Читать книгу Größer als der Schmerz - Alex Tresniowski - Страница 9

Оглавление

Kapitel 2

Der Bewaffnete legte sein Gewehr an und zielte damit auf Russ. Russ stand im Gang zum Medienzimmer. Ich wusste nicht, ob er es hineinschaffen würde. Nur eine Sekunde, dann wäre das Leben dieses Mannes vorbei. Ein Zug am Abzug, und das war’s.

Ich beschloss, dem Bewaffneten etwas zuzurufen, um ihn abzulenken.

„Was tun Sie da?“, fragte ich ihn laut.

„Sagen Sie denen, sie sollen aufhören, sich zu bewegen!“

„Sie tun nur das, was Sie gesagt haben. Kommen Sie jetzt wieder rein. Es ist alles in Ordnung.“

Der Mann ließ die Waffe sinken, kam zurück in den Raum und schloss die Tür. Ich konnte hören, wie die Tür zum Medienzimmer zugeschlagen wurde. Russ war drinnen. Er war in Sicherheit, jedenfalls für den Moment.

Ich weiß nicht, warum der Bewaffnete Russ nicht erschossen hat. Ich weiß auch nicht, warum er wieder zu mir ins Zimmer zurückkam, nachdem ich ihn aufgefordert hatte, dies zu tun. Solche Fragen stellte ich mir damals in der Situation auch nicht. Ich hatte in dem Moment nur eins verstanden: Je länger ich den Bewaffneten an der Rezeption halten konnte, desto länger dauerte es, bis er zu schießen begann.

Er fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. Plötzlich schien die Rezeption sehr klein zu sein. An einem gewöhnlichen Tag fanden dort viele Lehrer, Eltern und Schüler Platz, aber an diesem fühlte sie sich an wie ein Wandschrank. Und der bewaffnete Mann, der ständig auf und ab ging, ließ das Zimmer noch viel kleiner wirken. Zwar waren nur wir beide darin, doch ich hatte dort zum ersten Mal das Gefühl, als müsste ich ersticken.

„Wie heißen Sie?“, fragte ich ihn.

Er antwortete nicht. Er lief einfach weiter herum.

„Das ist kein Scherz“, betonte er erneut. „Ich spiele nicht herum. Das passiert wirklich. Wir werden heute sterben.“

Er wiederholte diese Worte wieder und wieder. Sein Zorn schien nicht abzuklingen, sondern nur noch größer zu werden. Also ließ ich ihn einfach reden. Was mir außerdem klar wurde: Ich sollte lieber nichts unternehmen, was ihn noch mehr in Rage bringen könnte. Vielmehr sollte ich tun, was immer ich könnte, um ihn ruhig zu halten. Und obwohl ich es zu dem Zeitpunkt nicht merkte, erkenne ich jetzt im Nachhinein, dass ich am Anfang dieses ganzen Szenarios etwas sehr Besonderes tat: Ich redete mit einem potenziellen Amokläufer wie mit jedem anderen Schüler.

Ich kann nicht behaupten, dass das mein Plan war, denn ich hatte einfach gar keine Zeit, irgendetwas zu planen. Da war einfach nur meine Stimme, die ich gebrauchte. Sie war ruhig, fest, bestimmend und kam einfach so aus mir heraus.

Was der Bewaffnete nicht sehen konnte, waren meine schlotternden Knie und zitternden Hände. Auch konnte er mein Herz nicht hören, das wie wild raste. Oder wie tief erschrocken ich war. Es gibt wohl nichts Eisigeres, als wenn man erkennt, dass plötzlich etwas ganz Schreckliches geschieht. Noch vor einem Moment sah die Welt so aus und im nächsten ist sie schon ganz anders. Noch vor einer Minute hast du nicht viel über das Leben nachgedacht, und nun fürchtest du, dass dein Leben in jeder Sekunde vorüber sein könnte. Ich hatte Angst. Wirkliche Todesangst. Angst, die jeden Nerv in meinem Körper beanspruchte. Gleichsam fühlte ich da auch dieses Grauen, ein die Seele zerstörendes Grauen, das meinen Körper schwer und schwach anfühlen ließ. Und dann war da noch diese unglaublich bleierne Traurigkeit.

Ziemlich früh wurde mir klar, dass ich mich mit dem Tod selbst in einem Raum befand. Auch dass die sehr wahrscheinliche Möglichkeit bestand, dass ich Derrick und meine Tochter LaVita nie wiedersehen würde. Dass ich sie nie wieder umarmen, küssen oder ihnen sagen könnte, wie sehr ich sie liebe. Ich wusste, dass der Mann, der da vor mir auf und ab schritt, labil war bei allem, was er tat. Ich wusste, dass der Dämon in ihm gekommen war, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten. Mir war vollends klar, wie schwierig meine Situation war. Ich wusste, jedes Wort aus meinem Mund konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten – nicht nur für mich, sondern für jeden im Gebäude. „Worte haben Macht: Sie können über Leben und Tod entscheiden“, heißt es in Sprüche 18,21. Insofern müssen wir durch unser Reden Leben in eine Situation bringen, wenn wir wollen, dass Gott sichtbar wird.

Warum also vermochte ich so ruhig zu sprechen, wenn ich doch so verängstigt war?

An genau diesem Morgen, zu Hause in meiner Küche, hatte ich Psalm 23 gelesen: „Der Herr ist mein Hirte … Er führet mich zum frischen Wasser.“ Ich las weiter: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“. Und weiter: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ (LU). Auch gestern hatte ich am Tisch in meiner Küche genau dieselben Worte gelesen: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir“. Und am Morgen davor und dem davor auch. Ich las diese Worte jeden Morgen, auf diese Weise festigten sie sich in meine Seele. Als ich dann am 20. August Gott fragte „Was machen wir jetzt?“, hatte ich im Herzen bereits eine Antwort. Gott würde mich zum frischen Wasser führen. Er würde mich trösten.

Und Gott würde das Reden für mich übernehmen.

Ich musste nicht beten, um das zu verstehen – es war einfach da. Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, am Anfang um Hilfe oder Trost gebetet zu haben, denn in diesen ersten Momenten war ich einfach viel zu durcheinander. Ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit über ein einziges Gebet sprach, und dabei ging es nicht um etwas, woran Sie jetzt denken würden.

Ich betete nämlich zu Gott, nicht müssen zu müssen.

Sie müssen wissen, dass ich bereits vorgehabt hatte, die Toilette aufzusuchen, bevor ich an die Rezeption ging, doch dann kam dieser verheerende Telefonanruf dazwischen, und danach war ich spät dran, und dann passierte all das hier. Und plötzlich spürte ich, dass ich wirklich absolut dringend zur Toilette musste. Es war fast nicht mehr auszuhalten. Vermutlich machte der Schrecken, von dem mein ganzer Körper ergriffen war, alles noch schlimmer. Also betete ich: „Herr, lass mich nicht müssen müssen. Gib, dass meine Blase sich beruhigt.“ Wie gesagt, vermutlich nicht das Gebet, das Sie in der Situation angesichts eines sich anbahnenden Amoklaufs erwarten würden, aber es war das Gebet, das ich im Stillen betete. Und zumindest für einen Moment lang war der unerträgliche Drang weg. Die Angst, das innerliche Beben und Zittern spürte ich die ganze Zeit, aber irgendwie hielt Gott mein Wasser zurück.

Darüber hinaus musste ich Gott nicht um Hilfe bitten. Er schenkte mir meinen ruhigen, freundlich-bestimmten Ton in der Stimme, weil er wollte, dass ich auf diese Weise sprach.

„Wie heißen Sie?“, fragte ich erneut, in der Hoffnung, den Bewaffneten zu beschäftigen und dazu zu bringen, auf mich zu hören. Bis jetzt hatte er nicht einmal Blickkontakt zu mir aufgenommen. Während er seine Befehle bellte, sah er stets an mir vorbei oder auf den Boden. Nie sah er mich direkt an.

Er antwortete nicht. Er ging weiterhin nur auf und ab und betonte, wie ernst er es meinte.

„Ich spiele nicht“, sagte er. „Ich weiß, dass ich sterben werde.“

In diesem Moment ging die Eingangstür zur Rezeption auf und ein Mann mittleren Alters trat herein.

Sein Name war Lou, er gehörte auch zur Schulverwaltung. Lou war eine der fröhlichsten und sorgenfreisten Seelen, die es nur geben mag. Er ging nicht einfach irgendwohin, er glitt dorthin. Er hatte ein Funkeln in seinem Blick und bewegte sich ganz leichtfüßig. Als er in die Rezeption kam, war er ebenso gut gelaunt, fröhlich und sorgenfrei wie immer. Er pfiff sogar. Mir wurde sofort klar, dass er den „Eindringlingsalarm“ nicht mitbekommen hatte. Er hatte absolut keine Ahnung davon, was hier gerade vor sich ging.

Der Bewaffnete drehte sich zu ihm um und richtete das Gewehr auf ihn.

Lou sah auf und bemerkte den Mann mit der Waffe, doch zuerst schien es ihn gar nicht zu beunruhigen. Noch immer hatte er sein breites Lächeln auf dem Gesicht. Vielleicht war sein erster Gedanke auch – so wie bei mir –, dass es sich um einen Scherz handelte. Er blieb stehen und der Bewaffnete brüllte erneut dieselben Worte:

„Das ist kein Scherz!“, rief er. „Das passiert wirklich!“ Und er stieß mit seinem Gewehr in Lous Richtung, um seine Aussage zu untermauern.

Lou erstarrte. Bevor irgendetwas anderes passieren konnte, machte ich den Mund auf. „Lou, komm zu mir hinter die Theke“, sagte ich und winkte ihn zu mir.

Aus irgendeinem Grund beeilte sich Lou nicht. Er lief langsam, als wäre er noch immer nicht sicher, dass das hier tatsächlich passierte. Da war überhaupt keine Eile in seinen Bewegungen, es schien fast, als würde er bummeln. Ich aber wollte, dass er schnell hinter die Theke kam, damit er nicht mehr so ungeschützt war und damit der Bewaffnete nicht noch wütender wurde.

Doch dafür war es zu spät.

Denn bevor Lou es hinter die Theke schaffte, griff der Bewaffnete seine Kalaschnikow fester und feuerte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Schießen hatte begonnen.

***

Wenn du klein bist und deine Mutter zu einer Kirchengemeinde gehört, dann verbringst du jede Menge Zeit in der Kirche. Meine Mutter nahm uns regelmäßig mit in die baptistische Kirche, und sie erweckte gegenüber uns den Anschein, dass dort immer etwas los war. Es gab: einen Morgengottesdienst, einen Abendgottesdienst, Geflügel zum Abendessen, eine Ferienbibelschule, diverse Aktionen und Veranstaltungen sowie Versammlungen und Chorstunden und natürlich den Kindergottesdienst. Im Grunde war die Kirche dein Zuhause, wenn du nicht zu Hause warst. Ich hatte nichts dagegen, dorthin zu gehen. Meistens gefiel es mir dort auch gut, doch ich kann nicht sagen, ich wäre mit Leidenschaft dabei gewesen. Jedenfalls nicht so wie mein älterer Bruder Timmy.

Timmy stand wirklich auf Gott. Als Kind war ich eher damit beschäftigt, mit meinen Freundinnen zu spielen, als mir viele Gedanken über die Worte der Bibel zu machen. Timmy aber studierte sie genau, und mehr noch: Er setzte in die Tat um, was er las. Als Teenager beispielsweise fastete er sogar vierzig Tage lang, so wie Jesus es in der Wüste tat.

Mein anderer Bruder John und ich konnten einfach nicht verstehen, warum er das tat, aber unsere Skepsis kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er sagte zu uns: „Ihr kommt alle in die Hölle.“

Die Kirche hörte niemals auf, unser Zuhause zu sein, wenn wir nicht zu Hause waren. Und für eine lange Zeit war sie sogar buchstäblich unser Zuhause.

Nachdem ich meinem Vater gesagt hatte, dass ich auf sein Grab spucken würde und ich wieder zu meiner Mama gereist war, um bei ihr zu bleiben, begann für uns eine lange Reise, auf der wir nichts hatten außer der Gnade Gottes, die uns führte. Nach dem Verlust unserer Mietwohnung in dem Stadthaus brachte Mama ihre Habseligkeiten in einem Lager unter, und wir beide zogen bei ihrer Freundin Connie ein. Connie hatte eine Wohnung mit drei Schlafzimmern im Nordosten von Washington, DC. Sie lebte mit ihrer Tochter Cheralyn und ihren Zwillingen Melvin und Kelvin dort, die ungefähr in meinem Alter waren. Wir blieben ein paar Monate dort, ehe wir zu einer anderen Freundin zogen. Danach zogen wir wieder um, dann noch mal und noch mal und ...

In etwas weniger als einem Jahr sind Mama und ich vierzehn Mal umgezogen. Manchmal wohnten wir bei Freunden, manchmal bei Fremden, die auch zu unserer Gemeinde gehörten. Manchmal hatte ich sogar ein eigenes Bett, doch meist schlief ich auf dem Sofa oder dem Fußboden. Wo wir auch hingingen, nahmen wir die uns entgegengebrachte Gastfreundschaft in Anspruch. Meistens zu lange. Wir packten ständig zusammen und zogen weiter. So muss es sich wohl anfühlen, obdachlos zu sein. Zwar lebten wir nicht auf der Straße, aber wir hatten auch kein Dach über dem Kopf, das wir unser Eigen nennen konnten.

Manchmal war ich auch der Grund, wieso wir eine Bleibe verlassen mussten. Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass ich ein freches Mundwerk hatte und so ziemlich alles von mir gab, was mir so in den Sinn kam. Na ja, nicht jeder wusste meine Ehrlichkeit zu schätzen oder meine mangelnde Bereitschaft, herumkommandiert zu werden. „Du hast es schon wieder getan“, sagte Mama dann. „Es ist Zeit für uns zu gehen.“ Also mussten wir wieder woanders hinziehen, wo man uns auch nicht wirklich wollte.

Nie war es irgendwo besser gewesen als bei Connie zu Hause. Sie bereitete die beste Hühnerleber zu und ich kam wirklich gut mit ihren Kindern aus. Das hatte auch einen Grund: Ich war nämlich in ihren Sohn Melvin verliebt. Zur gleichen Zeit interessierte ich mich aber auch für einen Jungen namens Tony, den ich aus der Nachbarschaft kannte. Tony war meine erste große Liebe gewesen – na ja, Jugendliebe, aber trotzdem. Also hatte ich Tony und Melvin um mich herum, doch ich hatte überhaupt keine Zeit für diesen anderen, dritten Jungen, der immer zum Abendessen zu Connie kam und mich ständig anstarrte, mich gerne ärgerte und mir überallhin folgte, und der eines Tages an Connies Küchentisch mir gegenübersaß und zu weinen anfing und immer wieder sagte: „Antoinette, ich liebe dich und ich will mit dir zusammen sein.“

Sein Name war Terry, er war mit Melvin und Kelvin befreundet. Als ich ihn kennenlernte, war er siebzehn, vier Jahre älter als ich. Er hatte ein süßes, fröhliches Lächeln und eine aufmerksame Art, sodass man den Eindruck hatte, dass er einem wirklich zuhört. Anfangs habe ich ihn fast immer ignoriert, doch das konnte ihn nicht bremsen. Er kam fast jeden Abend zum Essen. Danach blieb er einfach da und wich mir kaum von der Seite. An manchen Tagen musste ich unsere Wäsche in einen nahe gelegenen Waschsalon tragen, selbst dann tauchte Terry auf und begleitete mich dorthin. Er wartete sogar, um mich wieder nach Hause zu begleiten. An anderen Tagen kam er zu Connies Wohnung und fragte mich, ob ich mit ihm Ball spiele oder einfach nur so Zeit verbringen möchte.

„Willst du ins Kino gehen?“, fragte er mich eines Tages. Ich bekam tatsächlich ein bisschen Geld von Mama und wir gingen ins Kino. Nur wir beide.

„Willst du zu McDonalds?“, fragte er an einem anderen Tag. Also gingen wir zu McDonalds und teilten uns ein Kindermenü, weil unser Geld nur für eins reichte. Bevor wir obdachlos wurden, meldete Mama mich an einer Schule in Virginia an, auf die Kinder aller Hautfarben gingen. Aber als wir bei Connie wohnten, brachte Mama mich zum ersten Mal in meinem Leben in eine Schule nur für Schwarze. Es war kein schöner Ort und es gab dort eine Menge Raufereien. Um ehrlich zu sein: Ich hatte dort an den meisten Tagen Angst. Das erzählte ich Terry, und er begann, mich morgens in die Schule zu begleiten, und er tauchte auch nachmittags wieder auf, um mich nach Hause zu bringen. Manchmal lungerte er den ganzen Tag über nahe der Schule herum und warf auf dem Basketballplatz ein paar Körbe, während er auf mich wartete. Ich kann nicht sagen, dass Terry mich vor jeder Rauferei bewahrt hätte – auch ich hatte meinen Anteil an handfesten Auseinandersetzungen mit anderen Schülern –, aber er hat mich bestimmt vor einigen bewahrt.

Für eine Weile traf ich mich auch weiterhin mit Tony, sogar als Terry ständig um mich herum war. Denn Tatsache war, dass ich nicht in Terry verliebt war. Wenn überhaupt, dann in Tony. Und das brachte Terry auf die Palme. Manchmal weinte er sogar, wenn ich ihm davon erzählte, dass ich Tony treffen werde.

„Verstehst du nicht, dass ich dich liebe?“, sagte er.

Es tat mir leid, ihn weinen zu sehen, doch das hielt mich nicht davon ab, Tony zu treffen. Selbst als Mama und ich bei Connie ausziehen mussten – ich weiß nicht mehr warum, wahrscheinlich wegen etwas, das ich gesagt hatte –, erschien Terry an der Tür jeder neuen Wohnung, in die wir anschließend zogen. Er war immer in der Nähe und wartete auf mich. Er widmete mir so viel Aufmerksamkeit, dass ich mich mit der Zeit daran gewöhnt hatte, ihn als Teil meines Lebens zu betrachten. Terry füllte irgendwie diese Lücke, die dadurch entstanden war, dass mein Vater nicht da war, und ebenso wenig meine Brüder. Mein Leben war ungewiss und unsicher, aber Terry war zu einer verlässlichen Schulter geworden. Ich lernte ihn wirklich schätzen und vertraute ihm. Es dauerte nicht lange, da waren Tony und Melvin vergessen.

Als ich dann eines Tages mit ein paar Freundinnen in einem Kaufhaus war, ging ich an einem Brautmodengeschäft vorüber. Irgendwie überzeugte ich die Angestellte, mich eines der Brautkleider anprobieren zu lassen, und ich ließ eine Freundin ein Bild von mir darin machen. Ich schickte das Foto Terry und schrieb darunter: „Was hältst du davon?“

Ich denke, das war in der Zeit, in der mir klar wurde, dass ich mich in Terry verliebt hatte und dass ich erwartete, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen.

***

In der siebten Klasse ging ich von der Schule ab, weil Mama und ich so viel umherzogen. Vierzehn Mal in einem Jahr von einem Ort zum anderen zu hüpfen, erschwert es irgendwie, an den Hausaufgaben dranzubleiben. Terry war auch von der Schule abgegangen, und mit neunzehn nahm er an einem staatlichen Bildungsprogramm teil, das kostenlosen Unterricht und berufliche Ausbildung für Jugendliche ab sechzehn bot. Es ist vergleichbar mit einer gewöhnlichen Schule, man bleibt auf dem Schulgelände, besucht den Unterricht und schließt mit der Hochschulreife oder einer Berufsausbildung ab. Terry nahm an einem Programm nur für Jungs in Harpers Ferry, West Virginia, teil. Als er dorthin ging, vermisste ich ihn. Manchmal besuchte ich Terry in West Virginia und einmal im Monat kam er nach Hause, sah nach mir und verbrachte Zeit mit mir, egal wo ich gerade wohnte. Dann ging er wieder zurück und wir schrieben uns jeden zweiten Tag Briefe. Ich hob diese Briefe für viele Jahre auf.

Als ich dann sechzehn wurde, nahm ich auch an diesem Bildungsprogramm in Charleston, West Virginia, teil, um näher bei Terry sein zu können. Und er wechselte innerhalb weniger Monate von Harpers Ferry nach Charleston, um bei mir zu sein. Danach waren wir fast immer zusammen.

Wir verließen beide das Programm nach zwei Jahren – ich mit neuen Kenntnissen in Sachen Verwaltung und Maschinenschreiben sowie Terry im Baugewerbe und Schweißen. Zu der Zeit hatte meine Mutter in Washington, D.C., eine Wohnung gemietet, und ich fragte, ob ich bei ihr einziehen könne.

Sie sagte ganz energisch: „Nein!“

„Dein loses Mundwerk hat uns in der Vergangenheit von all den anderen Orten vertrieben“, begründete sie.

Terry fragte dann seine Mutter, ob wir zu ihr in ihre Wohnung in D.C. ziehen könnten, doch auch sie sagte Nein. Und plötzlich war ich wieder obdachlos. Terry und ich schliefen im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses, in dem seine Mutter wohnte, an dem dunklen Ort unterhalb des Treppenhauses. Wir verwendeten unsere kleinen Kleidertaschen als Kissen, kuschelten uns aneinander und schliefen dort unten so gut wir konnten, umgeben von Staub, Dreck und Mäusen. Morgens, nachdem Terrys Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, zur Arbeit ins Krankenhaus gegangen war, gingen wir in ihre Wohnung, duschten und aßen und schliefen vielleicht sogar noch eine Weile in seinem Bett dort. Sie hatte nichts dagegen, dass wir ihre Wohnung benutzten, wenn sie nicht da war. Aber weil wir nicht verheiratet waren, weigerte sie sich, uns dort zusammen übernachten zu lassen.

Ich kann nicht einmal sagen, dass ich unglücklich darüber gewesen wäre, unter einer Treppe zu schlafen, schließlich hatte ich Terry. Damals dachte ich, er sei alles, was ich brauche. Er war wirklich lieb zu mir, gab immer auf mich acht, sorgte für mich und kümmerte sich bestmöglich um meine Sicherheit. Er arbeitete tagsüber als Fahrer und brachte Essen und Kleider mit sowie alles, was wir zum Leben brauchten. Ich arbeitete als Bäckereiverkäuferin in der örtlichen Filiale einer Café- und Bäckereikette und brachte auch etwas Geld mit nach Hause. Es schien mir, als seien Terry und ich so wie jedes andere junge verliebte Paar – und das, obwohl wir unter einer Treppe hausten.

Das Muster, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, behielt ich auch bei, nachdem meine Mutter mich vor die Tür gesetzt hatte. Denn auch mit Terry ging es so weiter. Einer seiner Freunde kannte jemanden, der eine Immobilie im Südosten von Washington, D.C., verwaltete, und Terry erreichte, dass wir dort in einer leer stehenden Wohnung schlafen konnten. Wir trafen dort spät am Abend ein, schliefen auf dem nackten Holzboden und schlichen uns früh am Morgen wieder hinaus. Auch das erschien mir gar nicht so übel zu sein. Im Gegenteil, ich war froh, dass ich an einem Ort mit vier Wänden und einer Tür schlafen konnte. Nachdem dann die Wohnung vermietet worden war, blieben wir ein paar Wochen bei einem Freund von Terry und anschließend bei seiner Exfreundin, was nicht so optimal war, denn sie lief immer wieder in aufreizender Unterwäsche herum, um ihn zurückzugewinnen.

Sie denken vielleicht, das Letzte, was ich in solch einer Situation tun würde – kein Zuhause, kaum Geld, eine unsichere Zukunft –, wäre, dem Ganzen noch ein Baby hinzuzufügen.

Aber bitte bedenken Sie, ich war neunzehn, und das Einzige, was ich mehr als alles in der Welt haben wollte – eine eigene glückliche Familie –, war nichts, auf das ich noch viel länger warten wollte. Deshalb entschieden sich Terry und ich inmitten all dieser Turbulenzen, dass wir ein Kind haben wollten. Ich wurde also nun schwanger. Es war kein Unfall, es war genau geplant. Terry und ich hatten viel darüber gesprochen, und wir wussten beide, dass wir für immer zusammenbleiben und eine große Familie haben wollten. Wir dachten, wir würden schon einen Weg finden, um all das zu ermöglichen. Wir schlossen sogar einen Pakt, bei dem wir beide uns versprachen, niemals mit jemand anderem Kinder zu haben als nur miteinander. Selbst wenn wir uns aus irgendeinem unwahrscheinlichen Grund trennen würden, sollte der Pakt weiterbestehen: Keine Kinder, es sei denn, sie wären von ihm und mir.

Das alles bedeutet aber nicht, dass ich keine Ängste ausgestanden hätte, als ich zu einer Schwangerschaftsklinik ging und mir die Krankenschwester mitteilte, dass ich schwanger sei. Die ersten Worte, die aus meinem Mund kamen, waren: „Auf gar keinen Fall, ich kann nicht schwanger sein.“ Sosehr ich mir auch ein Kind wünschte, war ich dennoch geschockt, als ich hörte, dass ich eines bekommen würde. Aber Terry war es nicht. Er beruhigte mich und versicherte mir, dass alles gut werden würde. Terry war damals mein Held, er ging mit mir zum Schwangerschaftskurs, wiegte mich abends in den Schlaf, ließ mich quer über seinem Körper liegen, als wäre er ein großes Kissen, streichelte meinen Bauch, redete mit unserem ungeborenen Kind und sang ihm sogar Lieder vor.

Während meiner Schwangerschaft zogen Terry und ich in ein Zimmer in einer verwahrlosten Pension im übelsten Teil von Washington, D.C. Von außen sah die Pension aus, als sei sie verflucht. Von innen war es sogar noch schlimmer. Sie hatte nur zwei Etagen, drei oder vier Zimmer oben und zwei unten, von denen eines unseres war. Das andere gehörte einem Furcht einflößenden älteren Mann, der darin ein Bordell betrieb. An jedem Abend klopften fremde Männer an die Tür, begrüßten grell geschminkte Frauen und verschwanden mit ihnen im Zimmer. Und ich in meinem Zimmer musste den Kopf in einem Kissen vergraben, um nicht das schreckliche Gestöhne zu hören, das durch die Wand drang.

Eines Abends, als ich an diesem Bordell vorbeiging, hielt mich der Furcht einflößende ältere Mann im Flur auf und bot mir hundert Dollar an für Oralverkehr. Ich war zwanzig und im siebten Monat schwanger, doch das schien ihn nicht zu stören. Ich ging an ihm vorbei, doch er folgte mir den Flur entlang und wollte Sex mit mir haben. Ich rannte in die Gemeinschaftsküche, griff mir ein Messer, jagte ihn den Flur entlang zurück und schrie: „Wenn Sie mir jemals wieder nahekommen, werde ich Sie töten! Reden Sie nie wieder so mit mir!“

Als ich Terry davon erzählte, rief er seine Mutter an und bat sie, uns bei ihr einziehen zu lassen. Wieder sagte sie Nein. Ich rief daraufhin meine Mutter an, und auch sie sagte Nein. Also hingen wir fest neben einem Bordell: Ich, Terry und unser Kind, das wir in Kürze erwarteten.

Als ich schließlich nur noch ein paar Wochen bis zur Entbindung hatte, war meine Mutter einverstanden, dass ich zu ihr in ihre Wohnung nach Temple Hills, Maryland, ziehe. Vermutlich beeinflusste ihre Entscheidung, dass sie einige meiner Lebensmittelmarken abstauben konnte, wenn ich bei ihr war. Terry zog infolgedessen wieder bei seiner Mutter ein. In manchen Nächten durfte ich auch mal bei ihm bleiben. Doch ich befand mich in der Wohnung meiner Mutter, als meine Fruchtblase platzte.

Mama brachte mich schnell ins Krankenhaus und rief von dort aus Terry an, um ihn wissen zu lassen, was gerade geschehen war. Terry bestand darauf, dass meine Mutter mir den Hörer reichte, weil er mir etwas Wichtiges zu sagen hatte.

„Ich bin unterwegs“, sagte er. „Bekomm das Kind nicht, bis ich da bin! Was du auch tust, warte, bis ich da bin!“

Terry rannte den ganzen Weg von Südost-Washington bis zum Krankenhaus in Maryland – bestimmt mehr als sechzehn Kilometer. Wir besaßen damals kein Auto, also lief Terry einfach immer überall hin. Als er in mein Krankenhauszimmer platzte, schwitzte er wie ein Pferd und war so dehydriert, dass jemand ihm einen Saft zu trinken geben musste, sonst wäre er gleich ohnmächtig geworden. Zu seinem Glück, aber nicht zu meinem, dauerten meine Wehen dreizehn Stunden. Ich hatte Angst, bevor Terry eintraf, doch nachdem ich ihn an meiner Seite wusste, war alles in Ordnung. Ich war bereit, unser Kind zu bekommen. Ich war bereit für meine Familie.

LaVita war spät dran. Sie hätte schon im März kommen sollen, aber ich gebar das schöne, gesunde kleine Mädchen erst am 15. April.

Die Krankenschwester legte sie mir zuerst in den Arm. Ich hielt sie, küsste ihre winzige Stirn und reichte sie anschließend Terry. Sobald er LaVita in seinen Armen hielt, wurde er ganz emotional. Vermutlich weil er schon so viel Zeit damit verbracht hatte, mit ihr zu reden, ihr vorzusingen und für sie zu beten, als sie noch in meinem Bauch war. Es schien mir, als fühlte sie sich in seinen Armen gleich wie im Himmel. Sie würde Papas Mädchen sein, das spürte ich von Anfang an.

Terry und ich hatten endlich eine Familie. Die Familie, die wir gewollt hatten. Und nur eine Woche nach LaVitas Geburt fiel Terry vor mir auf die Knie, überreichte mir einen kleinen Verlobungsring, den er mit dem Geld von seiner Arbeit als Fahrer gekauft hatte, und bat mich, ihn zu heiraten.

Ich sagte Ja.

Der Ring war etwas zu groß für meinen Finger, daher bat ich Terry, ihn wieder zum Juwelierladen zu bringen, um ihn anpassen zu lassen. Doch da Terry als Fahrer so beschäftigt war, ging er monatelang nicht dorthin. Ich trug ihn trotzdem, musste aber immer besonders vorsichtig sein, damit er mir nicht vom Finger rutschte. Eines Tages fragte mich Terry aus heiterem Himmel nach dem Ring und sagte mir, dass er ihn jetzt anpassen lassen werde. Eine Woche verstrich, dann eine weitere, ein ganzer Monat und am Ende waren es sogar schon zwei. Alle paar Tage fragte ich Terry nach dem Ring. Er sagte, dass er noch dran denke oder dass er zu beschäftigt sei, um ihn zu holen, oder er gebrauchte irgendeine andere Ausrede. Ich biss mir auf die Zunge, aber ich drängte ihn weiter dazu, meinen Ring abzuholen.

Wir lebten damals bei Terrys Mutter. Eines Tages entschloss ich mich dazu, den Gottesdienst in der Kirche seiner Familie zu besuchen, statt mit meiner Mutter mitzugehen. Es war das erste Mal, dass ich in die Kirche seiner Familie ging. Ich betrat den Saal mit der kleinen LaVita auf dem Arm, und sofort bemerkte ich, dass uns die Leute in der Gemeinde komisch anschauten. Ich wusste nicht, warum, ließ mich aber davon auch nicht stören. Ich besuchte weiterhin den Gottesdienst und trat sogar dem Chor bei.

Eines Sonntags dann, als ich gerade während des Gottesdienstes mit dem Chor auf der Bühne stand und sang, sah ich zu einer der anderen Chorsängerinnen hinüber, einem Mädchen ungefähr in meinem Alter, und ich sah, dass sie einen Verlobungsring trug.

Meinen Verlobungsring.

Terry hatte auch ihr einen Antrag gemacht. Er war mit uns beiden verlobt.

Größer als der Schmerz

Подняться наверх