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DRITTES KAPITEL

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März 1954

Einmal fragte ich Mama, warum sie keine richtige Freundin habe. Sie wunderte sich, wie ich überhaupt darauf kommen konnte, und sagte dann, die Freundschaft von Erwachsenen sei ganz anders.

»Erwachsene Freundinnen gehen nicht jeden Nachmittag raus, wie du das mit Jarmilka machst«, erklärte sie mir. »Sie warten nicht aufeinander, wenn sie zur Arbeit gehen, und teilen nicht ihr zweites Frühstück. Sie sehen sich nicht jeden Tag, manchmal treffen sie sich sogar wochenlang nicht, aber sie wissen voneinander, und wenn es nötig ist, helfen sie sich.«

Und Ivana Horáčková war wohl so eine »richtige« Freundin, weil sie gleich kam, als sie erfuhr, dass meine Familie ins Krankenhaus gebracht wurde, um sich zu überzeugen, ob bei mir alles in Ordnung war.

Unsere Haustür stand weit offen und Ivana Horáčková erspähte im dunklen Flur eine Bewegung. Als ich aus dem Dunkel auf sie zustürzte, erschrak sie zuerst ordentlich, fasste sich aber schnell, machte Licht und half mir, die Schlüssel von unserem Haus zu finden, das wie durch Zauberhand wieder unser sicheres und gemütliches Heim war. Dann nahm sie meine Tasche und brachte mich, zittrig wie ich noch war, zu sich nach Hause.

Sie war eine »richtige« Freundin, weil sie, obwohl ihr Mann Jarda schimpfte und wollte, dass sie mich irgendeinem Ausschuss überbrachte, mir auf einem alten, eisernen Bettgestell in der ehemaligen Kammer für das Dienstmädchen ein Bett machte. Ich war so müde, dass ich nur etwas warme Milch trank und unter das Federbett kroch. Aber noch bevor ich einschlief, hörte ich Herrn Horáček sagen: »Warum hast du sie hierher gebracht? Willst du, dass wir alle sterben?«

Die Antwort verstand ich nicht, aber mir schien das wirklich sehr komisch, dass so ein großer Mann vor einem kleinen Mädchen Angst hatte.

Am nächsten Tag sagte mir Frau Ivana, dass ich sie Tante nennen sollte, obwohl sie gar nicht meine Tante war, und erklärte mir, in der Stadt sei eine Typhusepidemie ausgebrochen, und weil meine Familie erkrankt war, sei es gut möglich, dass ich auch so einen Bazillus in mir hätte und also zu einer Kontrolle gehen müsste und die Horáčeks auch, weil sie Kontakt mit mir hatten.

Herr Horáček war wohl immer noch böse auf mich. Er bot mir nicht an, ihn Onkel zu nennen, und zu Tante Ivana sagte er empört, dass er ihretwegen niemandem seinen nackten Hintern hinstrecken würde. Diese Bemerkung verstand ich erst im Arztsprechzimmer, als die Schwester uns Proben nahm, die sie dann, meinte sie, irgendwohin zur Kontrolle schickte.

Tante Ivana war sehr nett zu mir. Sie versprach, ich könne bei ihnen bleiben, bis die Eltern aus dem Krankenhaus zurück seien. Die Horáčeks hatten jetzt viel Platz, weil sie beim ersten Verdacht, in der Stadt wüte eine Epidemie, ihre beiden Kinder zu den Verwandten bis irgendwo bei Kroměříž gebracht hatten.

Daran hatten sie gut getan, denn Meziříčí wurde zur geschlossenen Stadt. Zwei Flüsse gleichen Namens, die sonst die Häuser wie zwei freundliche Arme umfassten, hielten die Stadt jetzt in festem Griff. Sie waren Grenze geworden, die niemand überschreiten sollte, damit die Seuche sich nicht in die umliegenden Gemeinden ausbreitete.

Aushänge und der örtliche Rundfunk forderten die Einwohner auf, nicht zu reisen, aber die Menschen waren verstört und wenn sie konnten, flüchteten sie zu Verwandten und Bekannten. Die weigerten sich aber bald, sie aufzunehmen, denn die Flüchtenden bedrohten sie und trugen den Typhus weiter über den Bezirk hinaus.

Alle Familien, in denen jemand erkrankt war, unterlagen strenger Quarantäne. Ich durfte nicht in die Schule und die Horáčeks nicht auf die Arbeit. Wir waren aufgefordert, unseren Aufenthalt an Orten, wo wir andere anstecken konnten, einzuschränken, und in Restaurants durften wir gar nicht. Dieser Regel widersetzte sich Herr Horáček, der abends gern auf ein frisch Gezapftes ging, genauso wie der ärztlichen Kontrolle.

Männer und Frauen in weißen Kitteln gingen von Haus zu Haus, untersuchten die Wasserversorgung und fahndeten nach der Ursache der unerwarteten Katastrophe. Die Stadt hatte keine Wasserleitung und deshalb holten die Bewohner das Wasser aus den Brunnen in ihren Höfen und Kellern. Und in einem der Brunnen, die sich die Menschen schon vor langer Zeit gegraben hatten und wo sie seit hundert Jahren Wasser holten, kam der Tod auf die Welt.

Vielleicht waren Verunreinigungen aus dem Abwasser hineingelangt oder eine tote Ratte verweste darin – man fand es nicht heraus. Sicher war aber, dass sich todbringende Bakterien im Wasser zu vermehren begannen. Und aus eben diesem Brunnen schöpfte die örtliche Konditorei ihr Wasser. Alle Kolatschen, Cremerollen, Baisers, Schnittchen und Kipferl trugen den tödlichen Keim in sich.

Und auch in den Spritzkringeln mit der Eiercreme und dem glänzenden Zuckerguss, die sich meine Familie bei Mamas Geburtstagsfeier schmecken ließ, verbargen sie sich.

Ich saß allein in der fremden Küche. Sie roch ganz anders als Mamas Küche. Der Fußboden war kühl an den Füßen, weil er ganz aus großen braunen Fliesen war. Am weißen Tisch standen vier Holzstühle mit geraden Lehnen und an die Wand gegenüber dem Fenster lehnte sich ein durchgesessenes Sofa mit einem runden Häkelkissen. Die große, cremefarben gestrichene Anrichte war mit wunderschönen Schnitzereien verziert und die Fächer waren aus Milchglas.

Ich rutschte vom Stuhl, schob mir einen Hocker an die Spüle, tauchte die Hände in das nach Essig riechende Wasser und spülte die Teller vom Mittagessen ab. Ich bemühte mich, leise zu arbeiten, und spitzte die Ohren, um so viel wie möglich von dem Gespräch zu hören, das Tante Ivana mit ihrem Mann im Nebenzimmer führte. Mir war klar, dass sie von etwas Wichtigem sprachen, etwas, was ich nicht hören sollte, obwohl es auch mich anging. Warum sonst sollte Tante Ivana die angefangene Arbeit unterbrechen, das Wasser kalt werden lassen, das sie lange in dem großen Topf erhitzt hatte, bis es siedete, und dann unter großer Anstrengung vorsichtig in das Spülbecken gegossen hatte?

Ich scheuerte den letzten Topf aus, stellte ihn zu dem restlichen Geschirr auf die Platte des Abwaschtisches und schlich mich zur Tür. Ich legte das Ohr aufs Holz, aber ich hörte trotzdem nichts. Dann öffnete sich die Tür und ich bekam einen Schlag mitten ins Gesicht.

»Mira! Was machst du hier?«

»Was soll sie machen. Spionieren.« Herr Horáček hatte sich mit meiner Gegenwart immer noch nicht ausgesöhnt.

»Ich habe das Geschirr abgewaschen«, meldete ich und rieb mir das verletzte Gesicht. Mir war zum Heulen, aber ich wusste, dass ich mir diesen Schmerz selbst zuzuschreiben hatte. Ich griff nach dem Geschirrtuch. »Und jetzt trockne ich es ab.«

Herr Horáček murmelte nur etwas, nahm die Zeitung vom Küchentisch und kehrte ins Zimmer zurück. Tante Ivana sagte nichts, streichelte nur über meine Schulter.

»Ich habe nicht spioniert«, sagte ich und begann abzutrocknen. Zu Hause riss ich mich nicht so ums Helfen, aber ich wusste aus Erfahrung, dass die Erwachsenen bei gemeinsamer Arbeit mitteilsamer sind. »Ich wüsste nur sehr gern etwas über die Familie und Tante Hana. Vielleicht wann sie aus dem Krankenhaus entlassen werden.«

Die Tante zuckte die Achseln. »So schnell wird das nichts.«

Das war seltsam. »Das können Sie nicht wissen, ich war nie länger als eine Woche krank.« Und da habe ich zum Schluss ein bisschen übertrieben, um noch nicht in die Schule zu müssen.

»Typhus ist kein Schnupfen. Aber du musst dir keine Sorgen machen, gestern Nachmittag haben sie gemeldet, dass der Zustand eurer Familie zufriedenstellend ist.«

Das war neu. »Wo haben sie das gemeldet?«

Tante Ivana wurde unsicher. »Auf dem Marktplatz.« Als sie meinen verständnislosen Blick sah, fuhr sie zögernd fort. »Es gibt viele Kranke, aber in die Krankenhäuser darf man nicht, also meldet der Stadtfunk beim Nationalausschuss, wie es wem geht.«

»Jeden Tag?«

»Ja.«

»Auch heute Nachmittag?«

»Bestimmt. Onkel Jarek geht wieder hin und erzählt uns dann alles.«

Also das war das Geheimnis, über das sie hinter verschlossener Tür geflüstert haben. Warum machten sie so ein Gewese darum? Hatten sie Angst, dass ich auch hingehen wollte?

»Darf ich mir heute die Durchsage anhören gehen?«

»Das ist nichts für Kinder. Und es ist kalt dort, du wirst dich noch erkälten.«

Tante Ivana sagte das so entschlossen, dass ich weitere Überredungsversuche von vornherein aufgab und mir sagte, dass ich mir etwas anderes ausdenken musste, wenn ich auf den Platz und mehr über meine Familie erfahren wollte.

In diesem Jahr lag anstelle des Frühlingsdufts der Gestank von Desinfektionsmittel in der Luft. Die Häuser schmiegten sich aneinander, als wollten sie sich in dieser Trostlosigkeit beistehen, die auch die Gestalten umgab, die durch die Straßen der Stadt gingen. Zwietracht und Nachbarschaftsstreitigkeiten, die noch vor ein paar Wochen so wichtig waren, wurden beiseitegeschoben und die Gespräche drehten sich nur um die Ohnmacht, die Angst und die Krankheit.

Desinfektionstrupps gingen durch die Stadt, blieben bei jedem Haus stehen, in dem jemand erkrankt war, und hinterließen auseinandergeworfene Betten ohne Bettzeug, einen starken Geruch, der Übelkeit hervorrief, und ein Zeichen, das mit weißer Kreide an die Eingangstür geschrieben wurde.

Auch unser Haus musste diese schmachvolle Prozedur über sich ergehen lassen und ich sollte Zeuge sein, weil ich die Einzige aus dem Haus war, die nicht in der Infektionsabteilung eingeschlossen war. Ich kam mit Tante Ivana zur verabredeten Zeit in unsere Straße, schloss die Tür zum dunklen Gang auf und ließ zwei Männer in weißen Kitteln und mit Mund- und Nasenschutz ein. Lange, unendlich lange – oder so kam es mir wenigstens vor – standen wir unten im Gang und warteten, bis sie mit ihrer Arbeit fertig waren.

»Fertig?«, fragte Tante Ivana, als sie die Treppe heruntergelaufen kamen.

»Noch die Uhrmacherei«, antwortete einer der Männer. »Hier sollen irgendwo die Schlüssel sein.«

Ich zeigte auf die Garderobe neben der Eingangstür, und als sie aufschlossen und hineingingen, schaute ich hinter ihnen hinein. Alles war auf seinem Platz und doch war etwas seltsam am Laden.

Die Stille. Das war die fremde, unheilverkündende Stille, die mich überraschte. Ich hörte nicht das Ticken der Uhrwerke. Die Pendel hingen unbeweglich herunter und die Zeiger zeigten auf den Zifferblättern die Uhrzeit, zu der sie stehengeblieben waren. Niemand war im Haus, der die zig Uhren, vielleicht sogar hundert Uhren aufzog, niemand war da, der sie brauchte. Es war, als seien sie gestorben.

Die Männer waren fertig und gaben Tante Ivana ein Papier zum Unterschreiben, das bezeugte, dass sie ihre Arbeit gründlich und ohne Komplikationen erledigt hatten, wovon schließlich auch der fürchterliche Gestank zeugte, den sie hinterließen.

Wir schlossen wieder ab, gingen durch unsere schmale Gasse und bogen auf den Platz ein. In den Straßen waren mehr Menschen als gewöhnlich und alle gingen in eine Richtung.

»Sie gehen sich die Durchsage anhören«, sagte Tante Ivana, packte meine Hand fester und beschleunigte den Schritt. Offensichtlich hatte sie nicht die Absicht, auf dem Platz anzuhalten.

»Tante«, bat ich, »wir wollen hierbleiben. Sehen Sie, da sind auch Kinder.«

Ich weiß ganz bestimmt, dass es nicht meine Bettelei war, die Tante Ivana anhalten und der endlosen Abfolge von Namen und Mitteilungen über den Zustand der Kranken zuhören ließ. Angehalten hatte sie, weil sie der Anblick der stillen Menge neugierig machte, die dort mit dem Gesicht dem Gebäude des städtischen Nationalausschusses zugewandt stand. Was sie nicht gehen ließ, war das Raunen, das manchmal durch das Menschenmeer fuhr, wenn sich der Zustand eines Kranken verschlechtert hatte, unheilvolles Geflüster und Schluchzer. Sie blieb stehen und hörte reglos zu, ob sie einen Namen hörte, den sie kannte. Sie stand da, obwohl sie wusste, dass sie weitergehen sollte, aber die Neugier klebte ihre Füße auf dem gepflasterten Bürgersteig fest.

Die eintönige Stimme las eine endlose Liste vor, sprach die Namen sorgfältig aus und ordnete sie Kategorien zu. Ich hörte den Namen Hana Helerová. Ich zog Tante Ivana am Ärmel und kam mir sehr wichtig vor. Von meiner Tante wurde im Stadtfunk gesprochen.

»Zustand sehr kritisch.« Das war nichts Neues für mich, ich hatte selbst gesehen, dass es der Tante schlecht ging. Ich hörte weiter zu. Ein Name, eine kurze Mitteilung. Zustand kritisch, Zustand unverändert, Zustand zufriedenstellend, außer Gefahr … Dann las der Sprecher den nächsten Namen und mir schien, dass er irgendwie stockte. Nach einer Weile fuhr er fort. »Verstorben«, sagte er und las langsam weiter.

Schrecken überfiel mich. Davor war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Mama, Papa, Dagmarka oder Otík sterben könnten. Es sterben doch nur schrecklich alte Leute, und Papa sagte immer, seine Haare seien nicht vom Alter grau geworden, sondern von Sorgen, und Mama hatte keine einzige Falte. Und meine Geschwister waren noch Kinder. Ich fühlte, wie sich die Hand der Tante fester um meinen Arm schloss und sie mich wegzog.

»Sie sind schon beim Buchstaben J!«, schrie ich und versuchte sie aufzuhalten. »Gleich werden sie über unsere Familie sprechen.«

Tante Ivana zog mich weiter. Ich stemmte die Hacken in das Pflaster und hielt mich am Türrahmen der Bäckerei fest, vor der ich vor zwei Wochen auf den Rettungswagen für die kranke Hana gewartet hatte. Die Tante löste mein Finger und schleifte mich weiter. Sie rannte fast, so eilig hatte sie es, aber es war schon zu spät.

»Kalaš Jan«, meldete der Funk. »Zustand zufriedenstellend. Kalašová Marta, Zustand kritisch. Karásková Dagmara, Zustand unverändert, Karásek Karel, Zustand kritisch, Karásek Ota, Zustand unverändert, Karásková Rosa …« Das war Mama. Die Stimme schwieg für einen Moment. Die Tante zog mich weiter und ich zerrte nicht mehr an ihr. Auf einmal wollte ich so weit wie möglich fort und den Worten entkommen, die ich ahnte.

»Verstorben«, sagte die Stimme und mehr hörte ich nicht, denn ich fing schrecklich zu heulen an. Ich schluchzte laut und kreischte: »Nein, Mama, nein!«

Die Leute drehten sich nach uns um, aber sie dachten wohl, dass ich nur ein unartiges Kind war, das sich seiner Mutter widersetzte, und sahen uns empört an. Nichts davon bekam ich mit. Ich fühlte nur furchtbaren Kummer, Einsamkeit und Kälte und wollte auch sterben. Ich bemerkte, dass mich jemand aufhob und an sich drückte, und für den Bruchteil einer Sekunde hoffte ich, dass es ein Versehen war und Mama gekommen war, um mich zu trösten, aber es war nur Tante Ivana. Sie trug mich fort vom Platz. Über ihre Wangen liefen Tränen.

Hana

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