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5 EINE NEUE SAMMLUNG
ОглавлениеIch wälzte mich erst aus dem Bett, als Pablo, Sharyna und Tony aus dem Haus waren. Wartete, bis ich Tonys Truck abfahren hörte, dann zog ich die Vorhänge auf. Die Morgensonne zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Ich schaute hinaus in den Garten und hörte so ein nerviges Vogelgezwitscher in der Nähe. Hinten im Garten am Schuppen war ein Minifußballtor. Ein orangefarbener Ball lag in der Ecke vom Netz. Eine sauber gemähte Rasenfläche war auf drei Seiten von Blumen und Pflanzen umgeben.
Stufen führten von der Hintertür an einen kleinen Teich, der die Form einer Acht hatte. Sehr schick. Louise meinte ja, Arschgesicht ist Landschaftsgärtner oder so. Wenigstens ist er in seinem Job auf der Höhe. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was hinter meiner alten Wohnung war – hab nie einen Fuß da rausgesetzt.
Ich schaute mir die DVDs aus Tonys Schlafzimmer an, die auf dem Boden verteilt lagen. Ich hob sie alle auf, setzte mich aufs Bett damit und ging sie durch. Die Verurteilten, Die glorreichen Sieben, Der Clou, Manche mögen’s heiß, Saturday Night Fever, Sarafina!, Babylon, Burning an Illusion. Affe hängt in den Seilen! Hat er auch was von diesseits der Jahrtausendwende?
Ich beschloss, Colleen zu suchen. Ich ging mit den DVDs raus in den Flur, sprang die Treppe runter und hörte die Waschmaschine. Das Geräusch kam aus dem Keller.
Ich öffnete die knarzende Tür und stieg eine kurze Treppe hinunter. Ich konnte getrockneten Matsch, Gras, Öl und Waschpulver riechen. Die Luft war feucht. Ich erinnerte mich an etwas aus meiner Vergangenheit. Es ließ mir das Blut gefrieren. »Du musst da nicht rein, Naomi.« Das war Dads Stimme. »Ich sehe doch, dass dich das fertigmacht. Wenn du willst, mach ich dir warmes Wasser in eine Schüssel, dann kannst du dich in deinem Zimmer waschen. Wenn du willst, kannst du dich immer da waschen.«
Ich schüttelte den Kopf und die Erinnerungsblase platzte.
Auf einer Seite des Kellers stapelten sich unzählige Gartengeräte und Werkzeuge. In einer Ecke entdeckte ich eine kaputte Schubkarre.
Ich kam unten an. Colleen war gerade dabei, Buntes von Weißem zu trennen. Sie trug ihr rot-gold-grünes Kopftuch. Pinke Slipper mit Monstergesicht umkuschelten ihre Füße.
»Oh, du hast mich erschreckt«, schmunzelte Colleen. »Willst du dein Frühstück?«
»Ich mach mir selbst was«, erwiderte ich.
Colleen schaute auf die DVDs in meinen Händen. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja, besser als die Nacht davor.«
»Was möchtest du zum Frühstück?«
»Ich hätte gerne Speck und Rührei.«
»Gib mir noch ein paar Sekunden, dann …«
»Ich kann mir selbst Frühstück machen«, fiel ich ihr ins Wort.
»Ich bin sicher, dass du das kannst.«
»Für meinen Dad hab ich auch immer Frühstück gemacht«, sagte ich. »Jedenfalls wenn was im Kühlschrank war.«
Ich drehte mich um, wollte wieder die Treppe rauf. »Hätte ich fast vergessen«, sagte ich. Ich übergab die DVDs. »Hier, kannst du wiederhaben. Ist nichts dabei, worauf ich stehe. Ist alles ganz schön alt … tut mir leid wegen gestern Abend.«
»Danke, Naomi. Der Grund, warum …«
Bevor Colleen ihren Satz beenden konnte, hatte ich mich schon umgedreht und war wieder hochgelaufen. Ich wollte sie nicht beleidigen, aber so früh am Morgen war ich noch keinem Vortrag gewachsen. Und ich hatte echt Hunger.
Rühreier und drei Scheiben Speck später setzte Colleen sich zu mir an den Küchentisch. Ich schaute sie an, kippte mir noch mehr braune Sauce auf meinen Teller. Ein großes Glas Cola stand daneben.
»Danke noch mal, dass du die DVDs zurückgegeben hast«, sagte Colleen. »Und dass du dich entschuldigt hast. Ich wollte sagen, der Grund, warum wir Sharyna keinen DVD-Player in ihrem Zimmer erlauben, ist, dass wir nicht noch mehr Ablenkungen für sie wollen. Ist so schon schwer genug, sie abends dazu zu bringen, den Fernseher auszumachen.«
»Ihr habt doch auch einen DVD-Player im Zimmer«, wandte ich ein. »Sogar Blu-ray. Und Pablo hat nicht mal einen Fernseher.«
»Tony und ich müssen ja auch keine Hausaufgaben machen«, sagte Colleen. »Und wir lernen auch nicht lesen. Als wir angefangen haben, Pflegekinder aufzunehmen, bekamen sie immer alles, was sie wollten, in ihr Zimmer. Spiele, Fernseher, alles. Aber man lernt aus der Erfahrung.«
»Die beiden haben bei mir angeklopft«, sagte ich. »Und ich wollte ihnen zeigen, dass wir Freunde sind. Ich wollte nicht, dass sie Angst vor mir haben … manchmal passiert mir das.«
Colleen nickte. »Das verstehe ich«, sagte sie.
»Gut, dass wir uns da einig sind«, sagte ich.
»Ist nur so, ich glaube nicht, dass sie schon mal irgendwas dieser Art gesehen haben …«, Colleen stammelte, »wie das, was du ihnen gestern gezeigt hast. Sharyna hatte eine ganz schlechte Nacht.«
»Aber Pablo fand’s toll«, verteidigte ich mich. »Er hat sich weggeschmissen vor Lachen.«
»Ich glaube nicht, dass es ihm gefallen hat, Naomi. Kinder in seinem Alter tun manchmal so, als würden sie etwas toll finden.«
Wieder Sozialarbeitergequatsche.
»Horrorfilme haben mir nie was ausgemacht«, sagte ich. »Hab sie geguckt, seit ich sechs war. Mum ist immer zum Woodside Market und hat welche gekauft, für eins fünfzig das Stück. Später, wenn Dad weggetreten war und ich nicht in die Schule konnte, weil ich mich um ihn kümmern musste, hab ich sie nachmittags geguckt. Und Kim im Heim kennt so einen Koreaner, der DVDs verkauft. Er will fünf Pfund für eine, aber Kim gibt ihm nur drei. Die kann gut handeln.«
»Nicht jedes Kind ist wie du, Naomi. Viele bekommen Albträume.«
»Ich bin kein Kind!«, protestierte ich.
Hätte nicht laut werden sollen. Louise lag mir ständig deshalb in den Ohren.
Ich senkte meinen Ton. »Hatte Sharyna wirklich einen richtigen Albtraum?«
»Nein, aber sie hat sehr lange gebraucht, bis sie eingeschlafen ist«, sagte Colleen. »Ich musste ihr lange vorlesen.«
»Sie hätte was sagen sollen. Dann hätte ich’s ausgemacht.«
»Das wird sie nicht machen, Naomi. Sie will, dass du sie für cool hältst.«
Dagegen konnte ich nichts sagen. Warum hätte Sharyna nicht so cool sein wollen wie ich?
Ich trank den Rest meiner Cola. Colleen sah mir zu, wie ich mir die Lippen leckte und das Glas auf den Tisch stellte. »Wann kommt Louise dich abholen?«, fragte sie.
»Um zwölf«, erwiderte ich. »Sie geht mit mir mittagessen. Hab sie seit Monaten gefragt, ob wir nicht mal zu dem TGI in Cranerley gehen können, aber so viel will sie nicht lockermachen. Sag ihr nicht, dass ich’s gesagt hab, aber Louise ist Baronin Billo. Kims Sozialarbeiterin ist mit ihr zu TGI, und als Nats fünfzehn geworden ist, war sie mit ihrer bei Harvester. Aber Louise macht mit mir auf Getto, wir gehen immer nur zu McD oder Zubaretti’s Fish and Chips an der Ashburton High Street.«
»Soll ich dir schnell die Haare fertig machen, bevor du los musst?«
»Na klar … ich meine, ja bitte! Will nicht raus und aussehen, als hätten sie mich bei Fluch der Karibik nicht mehr genommen.«
»Okay. Dann geh duschen, danach steh ich dir zur Verfügung.«
Ich spülte schnell noch die Pfanne, den Teller und mein Glas und trocknete ab. Als ich alles in den Schrank geräumt hatte, merkte ich, dass Colleen mich beobachtete. »Danke, Naomi«, sagte sie.
Bei den Lokalnachrichten ging gerade die Mittagsschicht zu Ende. Wieder ein Bandenmord in Crongton. Sie hatten einen fünfzehnjährigen Brother mit dem Spitznamen Joe Grine gefunden, er hatte abgestochen im Crongton Stream in der Nähe von Gulley Wood gelegen. Affe kniet auf Nagelbrett! Ashburton ist schon toxisch genug, aber so wie die sich in Crongton bekriegen, hätte ich echt keinen Bock, dort zu wohnen.
Ich schnappte mir die Fernbedienung und zappte durch die Musiksender. Zu viel Werbung. Es klingelte. Colleen ging hin.
In der Diele hörte ich Louise. Ich drehte die Lautstärke runter und spitzte die Ohren, um was von der Konvo mitzuschneiden. »Tut mir leid, bin spät dran«, sagte Louise. »Hatte noch einiges an Papierkram abzuarbeiten. Alles in Ordnung? Gab’s Probleme?«
Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen und hielt mir den Mund zu.
»Äh, na ja«, räumte Colleen ein. »Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit wegen Naomis DVD-Sammlung. Sie hat Pablo und Sharyna erlaubt, bei einem Film mitzugucken.«
Meine Mad-Killer-Driller-DVD erfreute sich allgemein keiner großen Beliebtheit.
»Oh«, erwiderte Louise. »Die hätte ich ihr abnehmen sollen. Leider scheinen ihre Freundinnen auch drauf zu stehen.«
»Sie war ein bisschen ungehalten, als Tony sie ihr weggenommen hat«, sagte Colleen. »Woraufhin sie in unser Zimmer gegangen ist und einige unserer DVDs einkassiert hat, aber heute Morgen hat sie sie zurückgegeben und sich entschuldigt. Also alles wieder in Ordnung.«
»Gut«, sagte Louise.
»Kaffee?«, bot Colleen an.
»Das wäre wunderbar. Wo ist sie?«
Affe sitzt auf Blubberblasen! Die sind so scheiß höflich miteinander, wundert mich, dass sie sich nicht gegenseitig die Ärsche abwischen.
»Im Wohnzimmer«, erwiderte Colleen.
Ich schaltete den Fernseher aus, sprang mit einem Satz vor Louise in die Diele und flitzte in die Küche. Dort schaltete ich den Wasserkocher ein.
»Kaffee, Louise?«
Louise antwortete nicht. Und vergaß sich zu setzen. Stattdessen blieb sie ganz still stehen, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete meine Frisur.
»Wie viele Sternchen von zehn?«, fragte ich, zwirbelte ein Zöpfchen zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das ist … schick, Naomi.«
»Hat mir Colleen gemacht. Bringt auf jeden Fall mal Abwechslung zwischen meine Schultern.«
»Ja … tatsächlich mal was anderes«, sagte Louise. Endlich parkte sie ihr Hinterteil.
»Kekse?«, bot Colleen an.
»Heute nicht«, erwiderte Louise. Sie musterte meine Zöpfchen, als würde Tarzan sich von einem zum anderen schwingen. »Ich will mir so kurz vor dem Mittagessen nicht den Appetit verderben.«
»TGI?«, schlug ich vor.
Warum es nicht wenigstens versuchen, sie kann ja nur Nein sagen.
»Fang nicht wieder davon an«, erwiderte Louise. »Das ist zu teuer.«
Baronin Billo ist zurück. Zu ihrem nächsten Geburtstag schenk ich ihr eine Cap, auf der das steht.
»Kim ist mit ihrer Sozialarbeiterin schon da gewesen.«
»Ich bin aber nicht Kims Sozialarbeiterin.«
»Das hab ich gemerkt!« Ich hob die Stimme. »Die ist nämlich nicht geizig und lässt ihr Portemonnaie nur ab und zu mal Luft schnappen.«
»Hmmm?«, erwiderte Louise. »Bin ich dir nicht großzügig genug?«
»Wenn du’s wärst, wären wir schon längst auf dem Weg zu TGI.«
Keine Ahnung, was Colleen von unserem Schlagabtausch hielt. Sie stand mit verschränkten Armen da. Aber hey-de-ho, so reden Louise und ich nun mal miteinander.
»Du bist wohl nie zufrieden, oder?«, fuhr Louise fort.
»Doch, wenn du mit mir zu TGI gehst.« Ich kicherte.
Und machte Louise Kaffee. Ein Löffel Zucker und nicht zu viel Milch. Sie nahm einen Schluck und betrachtete erneut meine Frisur. Ich glaube nicht, dass sie die gerne auf meinem Passfoto gesehen hätte.
»Also, wohin fahren wir?«, wollte ich wissen. Sie nahm sich einen Vanillecremekeks, bevor sie antwortete.
»Monk’s Orchard.«
»Monk’s Orchard? Wozu denn das? Da sind lauter ausländische Nannys, Typen mit Strass am Kragen und alte Ladys mit dürren kleinen Kötern.«
»Es gibt dort ein sehr schönes Café«, erklärte Louise. »Das Friar’s Tuck.«
Ich verzog das Gesicht. »Das Friar’s Tuck? Ich esse in keiner Kirchenkantine. Diese scheiß Kirchen-Brüder sind die schlimmsten Fummler. Die haben nur deshalb so weite schwarze Kutten an, damit sie ihre erigierten …«
»Ausdrucksweise, Naomi«, fiel mir Colleen ins Wort.
»Tschuldigung«, sagte ich.
»Es ist in keiner Kirche, Naomi«, sagte Louise. »Es ist ab von der High Street. Die machen da auch tollen Nachtisch.«
Ich dachte drüber nach. Louise warf noch einen Blick auf meine Zöpfchen. »Na schön«, gab ich nach. »Aber wenn mich eine von den kleinen Graurücken blöd anguckt, kick ich ihr den Krückstock weg und mache Salami aus ihrem dürren Schoßhund.«
Ich schwöre, ich hab Colleen kichern hören. Sie gab sich Mühe, schnell wieder ernst zu gucken.
»Ich bin sicher, die werden nichts sagen«, behauptete Louise.
Eine Stunde später bogen wir in Monk’s Orchard in eine ruhige Straße ab und gingen zu Friar’s Tuck. Eine fette braune Katze lag faul auf dem Fensterbrett und beäugte mich. Das Café war klein, hatte nur acht Tische. Hauptsächlich waren Graurücken da und verkosteten Tee, verknusperten Kuchen und lösten Kreuzworträtsel. Wir setzten uns ans Fenster und ich nahm eine Speisekarte, schaute fünf Minuten durch. »Ich nehme den Pie mit Huhn und Pilzen, dazu Erbsenpüree, Pommes und eine große Cola.«
Louise zog ihre Jacke aus, legte sie auf den Stuhl neben sich und musterte erneut meine Haare. »Wessen Idee war das denn mit der neuen Frisur?«, wollte sie wissen. »Deine?«
»Ja. Colleen hat’s heute fertig gemacht.«
»Dann hat also weder Tony noch sie das vorgeschlagen?«
»Nein, war meine Idee. Mal was anderes, oder? Kim wird vor Neid sterben. Sie wollte die Haare immer schon haben wie die schwarzen Mädchen. Nats hat Glück, die ist schwarz und kann sich die Haare selbst machen. Einmal haben Kim und ich die Schule geschwänzt und sind in so einen Salon in Ashburton. Du weißt schon, wo die Friseure tageweise einen Stuhl mieten. Wir wollten uns Zöpfchen machen lassen, aber Kim hat vorher Schiss bekommen. Ich wär rein.«
»Ich finde, bei schwarzen Mädchen sieht das gut aus, aber …«
»Aber was? Bei mir nicht? Sharyna fand’s supertoll. Und Pablo auch. Willst du nicht bestellen?«
»Äh, doch, aber du darfst deine Identität nicht aufgeben, Naomi.«
»Meine Identität?«, fragte ich. »Wusste gar nicht, dass ich eine habe. Was hab ich denn für eine Identität?«
Louise rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Na ja, äh«, stammelte sie. »Die Sache ist die, Naomi, wenn du eine andere ethnische Identität übernimmst, läufst du Gefahr, die eigene zu verlieren. Beim Jugendamt gibt es alle möglichen Vorschriften, die Eltern in der Notpflege untersagen, Einfluss auf die kulturelle Identität der Kinder zu nehmen.«
»Die was untersagen?«, fragte ich. »Keine Ahnung, wovon du redest mit deinem ganzen kulturellen Kauderwelsch. Ich will einfach nur salonfähig aussehen. Sagst du mir nicht immer, dass ich mehr auf mein Erscheinungsbild achten soll?«
»Ja, das sage ich, Naomi, aber …«
»Aber was?«, widersprach ich.
Louise sog lange Luft ein. »Du könntest etwas von dir selbst verlieren, die wahre Naomi Brisset«, sagte sie. »Zum Beispiel würdest du doch von einem schwarzen Jungen, der keine Ahnung von Schottland hat, auch nicht erwarten, dass er einen Kilt trägt?«
»Was ist denn ein Kilt? Ein kariertes Kondom oder was? Ich denke, du hast nicht mehr alle Klöße im Gulasch, Louise. Die wahre Naomi Brisset will Zöpfchen so wie Solange Knowles und Alicia Keys. Findest du nicht, dass die megageil aussehen? Kim und Nats finden das auch.«
»Doch, die sind beide sehr attraktiv.«
»Warum machst du dir dann ins Hemd wegen meinen Zöpfchen? Wenn wir dieses Jahr einen guten Sommer kriegen, seh ich zu, dass ich braun werde. Ich würde gerne aussehen wie Rita Ora.«
»Rita Ora ist nicht braun, Naomi.«
»Bist du sicher? Ich finde, die sieht braun aus. Entweder von der Sonne, oder sie hat sich so eine Power-Sonnenbank ins Schlafzimmer gestellt und schläft nachts drauf.«
Eine Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf. Louise entschied sich für einen langweiligen Salat. Wozu soll das gut sein, wegen einem Salat bis nach Monk’s Orchard zu fahren? Ich bestellte absichtlich den teuersten Nachtisch – Tiara-Sue. Ihr Portemonnaie brauchte eine Abspeckkur.
»Am Samstag kommt eine neue Pflegefamilie aus dem Urlaub zurück«, sagte Louise. »Die Hamiltons. Ich dachte, vielleicht passt du ganz gut zu denen. Die haben eine neunzehnjährige Tochter. Sie studiert an der Uni und könnte einen guten Einfluss auf dich haben.«
»Weiß nicht«, sagte ich. »Ich will erst mal sehen, wie’s mit Colleen läuft. Die ist super. Wusstest du, dass sie selbst im Heim war?«
»Ja, weiß ich. Aber was ist mit Tony? Verstehst du dich denn auch mit ihm?«
»Ungelogen«, erwiderte ich, »der kann schon ganz schön arschgesichtig sein. Macht voll auf Mann-im-Haus. Erinnert mich ein bisschen an Rafi. Rafi wollte mir auch Vorschriften machen. Aber ich hab keine Angst vor Tony und ich glaub auch nicht, dass er ein Fummler ist. Er ist schön unten geblieben, als ich geduscht hab. Und ich mag Sharyna und Pablo, kann mich um die beiden kümmern. Vielleicht fragen mich Tony und Colleen ja, ob ich babysitten will, wenn sie mal in den Urlaub wollen? Wo wohnen denn diese Hamiltons?«
»Spenge-on-Leaf«, erwiderte Louise. »In einem tollen Haus.«
»Spenge-on-Leaf«, wiederholte ich. »Das ist doch, wo die Reichen wohnen. Kim hat mir erzählt, sie ist mal mit einem von da zusammen gewesen. Sie dachte, er ist zwanzig …«
»Du sollst nicht immer alles glauben, was Kim dir erzählt«, sagte Louise.
»Willst du sagen, dass sie lügt?«
»Äh, nein … egal, die Hamiltons wohnen an einem Hang und haben eine wunderschöne Aussicht.«
»Eine wunderschöne Aussicht«, wiederholte ich. »Wenn ich eine schöne Aussicht will, guck ich mir Postkarten an.«
»Hmmm.«
»Du sollst nicht hmmm machen, wenn ich was sage«, sagte ich. »Im Heim war so ein Junge aus Swim Lanka. Schöne schwarze Haare hatte der. Früher hatte er in einem Haus am Strand gewohnt, aber so wie er’s erzählt hat, war’s wohl eher eine Hütte – zum Kacken musste er nach draußen. Still war der. Würdest du nicht glauben, was der für eine Scheiße hinter sich hatte. Die schöne Aussicht hat ihm nicht viel geholfen. Tatsächlich hat sie seiner kleinen Cousine sogar das Leben gekostet. Er hat mir ein Bild von ihr gezeigt – sie hatte …«
»Das ist was anderes.« Louise schnitt mir wieder das Wort ab.
»Diese Hamiltons …«, fragte ich. »Was sind die von Beruf?«
»Tim, Mr Hamilton, ist Architekt. Er hat Aufträge im ganzen Land und darüber hinaus. Seine Frau Susan arbeitet ehrenamtlich im Jugendzentrum in der South Smeckenham Road und hat viel Erfahrung im Umgang mit Kindern jeden Alters. Sie ist jetzt seit fast einem Jahr in der Kindernothilfe.«
»Was macht ein Architekt?«, fragte ich.
»Er entwirft Gebäude.«
»Er entwirft Gebäude? Dann sind die weiß, richtig? Ich hab noch nie gesehen, dass Schwarze Gebäude entwerfen – nicht mal im Fernsehen.«
»Äh, ja, die sind weiß. Die Goldings sind als Übergangslösung wunderbar, aber meinst du nicht, es wäre auf lange Sicht passender, wenn du bei deinesgleichen unterkommst?«
»Kommt drauf an, ob sie okay sind«, erwiderte ich. »Ein Architekt und eine aus der Jugendhilfe? Klingt nicht so cool.«
Louise bedachte mich mit einem ihrer echt-jetzt-Blicke.
»Also dann, Miss Brisset«, schmunzelte sie, »was wäre deiner Meinung nach denn cool?«
Ich dachte drüber nach. Die Kellnerin kam mit unserem Essen.
»Danke«, lächelte Louise.
Ich schnappte mir meine Cola und pumpte das halbe Glas ab, bevor ich antwortete. »Wieso kannst du mich nicht bei interessanten Leuten unterbringen?«, fragte ich. »Mir ist scheißegal, was die für eine Farbe haben. Grime DJs, Wrestler, Clowns, Schauspieler, Sänger, Dancehall Queens … oder bei der Frau, die neulich bei Big Brother so abgedreht ist. Die braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert, Naomi.«
»Das kann ich schon selbst!«, erwiderte ich mit erhobener Stimme.
Ich nahm meinen Pie in Angriff. »Hab ich das nicht schon gemacht, bevor ihr in mein Leben geplatzt seid, mir alle möglichen langweiligen Vorschriften diktiert und mich in sämtliche Postleitzahlenbezirke geschickt habt?«, fragte ich.
Kopfschüttelnd stocherte Louise in ihrem Salat.
Als Louise aufgegessen hatte, beugte sie sich zu mir vor und senkte die Stimme auf ein Flüstern. »Du weißt ja, was zu dieser Zeit im Jahr bevorsteht …«
»Natürlich. Der April. Ich hab ja noch alle Klöße im Gulasch, Louise. Darf ich noch eine Cola?«
»Nein, du hast genug gehabt. Wenn du so alt bist wie ich, hast du keine Zähne mehr.«
»Das ist ja wohl noch mindestens ein Jahrtausend hin.«
»Naomi! Versuch ausnahmsweise mal, kurz ernst zu bleiben. Du weißt, wovon ich rede.«
Ich dachte an Mum. Das Bad in unserer alten Wohnung platzte mir in den Erinnerungsschädel. Es war schrecklich. Ich wollte nicht über sie reden. Zog mich nur total runter.
»Es ist jetzt fast vier Jahre her«, sagte ich. »Kommt mir vor, als wär’s erst gestern passiert.«
Louise setzte ihren schönsten besorgten Sozialarbeiter-Blick auf.
»Möchtest du nicht was machen, um dich an sie zu erinnern?«
»Was soll ich denn machen?«. Wieder hob ich die Stimme. »Sie ist tot. Wir haben sie verbrannt. Ich kann keine Blumen an eine … wie nennt man das? Das Ding, das aussieht wie eine alte Kanne.«
»Eine Urne«, half mir Louise auf die Sprünge.
»Ich kann keine Blumen an eine Urne legen«, wiederholte ich. »Das ist einfach total verkehrt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Mums Asche da wirklich reinpasst. Ich meine, so wie meine Mum gebaut war, hätte sie bei Ashburtons Next Topmodel keine Chance gehabt.«
Louise legte sich die Hand auf den Mund, um sich das Schmunzeln zu verkneifen, aber ich hatte gar nicht witzig sein wollen.
»Ich werde nicht schlau aus dir, Louise«, sagte ich. »Hast du nicht immer gesagt, ich soll versuchen, zu vergessen, was mit meiner Mum passiert ist, und an die Zukunft denken? Jetzt erzählst du mir, ich muss mich an sie erinnern. Entscheide dich, verdammt noch mal! Ich krieg schon Kopfschmerzen davon!«
»Ich dachte nur, vielleicht willst du …«
»Nein, will ich nicht. Kannst du knicken. Ich will mich nicht an sie erinnern.«
So meine ich das gar nicht. Ich denke jeden Tag an sie. Aber weil ich sowieso rund um die Uhr an sie denke, muss ich auch ständig dran denken, wie sie gestorben ist. Alles war rot.
»Okay, ich verstehe, was du sagen willst«, sagte Louise. Sie streckte die Hand aus und drückte mir die Schulter. Sie hatte immer noch ihre »Sozialarbeiterin auf Fortbildungskurs«-Miene drauf. »Gibt dir Colleen Essen, das dir schmeckt?«, fragte sie.
»Ja, wir waren gestern einkaufen«, erwiderte ich. »Hab auch probiert, was die Schwarzen essen. Macht satt. Ich hatte so eine hartes Bananending und so was Kartoffeliges.«
»Hat man dir eine Alternative angeboten? Oder dich gefragt, was du möchtest?«
»Ja, Colleen ist spitze. Sie hat mir meine Cottage-Pies und Kartoffelpüree gekauft. Und Perlen für meine Haare. Sie hatte heute nur noch keine Zeit, sie reinzumachen.«
Wieder begutachtete Louise meine Frisur. »Ach was?«
»Das kann ich nicht einfach so lassen«, sagte ich. »Irgendwie muss das noch aufgeglamt werden. Die Perlen müssen auf jeden Fall noch rein, bevor ich wieder in die Einrichtung schiebe.«
»Ist das eine gute Idee?«, fragte Louise.
»Glaub mir, wenn Kim das sieht, will sie ne Wiederholung an sich selbst. Aber wer soll das machen? Die wohnt bei keinen Schwarzen, nur ich! Nats kann ihr vielleicht Zöpfchen machen. Nats würde alles für Kim machen.«
Louise schüttelte den Kopf. Sie trank von ihrem Wasser und sah mich streng an. »Also, Miss Brisset«, sagte sie. »Mr Holman. Hat er dich wirklich belästigt?«
Ich ließ mir Zeit mit der Antwort.
Übergriffig ist er nie geworden, aber mir hat nicht gefallen, wie er mich immer angeglotzt hat. Mit dem stimmt was nicht. Der braucht dringender Therapie als ich.
Ich wich Louise’ verärgertem Blick aus. »Darf ich noch ne Cola?«
»Erst wenn du mir sagst, was mit Mr Holman war. Die Wahrheit, Naomi. Und nicht Kims Version.«
Ich sah Louise in die Augen.
Sie hatte einen doppelten echt-jetzt-Blick drauf.
»Er wollte … nur nett sein«, erwiderte ich. »Aber das ist mir auf die Nerven gegangen. Ich sitze vor der Glotze, er setzt sich neben mich und fragt, alles in Ordnung? Ich geh aufs Klo, alles in Ordnung? Ich mach mir ein Schinkensandwich, er kommt in die Küche, alles in Ordnung? Ich renne in mein Zimmer nach oben und er fragt, alles in Ordnung? Ich bin sicher, wenn ich geschlafen hab, stand er daneben, hat geglotzt und gewispert, alles in Ordnung? Das hat mich irregemacht. Hab schon überlegt, ob ich ihm den Fitnesssaft-Mixer überziehen soll, den die da in der Küche stehen haben. Ich wollte einfach nur, dass er mich verdammt noch mal in Ruhe lässt und ins Krankenhaus fährt. Da kann er die Patienten den ganzen scheiß Tag lang fragen, ob alles in Ordnung ist! Und sie war auch total komisch.«
»Hat er dir nachspioniert oder sonst was gemacht, was dir unangenehm war?«
Ich warf einen Seitenblick auf mein leeres Glas. »Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Aber das ist ein echter Dr. Strange. Ich wollte da nicht bleiben. Nicht bei denen.«
Jetzt hatte Louise ihre Blue-Bloods-Miene drauf.
»Und was war mit Mrs Holman?«
»Ich konnte sie nicht leiden.«
»Es muss einen besseren Grund geben, Naomi. Du kannst Menschen nicht ablehnen, nur weil du sie ein bisschen komisch findest.«
Ich verschränkte die Arme. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus dieser Konvo.
»Muss ich einen Bericht schreiben?«, fragte Louise.
Ich nahm meine Serviette vom Tisch und wischte mir den Mund. »Eigentlich nicht. Wenn’s dich in den Fingern juckt, dann mach ruhig, aber mir ist das egal. Hauptsache ich muss nicht wieder da hin.«
Louise bedachte mich mit einem erstklassigen echt-jetzt-Blick.
»Hmm. Du hättest Mr Holman sehr viele Unannehmlichkeiten bereiten können.«
»Hab ich aber nicht … darf ich noch eine Cola, bevor wir gehen?«
»Nein, ich muss später noch woandershin, wenn ich dich zu Hause abgesetzt hab.«
»Baronin Billo!«
»Ich denk nur an deine Zähne, Naomi.«