Читать книгу Größer als der Schmerz - Alex Tresniowski - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Ich war mittlerweile ziemlich geübt darin, es so aussehen zu lassen, als hätte ich nicht geweint. Ich wusste, wie ich mich ziemlich schnell zusammenreißen konnte. Von meiner Scheidung hatte beispielsweise keiner meiner Mitarbeiter etwas mitbekommen, weil ich solche Probleme für mich behielt. Ich wusste also, wie ich so tun konnte, als sei alles in Ordnung: ein paar tiefe Atemzüge, ein paar letzte Seufzer und ich war wieder gefasst.
Nach dem verheerenden Anruf, den ich über mein Handy bekommen hatte, hörte ich das Telefon auf meinem Schreibtisch klingeln. Ich wusste, es war die Empfangsdame, die sich wunderte, wo ich blieb. Zehn Minuten war ich bereits zu spät. Ich sagte ihr, dass ich in einer Minute da sei. Ich wischte jegliche Beweise aus meinem Gesicht, die verrieten, wie ich mich fühlte, und machte mich auf den Weg zur Rezeption.
Doch eine der jungen Lehrerinnen, Belinda, fing mich direkt hinter der Bürotür ab.
„Frau Tuff, haben Sie eine Minute?“, fragte sie. „Ich könnte ein wenig Hilfe bei meinen verschiedenen Versicherungsformularen gebrauchen.“
„Klar“, sagte ich. „Ich muss nur die Rezeption besetzen. Kommen Sie mit.“
An der Rezeption unterhielt sich die Empfangsdame gerade mit einer Mutter. Belinda und ich beteiligten uns kurz am Gespräch. Nach ein paar Minuten ging die Empfangsdame zum Mittagessen. Die Mutter verabschiedete sich und ging ebenfalls.
In dem Raum befindet sich ein Schreibtisch, eine Theke, ein paar Stühle, ein Unterschriftenblatt und ein Monitor, auf dem die Empfangsdame sehen kann, wer vor der Tür steht und den Haupteingang öffnen kann, der nur ein paar Schritte von der Rezeption entfernt ist. Es ist ein kleiner, ganz gewöhnlicher Raum, der quasi als Schleuse dient. Von hier aus gelangt man zu jedem Raum der Schule, wohin man eigentlich möchte.
Ich setzte mich hinter den Schreibtisch, Belinda breitete ihre Papiere aus, und wir kümmerten uns um ihre Versicherung. Das gehört zu meinen vielen Aufgaben an der Schule. Meine offizielle Arbeitsplatzbeschreibung lautet Buchhalterin, doch in Wirklichkeit mache ich viel mehr, als Rechnungen zu bezahlen und Buch zu führen. Alles, was mit Dokumenten oder Formularen zu tun hat, landet für gewöhnlich auf meinem Tisch.
Belinda brauchte Hilfe dabei, ihre Sozialleistungen zu verstehen. Sie war noch nicht lange Lehrerin und gerade erst Mutter geworden. Ihr blieben noch dreißig Tage, um sich und ihr Neugeborenes in unserem Versicherungsprogramm zu registrieren, wofür sie meine Hilfe benötigte. Belinda war eine Freundin von mir, und ich hatte ihr dabei geholfen, die Anstellung an meiner Schule zu bekommen. Während wir ihre Papiere durchgingen, saß sie hinter der Empfangstheke, und ich stand neben ihr, und wir unterhielten uns ein wenig über ihren kleinen Sohn. Ich half ihr dann dabei, den richtigen Versorgungsplan für ihre Familie zu wählen. Zu diesem Zeitpunkt war alles ganz ruhig. Die meisten Schüler waren beim Mittagessen.
So gegen 12:45 Uhr, etwa fünf Minuten nachdem ich die Empfangsdame abgelöst hatte, ging die Tür der Rezeption auf.
Ich blickte auf und sah einen ganz in Schwarz gekleideten Mann vor mir: schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, schwarze Schuhe. Er sah jung aus und irgendwie verärgert. Sein Mund war grimmig verkniffen und seine Augenbrauen waren hochgezogen. Er trug kurz geschnittenes braunes Haar und seine Nase sah aus, als sei sie irgendwann mal gebrochen worden. In seinen Händen hielt er ein schweres, langes schwarzes Gewehr – eine Hand lag am Lauf, die andere am Abzug. Das Gewehr war an einem Gurt befestigt, den er über seine Schulter gelegt hatte. Ich nahm all das ohne ein Gefühl der Angst wahr, denn mein erster Gedanke war: Ist das ein Scherz? Irgendein Junge, der mit einer Gewehrattrappe einen Streich spielt? Oder ist die Waffe echt und er will mir nur einen Schrecken einjagen? Dass die Situation dramatisch gefährlich war, fiel mir nicht sofort auf. Vermutlich gelang es mir nicht, das Szenario so schnell zu verarbeiten, wie ich es gerade vor mir sah.
Was alles veränderte, waren seine Augen. Sie sahen gestört, getrieben und unzurechnungsfähig aus. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Augen lügen nicht. Hätte sich jemand an diesem Tag ganz genau meine Augen angeschaut, wäre ihm klar geworden, dass ich geweint hatte. Und die Augen dieses Mannes offenbarten mir die Wahrheit darüber, was hier gerade geschah. Seine Augen waren weit aufgerissen und schienen irgendwie zu brennen. Dieser Mann meinte es nicht nur ernst, er meinte es todernst. Und plötzlich spürte ich das schreckliche Zusammensacken in meinem Magen, das nur entsetzliche Angst auslösen kann. Ich wusste, noch bevor er ein Wort sagte, dass ich in Schwierigkeiten war.
„Das ist kein Scherz!“, schrie er. „Ich will, dass Sie verstehen, dass das hier kein Scherz ist. Ich bin hier und das ist echt. Wir werden heute alle sterben.“
Er richtete seine Waffe auf Belinda und mich, während er diese Worte sagte, und machte mit dem Maschinengewehr deutlich, dass er nun die Kontrolle hatte. Die Waffe war alles, was er dazu brauchte, doch sein Schreien und Gefuchtel ließen meine Angst noch größer werden. Ich sah kurz zu Belinda rüber, sie drehte sich um und sah mich an. Ich sah Furcht und Panik in ihrem Gesicht. Und ich bin sicher, sie sah das Gleiche in meinem. Keiner von uns wagte, ein Wort zu sagen. Wir wandten uns wieder, still und geschockt, dem bewaffneten Mann zu.
„Hören Sie mir zu“, sagte er. „Ich will, dass Sie genau das tun, was ich Ihnen sage. Das hier ist kein Scherz. Das passiert wirklich.“ Er ging einen Schritt auf uns zu und sah Belinda direkt an. „Sie“, sagte er, „gehen Sie, und sagen Sie allen im Gebäude, dass ich hier bin. Sagen Sie ihnen, dass das kein Scherz ist und dass das tatsächlich passiert.“
Belinda sah mich an, so als wollte sie sagen: „Soll ich wirklich gehen?“ Ich sah ihr an, dass sie mich nicht allein zurücklassen wollte.
„Geh nur“, sagte ich laut. „Tu, was er sagt. Los, geh!“
Ich weiß nicht, warum der bewaffnete Mann Belinda wegschickte und nicht mich. Vermutlich werde ich das wohl nie erfahren.
Belinda wartete kurz und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn sie genauso erschrocken panisch war wie ich, müssen sich ihre Beine wie Gummi angefühlt haben. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und schritt schnell aus dem Büro hinaus, durch eine Tür, die zum Lehrerzimmer führte. Es war Mittagszeit, deshalb hielten sich viele Lehrer darin auf, und durch die Wand konnte ich Belinda brüllen hören: „Eindringlingsalarm!“ Man hatte uns beigebracht, dieses Codewort zu verwenden, wenn wir ausdrücken wollten, dass es sich um ein echtes Sicherheitsproblem handelt.
Gleich im Anschluss, nachdem sie es ausgesprochen hatte, konnte ich Tische auf den Bodenfliesen rücken hören und Schritte huschen und den ganzen Tumult, der entsteht, wenn sich ein Raum leert. Dass der Bewaffnete das auch hören konnte, war klar. Ich sah ihn an und erkannte, dass das Geräusch ihn noch mehr aufregte. Er ging mit schnellen Schritten umher, so als könnte er seine Energie nicht unter Kontrolle halten, als wollte er schreien oder aus der Haut fahren. Stattdessen hob er sein Gewehr auf Augenhöhe und bewegte sich auf die Seitentür zu.
Die Seitentür ist die Tür, die zu den Klassenzimmern führt, in denen die Kinder sind.
„Was haben Sie vor?“, fragte ich. Es war das erste Mal, dass ich ihn direkt ansprach.
„Dieser ganze Krach!“, antwortete er. „Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören, sich zu bewegen!“
„Die tun ja nur, was Sie ihnen gesagt haben“, sagte ich. „Nur keine Sorge.“
Aber der Bewaffnete hörte nicht zu. Der Tumult verunsicherte ihn. Er öffnete die Seitentür und zielte mit seinem Gewehr den Gang entlang. Nur ein paar Schritte entfernt waren zwei Türen, die zum Medien-Zimmer führten, in dem Schüler Unterricht hatten, und weiter hinten ging es zu den Klassenzimmern für Zweit- und Drittklässler, und dahinter lagen die Klassenzimmer für Technik und Musik sowie die Mensa. Wahrscheinlich befanden sich auf dieser Etage allein zweihundertfünfzig Kinder. In den Klassenzimmern über und unter uns ungefähr weitere sechshundert. Wenn auch nur eines dieser Kinder gerade jetzt den Gang betrat, würde es unmittelbar in das Blickfeld des Bewaffneten geraten.
An dem Schützen vorbei sah ich plötzlich ein mir bekanntes Gesicht im Gang: Russ, ein Mitarbeiter der Schule. Auch er hatte die Rufe „Eindringlingsalarm“ gehört, während er auf dem Weg Richtung Medien-Zimmer war. Er war dabei, sich in Sicherheit zu bringen.
Der Bewaffnete erblickte Russ und legte sein Gewehr an. Er zielte auf ihn. Die Zeit schien still zu stehen. Er wird Russ töten, dachte ich, und anschließend die Kinder.
***
Gott sagt uns, dass wir die Kinder beschützen sollen, die Unschuldigen unter uns, weil Kinder Gottes besonderer Segen für die Welt sind. „Hütet euch davor, hochmütig auf die herabzusehen, die euch klein und unbedeutend erscheinen“, heißt es in Matthäus 18,10. „Denn ich sage euch: Ihre Engel haben immer Zugang zu meinem Vater im Himmel.“ Und in Markus 9,42 lesen wir: „Wer einem Kind etwas antut, für den wäre es noch das Beste, mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen zu werden.“
Doch in der heutigen Zeit bleibt nicht jedem Kind Leid erspart, nicht jedes Kind wird beschützt. Wir machen unsere Kinder morgens für die Schule fertig und versuchen, nicht an den Terror und die Gefahren zu denken, in die sie geraten könnten. Wir versuchen, uns nicht das Monster vorzustellen, das aus der Dunkelheit tritt und bei helllichtem Tag das Leben eines Kindes zerstört. Aber wir wissen, dass es solche Monster gibt. Wir wissen, dass überall Gefahren lauern. Dann und wann sind Kinder in dieser gefährlichen Welt auf sich allein gestellt. Und manchmal fällt es ihnen auch zu, sich selbst zu verteidigen.
Mein Vater verließ meine Mutter, als ich zwei Jahre alt war. In den nächsten acht Jahren sollte ich ihn nicht einmal mehr zu Gesicht bekommen. Ich wusste nichts über ihn – wie er war, warum er uns verließ, wohin er gegangen war. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass zu jedem Weihnachtsfest für mich per Post ein Päckchen kam. Ich öffnete das Geschenk von meinem Vater, lief schnell zu meiner Mutter, zeigte ihr die Puppe, das Spielzeug oder was sonst zu zeigen war, und sie sagte jedes Jahr: „Dein Papa denkt immer an dich. Du weißt ja, dein Papa liebt dich.“
Erst viele Jahre später erfuhr ich die ganze Wahrheit. Denn an einem Weihnachtsfest traf nur ein einziges Päckchen ein, das nicht nur an mich, sondern auch an meine beiden älteren Brüder Timmy und John adressiert war. Bis dahin hatte immer jeder von uns sein eigenes Päckchen bekommen. Dieses Mal war da aber nur eins. Wir öffneten es gemeinsam und darin befand sich ein Radio. Es war ein einfaches Radio, weder ein sonderlich gutes noch ein schlechtes, doch es waren keine drei Geschenksendungen, eine für einen jeden von uns, so wie wir das für gewöhnlich erwartet hatten.
„Was sollen wir damit anfangen?“, fragte mein Bruder Timmy meine Mutter.
„Freut euch einfach darüber“, sagte sie.
Ich meine, es war letztlich John, der zwei Jahre älter ist als ich, der schließlich herausbekam, dass es nicht mein Vater war, der uns die ganzen Jahre über diese Geschenke geschickt hatte. In Wirklichkeit war es unsere Mutter gewesen. Jedes Jahr kaufte sie drei Geschenke, packte sie in je eine Schachtel, trug sie zur Post, schrieb Vaters Namen in das Feld für die Absenderadresse und schickte sie an unser Haus in Alexandria, Virginia. Wenn wir schlau genug gewesen wären, uns die Poststempel anzusehen, hätten wir gesehen, dass die Spielzeuge ihre Reise am selben Ort begannen und beendeten. Doch wir waren nicht so schlau. Wir waren einfach nur froh darüber, überhaupt Geschenke von unserem lang verschollenen Vater zu bekommen. Wir waren froh, dass er noch an uns dachte. Selbst nachdem John unsere Mutter mit dem Schwindel konfrontiert hatte, weigerte sie sich weiterhin, die ganze Geschichte auszupacken.
„Darum müsst ihr euch keine Gedanken machen“, sagte sie. „Euer Papa liebt euch.“
Meine Mutter sagte nie auch nur ein böses Wort über den Mann, der uns alle aufgegeben hatte. Nicht eine einzige Klage kam in all den Jahren, seit ich auf der Welt bin, über ihre Lippen. Wenn mein Vater seinen Kindern etwas angetan hat, indem er wegging und aus unserem Leben verschwand, und das hat er mit Sicherheit getan, dann sah es meine Mutter als ihre Aufgabe an, sein Andenken zu schützen und die Krise abzumildern. Ich bin sicher, dass sie es nicht ertragen konnte, uns die Wahrheit zu erzählen – dass unser Vater sich keinen Deut um uns scherte. Doch ich denke auch, dass sie nicht wollte, dass ihre Kinder einen Groll in ihrem Herzen hegten. Vielleicht hatte sie verstanden, dass die wahre Verletzung nicht das Verlassenwerden war, sondern die Wut, die dabei zurückbleibt.
Dass meine Mutter sich weigerte, schlecht oder überhaupt über meinen Vater zu reden, brachte mit sich, dass ich schier gar nichts über ihn wusste. Ich weiß bis heute nicht, wie sich meine Eltern kennengelernt oder warum sie sich getrennt haben. Ich weiß nicht, ob sie ein paar Jahre glücklich waren oder immer gestritten haben oder ob sie einander jemals wirklich geliebt haben – auch wenn ich das gern glauben möchte. Meine Mutter will noch immer nicht über diese Zeit reden. Für sie liegt das Ganze in der Vergangenheit und dort will sie es auch belassen.
Irgendwie war es mir auch egal, wie mein Vater war, denn ich wusste, dass ich meinen Charakter von meiner Mutter habe. Sie wuchs in High Point, North Carolina, auf, einer kleinen Stadt in den Südstaaten, wo die Sommer lang und heiß und die Erwachsenen streng, aber liebevoll waren. Sie hat sich stets ordentlich verhalten, und sie brachte ihren Kindern Manieren, Höflichkeit und Gottesfurcht bei, doch gleichzeitig war sie hart und streitlustig. Sie ließ sich nicht schikanieren, und sie wollte, dass wir, wenn wir erwachsen sind, über dieselbe Robustheit verfügen. Meine Mutter war eine Überlebenskünstlerin, schließlich zog sie ohne die Hilfe eines Mannes drei Kinder groß, und ich war stolz darauf, dass ich etwas von ihrer Lebendigkeit und ihrem Sinn für Unabhängigkeit geerbt habe. Schon als Kind war ich lebhaft und direkt. Ich sah keinen Grund dafür, meine Meinung für mich zu behalten. Hatte ich das Gefühl, etwas müsste gesagt werden, dann sagte ich es. Ich mochte es nicht, zu schweigen oder gesagt zu bekommen, was zu tun sei. Dass mein Mundwerk mich aber manchmal in Schwierigkeiten brachte, war eben der Preis dafür, dass ich so bin, wie ich bin.
Aus diesem Grund geriet dann wohl auch alles aus den Fugen, als plötzlich mein Vater wieder in mein Leben trat.
Ich war damals gerade zehn Jahre alt, als meine Mutter krank wurde. Wir wussten nicht, was ihr fehlte, doch später fand ich heraus, dass es Krebs war. Die Krankheit bereitete meiner Mutter ziemlich Angst, und sie traf die Entscheidung, dass es an der Zeit sei, dass wir unseren Vater kennenlernen – für den Fall, dass sie stirbt und wir bei ihm leben mussten. Das ist der Grund, warum sie ihn dazu gebracht hatte, uns drei Kindern zum ersten Mal an Weihnachten ein Geschenk aus seinen eigenen Händen zu schicken – das Radio. Sie wollte damit eine Tür öffnen, die zwischen uns lange verschlossen war.
In dem Sommer, als ich zehn wurde, schickte meine Mutter meine Brüder und mich weg, um bei meinem Vater und seiner neuen Frau in ihrem Haus in York, South Carolina, zu leben. Keiner von uns ist gern gegangen. Ich erinnere mich nicht mehr, wer uns dorthin gefahren hat, aber ich erinnere mich daran, wie wir drei auf der Veranda des großen weißen Kolonialhauses standen und schüchtern an die Tür klopften. Sie öffnete sich und wir sahen zwei kleine Mädchen dastehen, ungefähr in meinem Alter. Sie starrten uns eine Weile an. Und dann schlugen sie uns die Tür vor der Nase zu.
Von da an wurde alles nur noch schlimmer.
Dieser erste Sommer in York – der Sommer, in dem ich meinen Vater kennenlernte – war lang, hart und eigenartig. Es war offensichtlich, dass niemand uns dort haben wollte – weder die Frau meines Vaters noch ihre fünf jungen Töchter, geschweige denn mein Vater selbst. Er machte uns deutlich, dass wir für ihn und seine Familie nur eine einzige Zumutung waren. Anstatt uns im selben Schlafzimmer wie seine Töchter schlafen zu lassen, verlangte er von uns, dass Timmy, John und ich auf dem Boden im Wohnzimmer schliefen. Und wenn Arbeiten zu verrichten waren, hatten wir drei den Eindruck, als würden wir immer mehr als unseren gerechten Anteil erledigen müssen. Gab es beispielsweise im Garten Gemüse zu ernten, schickte mein Vater nicht etwa eine seiner Stieftöchter, sondern mich.
„Ich bin aus der Stadt“, sagte ich ihm. „Wir ernten da kein Gemüse.“
„Pass auf, was du sagst“, erwiderte er.
Irgendwann in dem Sommer bat ich meinen Vater, dass er mir unbedingt etwas kaufen musste.
„Ich brauche Damenbinden“, sagte ich.
„Ich kann dir nicht helfen“, antwortete mein Vater barsch. Er sagte nicht, warum.
„Aber ich brauche sie“, sagte ich. Doch er ließ nicht mit sich reden. Er versagte mir die Binden nicht etwa als eine Art Strafe. Ich interessierte ihn einfach nicht genug, um mir zu helfen, sie zu bekommen.
„Du bist gemein zu diesem Kind“, warnte ihn an diesem Tag seine Mutter – meine Oma. „Denke daran, wenn du sie schlecht behandelst. Sie wird eines Tages diejenige sein, die dich unter die Erde bringt, wenn du alt bist.“ Als Antwort grunzte mein Vater nur. Und er war weiterhin gemein zu uns. Es war, als ob Timmy, John und ich seine Stiefkinder wären und die Kinder seiner zweiten Frau seine richtigen. Und weil diese genau wussten und spürten, dass sie bevorzugt wurden, verhielten sich die Mädchen schrecklich uns gegenüber – insbesondere mir gegenüber.
„Aus dir wird niemals jemand“, sagte eine von ihnen. „Du wirst eine Herumtreiberin.“
„Ja, du bist ein Niemand“, sagte eine andere. „Du bist nichts und aus dir wird nichts.“
Selbst die zweite Frau meines Vaters gewöhnte sich an, mich mit ihren Töchtern zu vergleichen, und das nicht auf schmeichelhafte Weise. Wenn es nach ihr ging, waren sie klüger, hübscher und insgesamt bessere Menschen als ich. Selbstverständlich hatten sie auch eine verheißungsvollere Zukunft. Ich glaube, manchmal habe ich gehofft und mir gewünscht, mein Vater würde für mich in die Bresche springen, doch das tat er nie. Das ständige Schikanieren hörte einfach nicht auf.
Das einzig Gnädige in diesem Sommer war die Zeit, die ich mit meiner Oma – ihr gehörte das weitläufige Anwesen, auf dem das Haus meiner Tante stand – und mit meinen Tanten verbrachte: Tante Bee, Tante Katie und Tante Joann. Sie alle mochten mich anscheinend mehr als mein Vater. Oma lebte in einem großen Haus, das einen Fußweg vom Haus meiner Tante entfernt lag. Nachdem ich wusste, wie ich dorthin gelangen konnte, ging ich fast jeden Tag hin. Ich kannte meine Oma nicht wirklich und anfangs redeten wir nicht viel miteinander. Doch ich denke, nachdem der Sommer vorüber war, gefiel es ihr, mich um sich zu haben. Meine Brüder und ich halfen ihr dabei, ihre Hühner und Schweine zu füttern. Es machte uns Spaß, ihre dreckig-braunen Schweine in ihrem Stall herumzujagen und sie am Schwanz zu ziehen, damit wir hören konnten, wie sie quiekten, und dann selbst wegzurennen, wenn sie uns jagten. Manchmal jagten wir ihre Ferkel herum, sodass die Säue böse wurden und uns noch ein bisschen länger jagten. Wir alle dachten, das wäre das Witzigste auf der Welt – schreiend und lachend nur einen Schritt vor diesen wütenden Schweinen zu flüchten.
Wenn wir früh bei Oma waren, bereitete sie uns ein gutes Frühstück zu: Schinken und selbst gemachte Kekse mit zuckersüßem Ahornsirup. An vielen Nachmittagen ernteten Oma und ich Gemüse in ihrem zwanzig Hektar großen Garten. Er war so groß, dass wir es nie von einem Ende zum anderen geschafft haben. Wir ernteten gemeinsam Kürbisse, Tomaten und Blaubeeren, brachten sie in die Küche, kochten sie ein oder aßen sie an Ort und Stelle. Diese Nachmittage im Garten mit Oma waren mit die schönste Zeit meiner Kindheit.
Eines Tages, als wir Gemüse in einem ausgesprochen dicht bewachsenen Teil des Gartens ernteten, hörte ich ein zischendes Geräusch, sah nach unten und erblickte eine Klapperschlange, die direkt auf mich zukam. Ich ließ das Gemüse fallen, schrie laut auf und wollte sogleich wegrennen, doch Oma hielt mich am Arm fest.
„Nein, mein Kind, renn nicht weg“, sagte sie. „Du darfst dich von einer Schlange nicht erschrecken lassen. Du erschreckst die Schlange!“
Im selben Moment stampfte Oma fest mit ihrem Fuß auf und die Klapperschlange schlich davon. Danach ging Oma wieder zurück und pflückte weiter, so als wäre nichts gewesen.
„Lass dich nie von etwas erschrecken“, sagte sie, als sie eine dicke reife Tomate vom Strauch pflückte. „Und hör nicht darauf, was diese Kinder dir sagen. Die sind einfach nur gemein.“ Ich machte mich auch wieder ans Pflücken und hielt dabei immer mit einem Auge Ausschau nach Schlangen auf dem Boden und wiederholte im Kopf die Worte meiner Oma, damit ich sie nicht vergaß.
***
Meine Mutter kämpfte drei Jahre lang gegen den Krebs, deswegen wurden wir für insgesamt drei Sommer zu unserem Vater geschickt. Während des dritten Aufenthalts, als ich dreizehn war, verschlimmerte sich die Lage drastisch. Mein Vater und ich waren uns über die drei Jahre kein Stück nähergekommen, wir hatten uns nur noch weiter voneinander entfernt, und als ich älter wurde, wurden unsere Auseinandersetzungen noch schlimmer. Ich hatte zu allem eine Meinung, und obwohl es klar war, dass sich niemand darum scherte, was ich dachte, sagte ich sie trotzdem. Und während jeder den Eindruck hatte, er hätte das Recht, mir zu sagen, was ich tun sollte, hörte ich auf niemanden und tat nur das, was ich wollte. Das gefiel meinem Vater nicht. Doch soweit es mich anging: Wer war er, dass er überhaupt irgendeine Autorität über mich haben sollte? Er wusste nicht, was für mich das Beste war, schließlich war er nicht wirklich Teil meines Lebens. Und überhaupt, er kümmerte sich nicht um mich. Also war ich auch nicht bereit, mich von ihm herumkommandieren zu lassen.
Eines Abends forderte mein Vater mich auf, ich solle das Haar von einer der Töchter seiner Frau flechten. Ich konnte wirklich gut flechten, und ich machte das für alle meine Freundinnen und ein paar meiner Cousinen, die in der Nähe wohnten. Aber keinesfalls würde ich es für eines seiner bösen Stiefkinder tun.
„Nein“, erwiderte ich. „Lass sie es doch selber flechten.“
„Du tust, was ich dir sage“, sagte mein Vater, mit mehr Zorn in der Stimme, als ich gewohnt war.
„Mach du es doch selbst, wenn du es so sehr willst.“
Darauf stand mein Vater von seinem Stuhl auf und ging zu einem Schrank. Er zog einen hölzernen Besenstil heraus und kam direkt auf mich zu. Er zog mich auf den Flur hinaus und schlug mir mit dem Besenstil quer über die Beine. Ich schrie vor Schmerz. Er schlug mich wieder und wieder, manche der Schläge landeten auf meinen Armen und meinem Rücken, als ich versuchte, mich davor zu schützen. Andere trafen mich, wo sie sollten. Es gelang mir, wieder auf die Füße zu kommen. Ich rannte zur Tür. Ich riss sie auf, doch ich war viel zu wütend, um zu gehen, ohne etwas zu sagen. Ich glaube, ich war in meinem Leben nie über irgendetwas wütender gewesen als über diese Schläge.
„Ich werde nie wieder mit dir sprechen!“, schrie ich meinen Vater an, der mit dem Besenstil in der Hand dastand und heftig atmete. „Ich werde auf dein Grab spucken!“
Ich schlug die Tür hinter mir zu und rannte den ganzen Weg zum Haus von Tante Bee und blieb den Rest des Sommers bei ihr und Oma. Was ich damals noch nicht wusste: Für die nächsten sechs Jahre sollte ich kein einziges Wort mehr mit meinem Vater sprechen.
Als der Sommer vorüber war, reiste ich zurück nach Alexandria, um bei meiner Mutter zu sein. Aber als ich ankam, erfuhr ich, dass es kein Zuhause mehr gab, zu dem ich hätte zurückkehren können. Meine Mutter hatte unser Haus verloren. Gesundheitlich ging es ihr jetzt zwar besser, aber die vielen Arztrechnungen waren zu hoch gewesen, sie konnte die Miete einfach nicht mehr bezahlen. Daher mussten meine beiden Brüder jetzt das ganze Jahr über bei meinem Vater in York bleiben.
Und meine Mutter und ich sollten für die nächsten dreizehn Monate obdachlos sein.