Читать книгу Größer als der Schmerz - Alex Tresniowski - Страница 11

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Kapitel 3

Einen Moment lang dachte ich, der Bewaffnete hätte auf uns geschossen. Ich erwartete, Lou zu Boden gehen zu sehen oder vielleicht mich selbst. Aber keiner von uns fiel hin. Der Bewaffnete hatte einen halben Meter rechts von uns den Gang entlanggezielt und ein einziges Mal geschossen.

Der Schuss war unglaublich laut. Ich hörte, wie die Kugel vom Boden abprallte und durch den Raum querschlug. Ich wusste nicht, dass Kugeln querschlagen. Aber ich hörte, wie diese Kugel in der Luft pfiff, eine andere Wand traf und wie die Patronenhülse in die Ecke zu meiner Linken fiel und dort liegen blieb. All das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Der strenge Geruch, der bei einem Schuss entsteht, lag in der Luft.

Ich drehte mich zu Lou um und sah, dass er sich an die Brust fasste, als hätte er einen Herzinfarkt. Es hätte mich nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Der Lärm des Gewehrschusses hob das Maß des Schreckens auf eine ganz neue Ebene. Dieser Mann hielt nicht nur eine tödliche Waffe in der Hand, er war auch mehr als gewillt, sie zu gebrauchen. Ich fühlte, wie sich mein Herz in meiner Brust verkrampfte, als hätte es jemand in die Hand genommen und würde nicht aufhören, es zusammenzupressen. Kalt und geradezu erdrückend wurde mir erneut klar: Ich konnte jeden Moment sterben.

Jetzt stützte Lou sich auf den Tisch, während er noch immer an seine Brust fasste. Ich konnte nicht sagen, ob er gerade einen Herzinfarkt erlitt oder nicht. Ich vermute, Lou konnte das auch nicht.

„Sie“, sagte der Bewaffnete und richtete sein Gewehr auf Lou. „Gehen Sie jetzt, und sagen Sie allen, was hier gerade geschieht.“

Lou sah mich an. Seine Fröhlichkeit war nun verflogen, und sein Blick war der gleiche, den mir zuvor meine Freundin Belinda zugeworfen hatte. Einer, der sagte: „Ist es in Ordnung, dich hier zurückzulassen?“

„Gehen Sie!“, wiederholte der Bewaffnete. „Gehen Sie jetzt!“

Lou sah mich ein letztes Mal an.

„Tu, was er sagt“, sagte ich zu ihm. „Geh!“

Lou ging zur hinteren Tür und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Auf einmal bewegte er sich schnell. Die Tür schloss sich hinter ihm und wieder waren da nur der Bewaffnete und ich. Er fing wieder damit an herumzulaufen. Ich saß unruhig auf meinem Stuhl. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich keinen Stift hätte ruhig halten können.

Der Schuss hatte alles geändert. Wenn ich zuvor noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, was der Bewaffnete vorhatte, waren sie nun weg. Doch wenigstens war bislang noch niemand getötet worden.

Der Mann blieb stehen und wandte sich zu mir, wobei er noch immer nach unten sah und den Blickkontakt mied.

„Gehen Sie an die Haussprechanlage, und sagen Sie allen, was hier vor sich geht“, sagte er.

Ich ergriff das Mikrofon und schaltete die Sprechanlage ein. Das Mikrofon zitterte in meiner Hand, ich versuchte, es ruhig zu halten.

„Wir haben einen Eindringling im Gebäude“, brachte ich in einem ruhigen und angemessenen Ton heraus. Ich vernahm das Echo meiner eigenen Stimme aus den Lautsprechern in den nahe gelegenen Räumen. „Das ist keine Übung! Folgen Sie den Anweisungen, die für einen Eindringlingsalarm zu treffen sind. Bleiben Sie alle ruhig und alles wird gut werden. Ich wiederhole: Wir haben einen Eindringling im Gebäude. Das ist keine Übung!“

Ich stellte das Mikrofon wieder hin. Der Bewaffnete schien mit meiner Ankündigung zufrieden zu sein. Ich war nur froh, dass nun alle im Gebäude wussten, dass sie in Gefahr waren. Hoffentlich würden die Lehrer anfangen, die Kinder irgendwie aus dem Schulgebäude zu bringen. Je länger der Bewaffnete bei mir blieb, desto mehr Zeit würden sie dafür haben.

„Jetzt rufen Sie die Notrufnummer 911 an“, befahl der Bewaffnete. „Rufen Sie 911 an – und einen Nachrichtensender. Sagen Sie denen, dass ich zu schießen beginnen werde.“

Ich nahm das Telefon und wählte 911 und wartete auf die Notrufleitstelle. Nach wenigen Sekunden meldete sich eine Frau.

„Um was für einen Notfall handelt es sich bei Ihnen?“

„Ja, guten Tag, ich bin in der Second Avenue in der Schule und hier ist ein bewaffneter Mann. Er sagt, er wird zu schießen anfangen.“

„In Ordnung, bleiben Sie dran“, sagte die Frau am anderen Ende.

„Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei“, sagte ich, und ich wiederholte es mit mehr Nachdruck: „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei.“

„Wo befinden Sie sich?“, fragte die Dame.

„Ich bin an der Rezeption.“

Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, sah ich den Bewaffneten, wie er einen der Kunststoffstühle hinter der Rezeption hervorholte, die Tür Richtung Eingang öffnete und den Stuhl so hinstellte, dass sie offen blieb. Danach ging er ein paar Schritte auf den Haupteingang der Schule zu. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich sehen, wie er eine der Eingangsglastüren aufstieß. Dann sah ich, wie er sein Gewehr anlegte und nach draußen zielte.

Er begann zu schießen.

Ein Schuss, noch einer und immer mehr. Peng, peng, peng, peng. Es war so unglaublich laut – wie in einem Kriegsfilm. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

„Oh“, fuhr ich erschreckt am Telefon zusammen, „er ist gerade nach draußen gegangen und hat angefangen zu schießen.“

Und dann, so als würde ich um Erlaubnis bitten, fragte ich: „Kann ich wegrennen?“

„Können Sie an einen sicheren Ort gelangen?“, fragte die Leitstellentelefonistin.

Ich fragte sie erneut, ob ich gehen oder ob ich bleiben sollte, weil der Bewaffnete mich sehen würde, wenn ich den Gang hinunterging und dann vielleicht das Feuer eröffnen könnte. Instinktiv stand ich auf. Nur ein paar Meter entfernt schoss der Bewaffnete noch immer. Ich behielt ihn im Blick. Das war meine Chance, durch die Hintertür hinauszulaufen, hoffentlich bevor er mich bemerkte und sein Gewehr auf mich richtete. Ich versuchte, meine Beine zu bewegen, doch nichts geschah. Ich versuchte es wieder, doch sie rührten sich einfach nicht. Jetzt oder nie. Wenn ich jetzt nicht wegrannte, bekäme ich vielleicht keine weitere Chance.

Der Bewaffnete hörte auf zu schießen, kam zurück zur Rezeption und schlug die Tür hinter sich zu, schnaubend vor Wut.

Ich stand noch immer an meinem Schreibtisch. Anscheinend sollte ich nicht wegrennen.

***

Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Terry meinen Verlobungsring dazu benutzt hatte, einer anderen Frau einen Antrag zu machen, hätte ich ihn auf der Stelle verlassen können. Doch das tat ich nicht. Denn in Wahrheit liebte ich Terry mehr als mich selbst. Sogar mehr, als ich Gott liebte. Ich konnte selbst nicht verstehen, wie das möglich war, doch es war so. Ich vergab Terry und blieb bei ihm.

Anscheinend sollte ich da auch nicht wegrennen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es war keineswegs so, dass ich diese Neuigkeiten gut aufgenommen hätte. Auf meinem Gesicht schmerzte die harte Ohrfeige des Betrugs. Und ich spürte das hässliche Gefühl, minderwertig zu sein, das sich dann einstellt, wenn man missachtet wird. Ich hatte diese Erfahrung schon einmal gemacht, denn ich fing erst an zu verstehen, wie groß die Wunde war, die mein Vater in meiner Kindheit verursacht hatte, nachdem er uns verlassen hatte. Und jetzt war da Terry, der womöglich das Gleiche tat. Der Anblick meines Rings am Finger einer anderen Frau löschte alles andere aus meinem Kopf. Ich konnte an nichts anderes denken als den Schmerz und die Qual, die ich empfand. Doch in mir war noch etwas anderes: Zorn. Ich fühlte mehr Zorn auf Terry als auf irgendjemand anderen, seit mein Vater mich mit einem Besenstil geschlagen hatte.

Während der ersten Jahre unserer Partnerschaft war Terry mehr als einmal fremdgegangen, aber damals waren wir jünger, und ich wusste, dass er am Ende immer zu mir zurückkommen würde. Das tat er auch. Aber jetzt waren die Dinge anders. Wir waren Eltern. Nicht nur das: Er hatte mich öffentlich betrogen. Jeder außer mir wusste davon. Er hatte mich vor der ganzen Gemeinde blamiert. Ich dachte, ich hätte mehr Respekt verdient als das. Und ich war dabei, ihn nun einzufordern.

„Jetzt reicht’s“, sagte ich zu Terry, als ich endlich unter vier Augen mit ihm sprechen konnte. „Genug ist genug. Entweder wir heiraten jetzt oder es ist vorbei.“

Und Terry machte, was er immer machte: Er entschied sich für mich. Verstehen Sie, ich glaubte an Terry und ich glaubte an uns. Selbst wenn Terry das noch nicht tat, so war mein Glaube dennoch stark genug für uns beide. Mit meinem ganzen Sein glaubte ich, dass Terry ein guter Mann war, der mich immer gut behandeln würde, auch wenn er hin und wieder strauchelte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Terry zu verlassen. An seiner Seite war der einzige Platz in der Welt, wo ich sein wollte.

Terry machte mit dem Mädchen aus dem Chor Schluss, doch als er etwas darüber erzählte, den Ring zurückzubekommen, erklärte ich ihm, dass ich diesen Ring nie wieder sehen wollte; sie konnte ihn behalten. Stattdessen gingen wir in den Juwelierladen und kauften zwei neue Ringe, einen für jeden von uns. Teure Ringe übrigens. Wir kauften sie mit einer kleinen Anzahlung und bezahlten sie in Raten über viele, viele Jahre ab. Aber ich glaubte, dass es das wert war, denn ich hatte vor, nur ein einziges Mal zu heiraten. Ich war dreiundzwanzig und ich kannte Terry jetzt seit zehn Jahren. Ich war mir absolut sicher, alle seine Dummheiten lägen nun hinter uns.

Trotzdem weigerte sich die für unsere Hochzeit zuständige Kirchenkoordinatorin, unsere Trauung vorzubereiten, weil sie sagte, dass Terry mich nicht wirklich lieben würde und es ihm mit der Heirat nicht ernst sei. Ich dachte, sie läge absolut falsch; das sagte ich ihr auch. Nicht lange danach kam auf der Straße eine Frau auf mich zu und sagte mir, ich solle nicht heiraten, weil der Mann, den ich zu heiraten beabsichtigte, kein guter Mann wäre. Ich hatte keinen Schimmer, wer diese Frau war, und beachtete sie auch nicht weiter. Im Rückblick verstehe ich, warum sie sagte, was sie sagte, und warum die Kirchenkoordinatorin so Position bezogen hatte. Wie meine Großmutter uns immer gesagt hatte, verfügen Erwachsene über viel mehr Weisheit als Kinder. Und vielleicht war diese Frau auf der Straße ein Engel, den Gott gesandt hatte und der versuchen sollte, mich auf einen anderen Weg zu bringen. Waren das vielleicht alles böse Vorzeichen, auf die ich mehr hätte achten sollen? Terry, der meinen Ring einer anderen Frau ansteckte? Unsere Kirchenkoordinatorin, die sich weigerte, unsere Trauung vorzubereiten? Eine Fremde, die mir sagte, dass er kein guter Mann sei? Vielleicht waren es böse Vorzeichen und vielleicht hätte ich sie beachten sollen. Aber das tat ich nicht. Wie bereits gesagt: Ich liebte Terry mehr als mich selbst.

Terry und ich warteten, bis wir einen Scheck über die Einkommensteuerrückzahlung erhielten. Dieses Geld verwendeten wir für ein bescheidenes Hochzeitsfest. Freundinnen von Terrys Mutter bereiteten das ganze Essen zu – jamaikanisches Hühnchen, Curry-Gerichte und sogar chinesisches Essen – und wir hielten die Zeremonie im Garten hinter dem Haus einer der besten Freundinnen seiner Mutter in Maryland ab. Jemand schmückte den Garten mit einem kleinen Torbogen und Blumen und wir stellten hundert weiße Klappstühle auf.

Einer dieser Stühle – so unwahrscheinlich das jetzt auch klingen mag – war übrigens reserviert für meinen Vater.

Ich hatte meinen Vater nicht mehr gesehen, seit er mich vor zehn Jahren verprügelt hatte. Doch trotz allem, was er mir angetan hatte, trotz der Tatsache, dass er nicht für mich da gewesen war, war in meiner Vorstellung immer er es gewesen, der mich zum Altar führen sollte, wenn ich eines Tages heiraten würde. Ich wollte eine traditionelle Hochzeit und das gehörte eben dazu. Also fasste ich mir ein Herz und rief ihn ein paar Wochen vor dem Hochzeitstermin an.

„Ich werde heiraten“, sagte ich zu ihm, „und ich will, dass du mich zum Altar führst.“

Einen Moment lang schwieg er. Dann sagte er: „In Ordnung, mich würde es auch freuen.“ An seiner Stimme erkannte ich, dass er es ernst meinte – er war froh, dass ich ihn gefragt hatte.

Größer als der Schmerz

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