Читать книгу Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin - Alessandro Baricco - Страница 4
Einführung
ОглавлениеManchmal werden Antworten deshalb besonders provokant formuliert, damit die dazugehörigen Fragen deutlicher zum Ausdruck kommen. Das ist zum Beispiel bei diesem Buch der Fall. Wenn man es liest, könnte man den Eindruck bekommen, es enthielte hauptsächlich Gewissheiten; beim Schreiben ging es mir jedoch in erster Linie darum, einige meiner Zweifel darzustellen. Fragen, die sich eigentlich jeder spontan stellen müsste, der aus Liebhaberei oder beruflich mit ernster Musik zu tun hat, und die ungefähr so lauten könnten: Kann man heute noch guten Gewissens von der kulturellen oder moralischen Überlegenheit ernster Musik sprechen? Entspricht die Art und Weise, wie sie konsumiert wird, nur anachronistischen Riten, oder hat sie noch etwas mit unserer Zeit zu tun? War die Neue Musik, dieses unantastbare und unbequeme Totem, ein intellektuelles Abenteuer oder nur ein raffinierter Schwindel? Und: Hat es heute noch Sinn, Musik zu komponieren, oder ist das eine unverbindliche Übung für wenige Auserwählte, die sich in einen Elfenbeinturm zurückgezogen haben?
Auf den ersten Blick scheint es sich um verschiedene Fragen zu handeln, aber in Wirklichkeit sind es nur die verschiedenen Aspekte einer einzigen Frage: Wie haben Theorie und Praxis der ernsten Musik auf den Zusammenstoß mit der Moderne reagiert? Die vier Essays in diesem Buch versuchen, darauf einige Antworten zu geben; vor allem geht es dabei jedoch darum, diese Frage genauer zu artikulieren und sie über das Niveau von Foyergeplauder zu erheben, indem sie mit einem theoretischen Unterbau versehen wird, der auch der Herausforderung einer wirklichen Reflexion standhält. Mir wäre es am liebsten, wenn die vier Kapitel wie lange Aphorismen gelesen würden: jene flüchtigen Momente, in denen das Denken sich in Bewegung setzt, bisweilen die Triebkraft des Paradoxons benutzt, unfundierte oder allzu gewagte Formulierungen wählt oder sich apodiktische Provokationen erlaubt und immer das Spektakuläre neuer, vorläufiger Wahrheiten sucht. Darin liegen zugleich die Stärken wie die Grenzen des Aphorismus: Er hebt das festgefahrene Denken mit Hilfe des dünnen, spitzen Hebels der Intuition aus den Angeln, aber selbst dann, wenn er sich in Form von unumstößlichen Sentenzen äußert, setzt er die Reflexion lediglich in Gang, niemals führt er sie bis zu Ende. Dieses Buch identifiziert sich mit dieser speziellen Form der Guerillataktik. Mit der List des Fragenstellens versucht es, ein konsolidiertes System von Gewissheiten zu erschüttern. Selbst dort, wo es Antworten formuliert, sucht es in Wirklichkeit nur nach ihnen.
Vorneweg noch ein paar lexikalische Erläuterungen.
Ich verwende den Begriff »ernste Musik« für das, was oft auch als »klassische Musik« bezeichnet wird. Beide Begriffe sind möglich. Meine Wahl erschien mir lediglich ein klein wenig präziser.
Im dritten Kapitel geht es um zeitgenössische Musik. Mit dem Etikett »Neue Musik« ist jene Bewegung gemeint, die von der Wiener Avantgarde ausgeht, dann in Darmstadt1 theoretisch fundiert und schließlich von der sogenannten Zweiten Avantgarde wieder aufgenommen wird. Natürlich gab es im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur diese Musikströmung, und an vielen bedeutenden Kapiteln ihrer Geschichte haben Autoren mitgeschrieben, die zu dieser Bewegung ein zwiespältiges oder gar antagonistisches Verhältnis hatten oder haben. In dem Moment, in dem wir uns mit zeitgenössischer Musik auseinandersetzen, ist diese Strömung jedoch unweigerlich unser erstes und wichtigstes Gegenüber. Ich möchte noch hinzufügen, dass einige Betrachtungen über die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen diese Musik entstanden ist, sich hauptsächlich auf die Analysen der Situation in Italien gründen. Das restliche Europa und vor allem die USA könnten vielleicht andere Erfahrungen beisteuern, und ich hoffe, dass das auch geschehen wird.
Zum Schluss: Ich verwende den Begriff »Moderne« auf ziemlich allgemeine und – man könnte sagen – undifferenzierte Weise. Auf anderen Gebieten, vor allem in der Philosophie, würde man ihn sehr viel genauer definieren müssen. Zweifellos beziehen sich viele der Betrachtungen in diesem Buch auf ein Phänomen, das man eher als »Postmoderne« bezeichnen müsste. Die Welt der ernsten Musik, die sich so hervorragend auf die Pflege der Vergangenheit versteht, ist jedoch wenig vertraut mit dem zeitgenössischen Denken. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, das Problem auf möglichst einfache Weise darzustellen. Und so verwende ich den ökumenischen Begriff der »Moderne« für den neuen Horizont, der entstand, nachdem jenes gesellschaftliche und ideologische Szenarium untergegangen war, das die Idee der ernsten Musik hervorgebracht hatte (das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts, die Romantik, der Idealismus). Mir ist klar, dass es sich um einen Horizont handelt, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute) und der unendlich viele Facetten hat: Sie alle zu berücksichtigen würde jedoch diesem Buch nicht zu mehr Wahrheit, sondern nur zu mehr Unklarheit verhelfen. Zum Abschluss: Mit der Moderne ist es wie mit dem Jazz. »Wenn du erst fragen musst, was es ist, wirst du es nie erfahren.« (Louis Armstrong)