schon klar, dass sich in der Stadt eine Seuche ausbreitete. In sicherer Entfernung blieb er stehen und fragte: »Wo ist sie?«

»Hier oben. Sie ist ganz allein da und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Komm mit«, sagte er und ging in die geöffnete Tür der Bäckerei. »Und fass nichts an.«

Drin war es warm und die Luft duftete nach Brot. Dieses Brot kaufte sich hier Tante Hana immer, schnitt dünne Scheibchen davon ab und trug sie in ihren Taschen herum.

Der Mann im langen Mantel beachtete die ärgerlichen Blicke der Käuferinnen in der Schlange nicht, ging geradewegs nach vorn und fragte die Verkäuferin: »Haben Sie hier ein Telefon?«

»Dienstlich«, entgegnete die Frau scharf. »Sie sind hier doch nicht auf der Post.«

»Rufen Sie den Rettungswagen«, sagte mein Helfer. »Die Kleine sagt Ihnen Namen und Adresse.«

Die Verkäuferin wollte etwas sagen, aber der Mann brüllte sie an: »Oder wollen Sie sich die Kranke zuerst selbst anschauen gehen?«

Die Leute in der Schlange gingen auf sicheren Abstand. Ich weiß nicht, ob sie sich mehr vor der Ansteckung oder vor dem verärgerten Mann fürchteten. Ich dachte, dass es vor allem großes Glück war, dass ich gerade seinen Ärmel gepackt hatte. Sicher rät er mir auch, wohin ich gehen soll, wo ich doch jetzt ganz allein war. Auf einmal fühlte ich mich sicherer.

Zwei Frauen verließen ihren Platz in der Schlange, gingen im Bogen um uns herum und eilten fort. Ich diktierte Tantes Namen und die Verkäuferin ging nach hinten ins Büro, um zu telefonieren. Mich schickten sie zum Warten vor Tantes Haus.

Der Rettungswagen kam schnell. Die vordere Tür ging auf und ein dicker Doktor krabbelte heraus. Er schaute zur Treppe, seufzte ergeben, ging schwankenden Schrittes zum Haus, blieb wieder stehen, atmete tief ein und verschwand leise fluchend im Haus. Die Tante wurde auf einer Trage herausgebracht. Ich wusste, dass sie noch lebte, denn das Betttuch, das sie ihr übergeworfen hatten, bebte. Die Trage luden sie ins Auto, der dicke Doktor kletterte schnaufend hinein, schlug die Tür hinter sich zu, der Rettungswagen heulte ein paar Mal leer auf und setzte sich holpernd in Bewegung.

Ich sah dem weißen Auto hinterher und wartete, dass der Mann in dem langen Mantel wieder auftauchte, damit ich ihn noch einmal um Rat bitten konnte. Aber er zeigte sich nicht mehr.

Gut zehn Minuten trampelte ich auf dem Bürgersteig von einem Fuß auf den anderen und langsam wurde mir ordentlich kalt. Ich begriff, dass mir niemand helfen würde, dass ich selbst jemanden finden musste, der sich meiner annimmt.

Die erste, die mir einfiel, war meine goldhaarige Freundin Jarmilka Stejskalová. Ihre genauso hellhaarige Mama war immer sehr nett zu mir. Bestimmt konnte ich ein paar Tage bei ihnen bleiben.

Wieder stand ich vor einer fremden Tür und griff hilfesuchend nach der Klinke. Diesmal wurde die Tür nach dem ersten Klingeln geöffnet, aber nur zu einem Spalt.

»Hallo Mira, Jarmilka kommt heute nicht raus.«

»Ich will nicht zu Jarmilka. Mama und Papa sind ins Krankenhaus gekommen und ich bin allein zurückgeblieben. Könnte ich nicht bei Ihnen bleiben, bis sie zurückkommen?«

Der Spalt in der Tür wurde noch enger. »Jetzt passt das gerade nicht. Wir sind alle irgendwie erkältet. Du könntest das auch bekommen.«

»Wohin soll ich gehen?«, fragte ich, aber die Tür war schon geschlossen.

Ich sah mich auf der Straße um. In den Fenstern gingen langsam die Lichter an und hinter Gardinen und Vorhängen tauchte manchmal eine Gestalt auf, aber weit und breit gab es niemanden, den ich kannte. Ich machte mich langsam nach Hause auf, aber bei der Erinnerung an die Geräusche vom Dachboden, die sich wie Schritte anhörten, wurde ich immer langsamer. Ich kam am Schaufenster der Uhrmacherei vorbei, finster wegen der fortgeschrittenen Stunde, hielt vor der Eingangstür an und wartete, ob etwas passierte. Es passierte gar nichts, nur auf der Straße war immer weniger zu sehen und ich spürte jetzt neben der Kälte auch noch Angst vor der Nacht.

Ich schließe wenigstens ab, sagte ich mir. Und dann bleibt mir nichts übrig, als bei den Nachbarn zu klopfen und um Rat zu fragen. Ich gehe von Haus zu Haus, irgendjemand wird mir bestimmt helfen.

Ich hatte einen Plan und das machte mir Mut. Ich war mir sicher, dass ich nicht hineingehen musste, denn wir ließen den Schlüssel gewöhnlich im Schloss stecken. Es müsste reichen, auf die andere Seite der Tür zu greifen, ihn schnell herauszuziehen, die Tür wieder zuzuschlagen und abzuschließen. Ich tastete die Türinnenseite ab, nur war der Schlüssel nicht da. Wie konnte das sein? Ich war überzeugt, dass ich ihn da gesehen hatte. Er musste also an der Garderobe ein paar Schritte von der Tür hängen.

Ich schaute in den dunklen Gang. Ich hatte Angst, Licht zu machen, um nicht die Aufmerksamkeit des Eindringlings zu wecken, dessen Anwesenheit ich nur ahnte. Von der dämmrigen Straße hinter mir drang schwaches Licht herein und mein Schatten war auf einmal so lang, dass er bis zum schmalen Treppenhaus reichte und mit jedem meiner Schritte die Treppe hochkletterte. Die Garderobe war im Dunkeln kaum zu sehen. Hätte ich nicht gewusst, dass da Papas Wintermantel hing, hätte ich gedacht, dass sich eine schwarze Gestalt an die Wand presst. Was, wenn da wirklich jemand ist?

Ich blieb stehen und versuchte, in der Dunkelheit den Schlüssel auszumachen. Auf einmal hörte ich Schritte, sie kamen näher und näher und zu meinem Schatten auf der Treppe gesellte sich ein weiterer. Ich versuchte gar nicht zu erkennen, woher er kam, ich drehte mich um und wollte aus der Tür laufen. Die Schritte kamen aber nicht von oben, wie ich dachte. Sie kamen von einer Gestalt, die mir den Weg nach draußen versperrte. Ich versuchte, an ihr vorbeizuhuschen, aber sie packte mich an der Schulter. »Mira! Hast du mir einen Schreck eingejagt.«

Hana

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