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Nur wenige Zeilen zur Erklärung: Wie entstand der vorliegende Text? Vor einiger Zeit dachte ich, es wäre schön, wenn man die ganze Ilias öffentlich vorlesen würde. Als ich jemanden gefunden hatte, der bereit war, dieses Projekt zu realisieren, wurde mir sofort klar, dass man den Text so, wie er ist, im Grunde nicht vorlesen kann: Dazu wären eine etwa vierzigstündige Lesung und ein äußerst geduldiges Publikum nötig gewesen. So kam mir der Gedanke, den Text für eine öffentliche Lesung zu bearbeiten. Eine Übersetzung musste ausgewählt werden. Unter den vielen angesehenen entschied ich mich für die Prosaübersetzung von Maria Grazia Ciani (Edizioni Marsilio, Venedig 1990), sie kam meinem Empfinden am nächsten. Und dann nahm ich eine Reihe von Eingriffen vor.

Zunächst sollte die Lesung auf eine Dauer reduziert werden, die mit der Geduld eines modernen Publikums vereinbar war. Fast nirgends habe ich ganze Szenen gestrichen, sondern mich darauf beschränkt, so weit wie möglich die in der Ilias so zahlreichen Wiederholungen zu reduzieren und den Text ein wenig zu straffen. Auf Zusammenfassungen habe ich verzichtet und stattdessen knapp gefasste Sequenzen geschaffen, wozu ich Teile des Originaltextes verwendete.

Die Regel sah vor, dass ich nicht ganze Szenen streichen würde, doch es gibt eine bedeutende Ausnahme: Ich habe alle Auftritte der Götter gestrichen. Wie man weiß, erscheinen die Götter in der Ilias ziemlich oft, sie lenken die Ereignisse und bestimmen den Ausgang des Krieges. Dem modernen Leser dürften diese Teile ziemlich fremd vorkommen, sie unterbrechen häufig die Erzählung und verlangsamen dadurch das Erzähltempo, das sonst außergewöhnlich wäre. Ich hätte sie trotzdem nicht gestrichen, wenn ich von ihrer Notwendigkeit überzeugt gewesen wäre. Allein vom erzählerischen Standpunkt aus sind sie es jedoch nicht. Die Ilias hat ein solides laizistisches Gerüst, das sichtbar wird, sobald man die Götter ausklammert. Hinter der Tat eines Gottes zitiert der homerische Text fast immer eine menschliche Tat, die die göttliche verstärkt und gewissermaßen wieder auf die Erde stellt. Wie sehr auch die göttlichen Taten das Unermessliche übermitteln mögen, das oft im Leben durchscheint, die Ilias zeigt eine überraschende Hartnäckigkeit, stets in den Ereignissen eine Logik zu suchen, die den Menschen als letzten Urheber hat. Nimmt man also aus diesem Text die Götter heraus, bleibt keine verwaiste, unerklärliche Welt übrig, sondern eher eine äußerst menschliche Geschichte, in der die Menschen ihr Schicksal so erleben, als würden sie eine chiffrierte Sprache lesen, deren Code ihnen fast vollständig bekannt ist. Schließlich: Die Götter aus der Ilias zu entfernen, ist gewiss nicht die beste Methode, um die homerische Kultur zu verstehen, doch kann man meines Erachtens so jene Geschichte zurückbekommen, indem wir sie auf die Bahn unserer zeitgenössischen Erzählungen bringen. Wie Lukács sagte: Der Roman ist das von den Göttern verlassene Epos.

Mein zweiter Eingriff bezieht sich auf den Stil. Schon die Übersetzung von Maria Grazia Ciani ist eher in einem lebendigen Italienisch abgefasst als in einem philologischen Jargon. Ich habe versucht, in dieser Richtung weiterzugehen. Vom lexikalischen Standpunkt aus habe ich versucht, alle archaischen Ecken und Kanten zu beseitigen, die vom Kern der Dinge ablenken. Und außerdem suchte ich nach einem Rhythmus, nach der Kohärenz eines Taktes, nach einem Tempo von besonderer Schnelligkeit oder eigentümlicher Langsamkeit. Das habe ich getan, weil ich glaube, dass die Aufnahme eines Textes, der aus so großer Ferne kommt, vor allem anderen bedeutet, dass wir ihn in unserer eigenen Musik singen.

Der dritte Eingriff ist evidenter, auch wenn nicht so bedeutend, wie es aussieht. Ich habe die Erzählung ins Subjektive gewendet. Ich wählte eine Reihe von Personen der Ilias aus und ließ sie die Geschichte erzählen, so dass sie den außenstehenden homerischen Erzähler ersetzen. Größtenteils handelt es sich um eine rein technische Angelegenheit: Anstatt zu sagen »der Vater nahm die Tochter in die Arme«, haben wir in meinem Text die Tochter, die sagt »mein Vater nahm mich in die Arme«. Das hat natürlich mit dem Zweck der Arbeit zu tun. Es hilft dem Vorleser bei einer öffentlichen Lesung, wenn er eine Gestalt hat, an die er sich anlehnen kann, um nicht in eine farblose, unpersönliche Darstellung zu verfallen. Und für das Publikum von heute ist es leichter, sich in eine Geschichte hineinzuversetzen, wenn sie ihm einer erzählt, der sie selber erlebt hat.

Vierter Eingriff: Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und habe ein paar eigene Zusätze eingefügt. Hier werden sie im Kursivdruck wiedergegeben, so dass sie eindeutig erkennbar sind. Sie sind so etwas wie gekennzeichnete Restaurierungen in Glas und Stahl bei einer gotischen Fassade. Quantitativ gesehen ein verschwindend kleiner Prozentsatz des Textes. Zum großen Teil bringen sie Nuancen an die Oberfläche, die in der Ilias nicht lauthals ausgedrückt werden konnten, sondern zwischen den Zeilen verborgen wurden. Manchmal nehmen sie Stücke dieser Geschichte auf, die von anderen späteren Erzählungen überliefert werden (Apollodor, Euripides und Philostratos). Der offenbarste, aber gewissermaßen unübliche Fall ist der letzte Monolog, der des Demodokos: Bekanntlich endet die Ilias mit dem Tod Hektors und der Rückgabe seiner Leiche an Priamos; es fehlt jede Spur des troianischen Pferds und der Untergang Troias. Wenn ich an die öffentliche Lesung dachte, erschien es mir aber gemein, nicht zu erzählen, wie der Krieg dann schließlich zu Ende ging. So verwendete ich eine Situation, die in der Odyssee vorkommt (Achter Gesang: Am Hof der Phäaken singt Demodokos, ein alter Aede, vor Odysseus den Untergang Troias), und goss sozusagen die Übersetzung einiger Stellen aus »Die Einnahme Ilions« des Tryphiodor hinein: aus einem Buch mit einer gewissen posthomerischen Eleganz, das wahrscheinlich aus dem vierten Jahrhundert nach Christus stammt.

Der so entstandene Text wurde tatsächlich im Herbst 2004 in Rom und in Turin öffentlich vorgelesen. Nebenbei möchte ich sagen, dass bei den beiden Lesungen mehr als zehntausend (zahlende) Menschen anwesend waren und dass der italienische Rundfunk die römische Aufführung live übertrug, zur großen Freude der Autofahrer und der verschiedensten Hausfrauen und Hausmänner. Es kamen zahlreiche Fälle vor, wo Leute stundenlang am Parkplatz im Auto sitzen blieben, weil sie das Radio nicht ausschalten konnten. Es kann natürlich sein, dass sie ihre Familie satthatten, aber ich wollte eigentlich nur damit sagen, dass es sehr gut gegangen ist.

Jetzt soll der Text dieser merkwürdigen Ilias in zahlreiche Sprachen auf der ganzen Welt übersetzt werden. Es ist mir bewusst, dass sich so ein Paradox ans andere schließt. Ein schon in einen italienischen Text übersetzter griechischer Text wird in einen anderen italienischen Text umgearbeitet und schließlich zum Beispiel in einen chinesischen Text übersetzt. Das wäre für Borges der Gipfel gewesen. Die Möglichkeit, auch nur die Kraft des homerischen Originals zu verlieren, ist natürlich hoch. Ich kann mir nicht vorstellen, was geschehen wird. Aber ich möchte den Verlegern und Übersetzern, die beschlossen haben, sich auf dieses Unternehmen einzulassen, liebe Grüße zukommen lassen: Ich empfinde sie als meine Reisegefährten bei einem der bizarrsten Abenteuer, die ich erlebt habe.

Dem Dank, den ich ihnen schulde, möchte ich meine Anerkennung für drei Personen hinzufügen: Wahrscheinlich würde ich noch immer überlegen, ob ich die Ilias machen soll oder Moby Dick, wenn Monique Veaute nicht mit ihrem unvergleichlichen Optimismus beschlossen hätte, dass ich zuerst die Ilias mache und dann Moby Dick. Was ich jetzt von der Ilias weiß und vorher nicht wusste, verdanke ich voll und ganz Maria Grazia Ciani. Sie verfolgte dieses merkwürdige Unterfangen mit einem Wohlwollen, das ich mir nie erwartet hätte. Wenn schließlich aus diesem Unterfangen ein Buch wurde, dann schulde ich das wieder einmal der Sorgfalt von Paola Lagossi, meiner Lehrmeisterin und Freundin.

So sprach Achill

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