Читать книгу Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin - Alessandro Baricco - Страница 5

1 Die Ideologie der ernsten Musik

Оглавление

Ähnlich wie die Grenzen der riesigen Reiche vergangener Zeiten haben auch die der ernsten Musik etwas Hypothetisches und zugleich Absolutes. Keiner weiß genau, wo sie sind, doch dass es sie gibt, steht außer Zweifel. Man legt eine Geographie der Musikerfahrung zugrunde, die unüberwindliche und äußerst präzise Grenzen zieht, nach denen, wie immer man es drehen und wenden will, Brahms und die Beatles verschiedenen Gebieten angehören und nicht dieselbe Sprache sprechen. Die Karten jener Welt bleiben jedoch in einer märchenhaften Unbestimmtheit und sind notwendigerweise ungenau und immer provisorisch. Die Kulturindustrie bedient sich ihrer mit unbeirrbarer und äußerst effizienter Sturheit; sie gibt sie für wahr aus und erstellt auf ihrer Grundlage eine Einteilung der Marktsegmente, die sich durchaus bewährt hat. Was das Publikum angeht, so macht es das Spiel gern mit und akzeptiert dankbar ein System, das sein Ordnungsbedürfnis befriedigt und sich letztlich nicht von dem unterscheidet, dem es tagtäglich im Supermarkt begegnet.

Wie so oft beeinträchtigt auch hier die mangelnde Begründung des Systems nicht seine Funktionalität: ein Phänomen, dessen Gültigkeit inzwischen sogar die Philosophie, die Wissenschaft der Begründungen, eingestehen musste. Wie so oft neigt man allerdings auch hier dazu zu vergessen, wie irrbegründet die Voraussetzungen ursprünglich waren, und schreibt der Konvention einen gewissen Wahrheitsgehalt zu. Als besonders starrköpfig und pedantisch in dieser Hinsicht hat sich der Liebhaber ernster Musik erwiesen. Mehr als jeder andere fürchtet er sich davor, dass die Karten neu gemischt werden könnten, und neigt deshalb dazu, besagte Aufteilung als ein unbestreitbares und der Wahrheit entsprechendes Apriori zu betrachten. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Konsument ernster Musik ist – nicht ganz zu Unrecht – überzeugt, innerhalb der Musikwelt die Schweiz zu bewohnen: eine Oase in der Wüste des schlechten Geschmacks. Indem er die herrschende Ordnung verteidigt, verteidigt er zugleich seine Besonderheit und seine Vorrangstellung.

Mehr als man allgemein zugeben will, handelt es sich um einen ebenso energisch wie blind geführten Kreuzzug: Der Konsument ernster Musik verteidigt etwas, was er gar nicht kennt. Wie in gewissen riesigen Reichen vergangener Zeiten ist es auch hier leichter, jemanden zu finden, der bereit ist, die Grenzen des Reichs zu verteidigen, als jemanden, der diese Grenzen tatsächlich gesehen hat. Die Besonderheit ernster Musik und ihre vermeintliche kulturelle Vorrangstellung werden selten und, wenn überhaupt, wenig konsequent infrage gestellt; als Parolen ohne Fundament dienen sie als theoretisches Kopfkissen für den Schlaf wohlmeinender Abonnenten. Sogar professionelle Musiktheoretiker sind in Verlegenheit, wenn sie eine plausible Legitimation dafür anführen sollen. Wie sollte dann erst das normale Publikum dazu in der Lage sein?

Würden wir das Publikum, das Konzertpublikum, fragen, worin sich eigentlich die ernste Musik von der Popmusik unterscheidet, also Berio von Sting und Vivaldi von Elvis, bekäme man einigen Aufschluss über die tausend Missverständnisse, die sich um diesen ganzen Komplex ranken. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Leute mit jener synthetischen Intelligenz, die das Gegenteil unkonventionellen Denkens ist, einige grundsätzliche Argumente nennen würden wie zum Beispiel: »Ernste Musik ist schwieriger, komplexer« oder »Popmusik ist reine Unterhaltungsmusik, während die klassische Musik einen Gehalt hat, eine geistige, ideelle Natur«. Solche Sätze haben wie andere Gemeinplätze den Vorteil, etwas Wahres auf falsche Weise auszudrücken. Man erkennt darin die beiden Seiten einer einzigen Überzeugung: Die ernste Musik verdankt ihre Besonderheit und ihre Vorrangstellung ihrer Fähigkeit – mit Hilfe des besseren Artikulationsvermögens ihrer Sprache –, die Grenzen der Immanenz zu überschreiten und uns in ein Jenseits zu entführen, das nicht genau definiert ist, aber irgendwie mit Begriffen wie Herz, Geist oder Wahrheit zu tun hat. Bevor wir uns fragen, ob das alles falsch oder richtig ist, sollten wir vielleicht zu verstehen suchen, wie es überhaupt so weit gekommen ist. Wie alle Vorurteile hat auch dieses eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden.

Es ist nicht falsch zu sagen, dass wir seine Entstehung der Romantik verdanken, genauer gesagt, ihrem Protomärtyrer Beethoven. Vermutlich spielt er in der Musikgeschichte eine ähnliche Rolle, wie Nietzsche sie Sokrates in der Geschichte der Philosophie zugeschrieben hat. Er hat einer Praxis sakrale Würden verliehen, die bis dahin ausgesprochen weltlich gewesen war, um nicht zu sagen kommerziell. Bei Beethoven treffen zum ersten Mal und legitimiert durch sein Genie folgende drei Phänomene aufeinander: 1. Der Musiker strebt nach der Überwindung der rein kommerziellen Auffassung seiner Arbeit. 2. Die Musik hat ausdrücklich geistige und philosophische Inhalte. 3. Grammatik und Syntax dieser Musik erreichen eine Komplexität, die die Aufnahmefähigkeit des Publikums des Öfteren auf die Probe stellt. Wie man sieht, sind diese drei Elemente eng miteinander verflochten in dem Sinne, als jedes jeweils die anderen beiden legitimiert; für sich allein wäre jedes einzelne nur ein bedeutungsloser Auswuchs. Zusammengeschweißt durch gegenseitige Notwendigkeit, bilden sie jedoch ein Modell. Sie stellen eine Formel dar, die – getragen von dem faszinierenden Pathos ihres Schöpfers, dem rebellischen, einsamen, kranken Genie – die Phantasie des bürgerlichen Publikums, das gerade im Entstehen war, beflügelte. Die Musik seiner Salons bekam nun die elektrisierende neue Identität, die hervorragend zu dem allgemeinen Streben nach irgendeiner Form von Adel passte.

Die Ideologie der »ernsten Musik« entsteht hier. Sie bezieht ihre Rolle aus dem Abstand, den diese Art von Musik plötzlich zwischen sich und einer bestimmten Musiktradition schafft, indem sie sich dieser gegenüber als überlegen betrachtet; eine Überlegenheit, die nicht mehr bloß sozialer, sondern in erster Linie geistiger Natur ist. Bis dahin hatte man diese Art von Musik sehr passend mit einem schönen Begriff aus dem sechzehnten Jahrhundert bezeichnet: als »Musica reservata«, eine elegante Umschreibung für gesellschaftliche Abgehobenheit. Das Beethoven’sche Modell hebt diese Berufung zur Elite nun über die prosaischen Grenzen von Vermögen oder Herkunft hinweg. Die ernste Musik ist die Musica reservata einer Menschheit, die über den Genuss hinausgehen und sich auf den Kurs des Geistes begeben will. Konnte sich das auserwählte Publikum jener Musik bis dahin des erlesensten Geschmacks rühmen, so durfte es jetzt zu Recht auch eine Vorrangstellung auf kulturellem und moralischem Gebiet beanspruchen.

Das alles wäre nicht passiert, hätte die Romantik nicht intuitiv den Fall Beethoven zum Modell erhoben, der sonst vielleicht eine durch Genialität bedingte Ausnahmeerscheinung geblieben wäre. Stattdessen wurde er zum ideologischen Modell, das die Romantiker nicht nur zur Legitimierung ihrer eigenen Musiklandschaft verwendeten, sondern das sie unfairerweise auch rückwirkend auf ganze Generationen von nichts ahnenden Komponisten des achtzehnten Jahrhunderts anwendeten: Leute, die mit der Dienerschaft an einem Tisch gegessen und sich ihr Brot verdient hatten, indem sie nicht weniger und nicht mehr als gute Unterhaltungsmusik schrieben. Jahrhunderte feinen Kunsthandwerks wurden so mit einem Mal Kunst. Das neu entstandene Unternehmen der ernsten Musik beschaffte sich auf diese Weise eine vornehme und weit zurückreichende Ahnentafel – eine arglose List, deren Erfinder unschwer zu erraten ist. Es ist der Hauptsponsor des Unternehmens, jene Bourgeoisie, die sich gerade anschickte, den Palast zu stürmen: reich an Geld, aber arm an Adel.

Einfach ausgedrückt: Das von den Romantikern patentierte Beethoven’sche Modell stellt eine Musik dar, die über kommerziellen Rücksichten steht und unter dem Druck ihres eigenen geistigen Anspruchs dazu gezwungen ist, ihre Formensprache auf bewundernswerte Weise zu verfeinern. Insgesamt eine engagierte, geistig anspruchsvolle und schwierige Musik. Wie man sieht, entspricht diese Beschreibung haargenau der, die das heutige Publikum von ernster Musik gibt und durch die es sich berechtigt glaubt, sich als etwas Besonderes und Besseres zu fühlen. Beinahe zwei Jahrhunderte sind vergangen, doch das Modell ist unverändert geblieben; es wird sklavisch übernommen und mit unbeirrbarem Pflichtbewusstsein weitergereicht. In der Zwischenzeit ist zwar das gesellschaftliche Subjekt jener Formel verschwunden (die Bourgeoisie des neunzehnten Jahrhunderts), sind die Worte, aus denen sie sich zusammensetzte, bedeutungslos geworden (oder weiß jemand, was »Geist« bedeutet?), sind die Ideenlandschaften, in denen sie sich bewegte, nicht mehr vorhanden (die Romantik, der Idealismus), und doch wird sie mit unerschütterlichem Vertrauen ständig wiederholt wie eine magische Formel, in der Überzeugung, dass sich ihr Zauber immer wieder aufs Neue beweisen wird. Was ist an dieser Haltung unredlich und absurd und was berechtigt?

Es ist zwar eine Binsenwahrheit, aber ich will trotzdem daran erinnern: Vor Beethoven gab es noch keinen Beethoven. Sein Schaffen begründete einen Musikbegriff, den es bis dahin nicht gegeben hatte. In seinem Werk offenbart sich uns das seltene Schauspiel, dass eine Idee aus dem Nichts auftaucht und lebendig wird. Es ist das Wunder des »ersten Mals«, jenes Moments, in dem das Mysterium des Noch-nie-Dagewesenen den Impuls der Benennung auslöst. Heute gibt es tausend Dinge, die wir mit einem Begriff wie »Sehnsucht« verbinden. Aber man muss sich einmal vor Augen halten, wie es war, als zum ersten Mal etwas so Unstillbares auftauchte, dass man es mit einem neuen Namen eindämmen musste. Das war der Moment, in dem der Begriff »Sehnsucht« entstand. Das erste Mal. Hier erfuhr die zarte Verbindung zwischen Idee und Wirklichkeit ihren unwiederholbaren Höhepunkt und ihr Höchstmaß an Authentizität. Eine Idee wie die der ernsten Musik erlebte im Lauf der Zeit ihren Moment unwiederholbarer Wahrheit, der mehrere Jahrzehnte andauerte, in denen er die experimentelle Antwort auf eine Situation war, die sich auf keine andere Weise ausdrücken ließ. Die Benennung und die Kodifizierung dieser Situation waren für die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts ein Weg, ihre Gegenwart zu erkennen und ihre Identität zu definieren. Das, was an Wahrem in der endgültigen Formel dieser kollektiven Selbstfindung lodert, brennt immer schwächer, je weiter wir uns von dem Zeitpunkt der ursprünglichen Authentizität entfernen. Und das ist es, was heute mit systematischer Regelmäßigkeit passiert. Was im neunzehnten Jahrhundert noch Entdeckung, Name, Idee war, ist nur noch eine leere Worthülse, die nicht mehr infrage gestellt wird. Was zu seiner Zeit ein revolutionäres Projekt war, ist heute ein reaktionärer Anachronismus, denn es wird ohne Begründung als Vorschrift ausgegeben und wie ein stumpfsinniger Reklamespruch über eine Ware gestülpt, deren Attraktivität man auf diese Weise steigern will. In dem selbstgefälligen Enthusiasmus des Konzertabonnenten, der bei den Mahler’schen Lautstärken genießerisch erbebt und dabei überzeugt ist, etwas objektiv Hochwertigeres zu leisten als bei einer Kostprobe kulinarischer Spezialitäten, schwingt immer leise, aber unüberhörbar der Unterton der Hochstapelei mit. In der Verklärung so mancher Werke der modernen Musik, die allein dank ihrer Komplexität und ihres freiwilligen Exils außerhalb des kommerziellen Höllenbetriebs direkt in die erhabenen Kreise des »Geistes« emporgehoben wird, zeichnen sich die Konturen schieren Betrugs ab. Im hysterischen Beifallsgetrampel des Opernfans nach dem x-ten hohen Ton des Tenors verbirgt sich etwas, was höchstens er selbst – und ohne es erklären zu können – vom Gebrüll eines Fußballfans im Stadion unterscheiden könnte.

So unangenehm es auch klingen mag: Selbst die Ansicht, ernste Musik sei an sich schon ein »Wert«, den es zu verteidigen gilt, hat, solange sie lediglich auf blind übernommene Parolen gestützt ist, keine wirkliche Legitimation. So ist zum Beispiel nicht einzusehen, warum man frohlocken sollte, nur weil so viele junge Leute in die Konzertsäle strömen. Gibt es jemanden, der mir glaubhaft erklären kann, warum ein junger Mensch, der Chopin den U2 vorzieht, deshalb eine Stütze der Gesellschaft sein soll? Und sind wir wirklich sicher, dass die Zeit, in der wir leben, sich am deutlichsten in einem Konzertsaal offenbart und nicht in einem Kino oder auf der Straße? Die Schmiede solcher falscher Wahrheiten ist in diesem wie in anderen Fällen eine unterschwellige, aber äußerst hartnäckige Form von Moralismus. Dieselbe, die die ernste Musik bedenkenlos als Katalysator für eine vermeintlich größere Menschlichkeit einsetzt. Auch hier gibt das Beethoven’sche Totem den Ton an: Seit der Ode an die Freude gilt die ernste Musik als offizielle Sprache für all jene Gelegenheiten, in denen die Menschheit zeigt, wie gut sie es meint. Aber das, was an dem gemeinschaftlichen Ritual des Chorgesangs anfangs noch authentisch war (und auch darüber könnte man diskutieren), bleibt nicht automatisch für immer so; um diese Authentizität wieder zu neuem Leben zu erwecken, reicht es jedenfalls nicht, diesen Ritus vor der gefallenen Berliner Mauer zu zelebrieren. Unter dem Ansturm der Moderne ist diese Musik so heftig explodiert, dass ihre Splitter bis in die verschiedensten Winkel der kollektiven Vorstellungswelt geflogen sind. Es ist kein Zufall, wenn man sie heute genauso als Jingle für das vereinte Europa wiederfindet wie als Hintergrundmusik zu den sadistischen Gewaltakten von Clockwork Orange.

Ohne sich davon beirren zu lassen, betrachtet sich das Publikum der ernsten Musik jedoch weiterhin als kulturell und moralisch »besonders«. Und insgeheim als überlegen. Den offenherzig reaktionären Zug dieses Vorurteils darf man nicht unterschätzen. Instinktiv vermittelt er die Auffassung, dass ein gewisses Repertoire und ein gewisser Teil des Musikbetriebs so etwas wie ein unantastbares Reservoir von Werten darstellen, das man, ohne von der Korruption der Moderne behelligt zu werden, anzapfen kann. Er ist eine dauerhafte Versicherung gegen den Verfall der moralischen und geistigen Institutionen, an denen der Zahn der Zeit allzu heftig genagt hat. Die ernste Musik wird so zu einer Exklave, in der ethische Kategorien und kulturelle Totems unantastbar werden und überleben. Die illusorische Vorstellung ist dabei, dass man beim bloßen Betreten eines Konzertsaals automatisch in jene Exklave gelangt. Man verlässt die chaotische Gegenwart, deren Dechiffrierung noch aussteht, und konsumiert lieber die kristallklare »Wahrheit«, die der Konzertbetrieb für uns in Spiritus konserviert hat.

Auf diese Weise wird die gesamte ernste Musik von den Madrigalen des sechzehnten Jahrhunderts bis zum späten Strauss der Vier letzten Lieder zu einem riesigen Spinnennetz, in dem Parolen, Gefühle, Wahrheiten und Ideale hängen bleiben und sogleich mumifiziert und einer Menschheit mundgerecht vorgesetzt werden, die das Bedürfnis hat, sich als etwas Besseres zu fühlen. Der springende Punkt bei diesem Mechanismus ist die listige Ausschaltung der Gegenwart. Und so passiert es, dass der größte Teil der ernsten Musik, die heute gepflegt wird, einem System gleicht, in dem das Streben nach Höherem, das über die Misere des puren Daseins hinaushebt, aus unserer Welt hinausgelenkt und in ein Naturschutzgebiet umgeleitet wird, das die Replik einer verschwundenen Welt darstellt. Für die Zuhörerschaft der ernsten Musik ist die Geschichte eindeutig rückwärtsgewandt. Der Konsum dieser Musik ist fast immer auch eine Form des verdeckten Widerstands gegen den Strom der Zeit. Von der Moderne bedroht, rudert der Konsument ernster Musik mit großer Würde rückwärts, in der Furcht vor den Strudeln der Zukunft und voller Sehnsucht nach den immer ferneren friedlich sprudelnden Quellen. Und genau mit dieser Gegenbewegung beraubt er eine grandiose Musiktradition ihres spezifischen Wertes und verurteilt sich selbst und diese Tradition, in den Untiefen eines ebenso erlesenen wie unsinnigen Vergangenheitskults dahin zu dümpeln. Eine Haltung, die die ernste Musik zum Mythos erklärt und sie außerhalb der Zeit ansiedelt, bedeutet für diese den Tod; zugleich geht der ganze Reichtum an Wünschen und Hoffnungen verloren, der sie bei ihrer Entstehung begleitet hat. Sie wird zu einem Hobby, das sich von den anderen Hobbys lediglich dadurch unterscheidet, dass es vornehmer wirkt.

Nur eines könnte die ernste Musik vor der schleichenden Verwandlung in betrügerische und obskure Praktiken bewahren: das instinktive Bedürfnis, sie mit der Moderne kurzzuschließen. Sie muss sich wieder in die Idee, die lebendig wird verwandeln und darf nicht mehr als leere Parole missbraucht werden. Es gibt keine andere Möglichkeit, den utopischen Aspekt zu retten, den sie tatsächlich besitzt und den der gesunde Menschenverstand sehr wohl wahrnimmt: ihre objektiv vorhandene Resistenz gegen alle Versuche, sie in der Unmittelbarkeit des Konsums aufgehen zu lassen, und ihr Verweis auf eine ebenso rätselhafte wie kostbare Transzendenz. Der gesunde Menschenverstand übermittelt uns zwar diese Chance, das, was einfach ist, von der Bedeutungslosigkeit zu erlösen, lässt sie sich jedoch dann gleich wieder wegnehmen, indem er sie als eine selbstverständliche Gegebenheit betrachtet und damit ihr revolutionäres Potenzial sofort wieder zunichte macht. Beethovens Fünfte und sogar noch der sentimentalste Walzer von Chopin reichen zwar immer noch weiter als der Blick, der fragend auf sie gerichtet ist – und das ist das unverwüstliche Andere, das ihnen eigen ist –, aber wenn dieses Jenseitige in eine Formel verpackt ist und zusammen mit den Eintrittskarten geliefert wird wie eine Gratisbeilage für träge Geister, dann werden auch Beethovens Fünfte und der Chopin-Walzer zu Abziehbildern ihrer selbst, dann sind sie wieder stumme Ware, die den Gesetzen des bloß Existierenden unterliegt. Werken wie diesen wohnt eine Kraft inne, die die Mauer des Realen zu durchbrechen vermag, wenn sie dem legitimen Anspruch, dass das Seiende nicht alles sein kann, Ausdruck verleiht. Macht man jedoch aus dieser Kraft die Ikone einer überholten Mythologie, dann ist es so, als würde man sie domestizieren und in das Naturschutzgebiet einer sonntäglichen Spiritualität einsperren.

Die Idee der ernsten Musik siecht dahin in einem Kulturbetrieb, der sie als absoluten Wert behandelt und sie ungerührt als Privileg eines selbstzufriedenen Zirkels lebender Toter weitergibt. Aber die Musik, die einst Anspruch auf diese Idee hatte, weil sie der Ausdruck ihres eigenen Rätsels war, ist immer noch da und verlangt immer noch, dass jede Epoche auf sie zurückkommt und ihre revolutionäre Kraft freisetzt. Die Besonderheit und die Vorrangstellung, die sie immer noch für sich fordert, dürfen jedoch nicht als etwas Gegebenes betrachtet werden, sondern als etwas Problematisches, das ihnen jedes Mal entrissen werden muss, als wäre es das erste Mal. Mit einem Wort: Es ist keine Tatsache, sondern eine Aufgabe. Es ist eine Hyperbel, die es nachzubilden gilt und die alles andere als selbstverständlich ist, wenn auch nicht unmöglich. In einer Rezeption, die diese Musik mit den Instrumenten und den Szenarien der Moderne in Wechselwirkung bringt, würde dieselbe Musik auf einmal anders klingen. Keiner kann sagen, was von ihr übrig bleiben würde. Unter dem Druck der Flutwelle der Moderne wäre es nicht zu vermeiden, dass zumindest ihre geographische Beschaffenheit in Mitleidenschaft gezogen wäre. Doch die zerklüfteten Umrisse ihrer Trümmerlandschaft formten auf jeden Fall wieder eine Gestalt, und diesmal keine heilige ererbte Ikone, sondern eine Gestalt der Moderne. Ein Name, der entsteht, und kein überliefertes Schlagwort. Ein Graffito der Gegenwart und keine Postkarte aus der Vergangenheit.

Wer sich wirklich für ernste Musik interessiert, darf sich nicht mit weniger zufriedengeben. Nicht mit weniger als solch einer kleinen, rettenden Apokalypse. Diese Apokalypse hat einen Namen: Interpretation.

Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin

Подняться наверх