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Kapitel Drei - Teil 1

Kate schlief bis in die Mittagsstunden und als sie endlich aufstand, fühlte sie sich wie gerädert. Der Abend im Seven Seas lastete wie Blei in ihrem Gedächtnis. Sie schämte sich, auch nur zugesehen zu haben. Unvorstellbar, dass sie beinahe mittendrin gewesen war. Das Gespräch, das sie danach mit dem Unbekannten geführt hatte, machte alles nicht besser – weil sie sich eingestehen musste, sich dabei wohlgefühlt zu haben.

Möglicherweise war ihr die Abwechslung in diesem Moment willkommen gewesen, doch ganz sicher war dieser Mann nicht derjenige, mit dem sie sprechen sollte, sondern Henry – der leider noch immer schwieg. Die Vorstellung, dass er wieder in seinem Atelier auf der Couch lag und verzweifelt darüber war, nicht malen zu können, tat Kate weh. Sie wusste, wie schlimm eine solche Blockade war, denn sie hatte sie selbst erlebt.

Eine leise Stimme in ihr sagte, dass es falsch war, schon wieder Verständnis für Henry aufzubringen – insbesondere nach dem Freitagabend und erst recht nach seiner für ihre Arbeit geäußerten Geringschätzung. Eine andere, lautere Stimme bestand darauf, dass es nichts brachte, wenn sie sich genauso stur stellte wie er. Dann würde es nie ein klärendes Gespräch geben. Und das würde sie jetzt einfordern.

***

Nach einem späten Frühstück und einer Dusche fuhr sie aus Palo Alto und zum Cottage. Wie erwartet, war dort alles so, wie sie es am Freitag verlassen hatte. Sogar die Fenster im Kaminzimmer standen noch auf, obwohl Henry das hasste.

Auf dem Weg in die zweite Etage nahm Kate je zwei Stufen, verharrte ein wenig atemlos vor der Tür und klopfte dann an.

»Was willst du hier?«, ertönte Henrys Stimme.

Mit seinen Worten nahm er ihr den Wind schon halb aus den Segeln, doch Kate redete sich Mut zu und befahl sich, ruhig zu bleiben. Sie ahnte, dass er sie wieder provozieren würde, doch dieses Mal, würde sie nicht darauf eingehen.

Sie öffnete und trat ein. Er lag nicht auf der Couch. Er saß auf den Dielen vor der wieder aufgestellten Staffelei. Die Leinwand war leer. Das schreckliche Bild mit der verschmierten roten Farbe entdeckte Kate nirgends und war erleichtert darüber.

»Wir müssen reden, Henry.«

Er sah sie nicht an, fixierte den Blick auf die Leinwand und klopfte sich mit einem Pinsel gegen das unrasierte Kinn.

»Müssen wir?«, gab er tonlos zurück. »Wir müssen gar nichts.«

Kate setzte sich neben ihn. »Sollten wir aber.«

»Worüber denn?«

Seine Frage machte es ihr nicht leichter, ließ sie doch vermuten, dass er es völlig normal fand, wie sie miteinander umgegangen waren.

»Was am Freitag passiert ist, Henry, das möchte ich nie mehr erleben.« Sie suchte seinen Blick, doch er erwiderte ihn noch immer nicht. »Hast du dich je gefragt, wie es mir in deinen Phasen geht? Wie schwer es ist, da einfach durchzuhalten.«

Endlich sah Henry sie an. »Niemand zwingt dich, hier zu sein.«

Das war so sehr keine Antwort, wie es eine sehr deutliche war. Als hätte es nicht genügt, fügte er an: »Komm her, bleib fern. Tu was du willst. Ist mir völlig egal.«

Kate betrachtete ihn und war ein weiteres Mal fassungslos. Wie sehr er sie gerade verletzt hatte, konnte ihm gar nicht entgangen sein, doch es schien ihm tatsächlich egal zu sein, denn er konzentrierte sich wieder auf seine leere Leinwand.

Unfähig, noch etwas zu sagen und in dem Bewusstsein, dass es sowieso nicht bei ihm ankam, stand Kate auf und verließ das Atelier.

Auf dem Rückweg in die Stadt fühlte sie sich wie betäubt. Was Henry gesagt hatte, konnte eigentlich nur das Ende ihrer Beziehung bedeuten – und doch war es das nicht. Denn sobald er wieder malte, würde es sein, wie es bisher jedes Mal gewesen war … als sei es alles nicht geschehen.

***

Am Abend sendete ihr der Unbekannte, wie er es versprochen hatte, eine SMS mit weiteren französischen Songtipps. Die Namen der Interpreten und Songs konnte Kate kaum lesen, geschweige denn aussprechen. Und sie hatte auch keine Lust, es zu versuchen. Sie hatte keine Lust auf irgendetwas, dankte ihm für die Tipps, schrieb allerdings auch, dass sie es für besser hielt, wenn sie ab sofort nicht weiter miteinander kommunizierten.

Auf sein kurzes »Okay«, warf sie das Handy in die Ecke und nahm das Buch, das sie gerade las. Von Seite zu Seite entfernte sie sich jedoch weiter von der Geschichte. Immer wieder dachte sie an Henrys harte Worte, aber auch an den Fremden, und ihre Reaktion tat ihr leid. Als habe sie ihm ihre Gedanken übermittelt, zwitscherte ihr Handy mit einer neuen Nachricht von ihm.

Aus einem bestimmten Grund?, fragte er.

Kate beschloss, mit einer Gegenfrage zu antworten. Wieso wollen Sie mit mir schreiben, sprechen oder was auch immer?

Auf eine Antwort in Textform wartend, erschrak sie, weil ihr Handy klingelte und seine Nummer auf dem Display angezeigt wurde. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie das Gespräch annahm.

»Weil ich mich für dich interessiere«, sagte er anstelle einer Begrüßung und mit Betonung der persönlichen Anrede. Scheinbar hatte er keine Lust, länger herumzutippen oder sich gar in Floskeln zu verrennen. »Ist daran etwas verkehrt? Dass ich mich für dich interessiere?«

Ja!, sagte Kate sich im Stillen noch immer erschrocken. Das war total verkehrt! Und doch war es so etwas von charmant, auch die Direktheit, in der er sie das wissen ließ.

»Wir haben gerade mal fünf Worte miteinander gewechselt.«

»Ich bin ein Mann.« Das klang keineswegs entschuldigend. »Wünsche oder Interessen manifestieren sich bei uns schneller. Manchmal genügen eine Stimme und die bunter werdende Vorstellung vom Wesen der Frau.«

Zwar konnte sie es nicht nachvollziehen, doch sie ließ es erst einmal so stehen. Ohnehin beschäftigte sie schon eine andere Überlegung. »Und wohin führt das, wenn wir weiter miteinander reden?«

»Es führt uns dahin, wo wir hin wollen.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Wenn du das hier beenden willst, wieso reden wir jetzt noch? Ich bin mir sicher, wir tun es, weil wir es wollen und weil ich für dich ebenso interessant bin, wie du für mich.«

Das saß. Er hatte ein gesundes Selbstbewusstsein. Alles in Kate sträubte sich dagegen, es zu bestätigen, doch sie mochte auch nicht lügen. Also hielt sie die Klappe.

»Sag mir bitte, wie du heißt«, bat er sie und hängte ein kurzes Lachen an. »Deine Nummer steht nun schon zwei Tage in meinem Telefon, und ich würde wirklich gern einen Namen dazuschreiben.«

»Ich bin Kate«, ließ sie ihn wissen. »Wer sind Sie? Und wo sind Sie gerade?« Letztere Frage stellte sie, weil sich die Geräuschkulisse geändert hatte. Es war nicht mehr nur seine Stimme, die sie hörte, sondern auch das Brummen von Autos, das Jaulen einer Sirene und das Pfeifen von Wind.

»Ich werde dir meinen Namen erst sagen, wenn du mich nicht mehr siezt!«

Sie grummelte im Stillen, weil er seinen Willen so vehement durchsetzte, doch stimmte zu. »Okay, versprochen.«

»Ich bin Jackson.« Da war ein Ratschen, als rücke er einen Stuhl zurecht. »Und ich bin auf der Terrasse meines Appartements, von wo aus ich einen tollen Ausblick auf die Stadt habe. Unter anderem auf einen Wolkenkratzer, der sich Transamerica Pyramid nennt.«

»Sie … du bist in San Francisco«, stellte Kate mit einem Schmunzeln fest.

»Richtig. Wo bist du?«

»In Palo Alto. Und nun gehe ich schlafen, denn morgen muss ich früh raus.«

»Um was zu tun?«

Nein, beschloss Kate. Sie würde ihm nicht verraten, was sie tat und gab nur vage Auskunft. »Mein Handwerk.«

»Ah ja, nun denn, bonne nuit!«

Aus einem Reflex heraus wünschte Kate ihm die Gute Nacht ebenfalls auf Französisch.

Sobald sie aufgelegt hatte, wurde sie von Unruhe geplagt, die ein Zubettgehen undenkbar machte. Der Auslöser war diesmal nicht Henry, sondern das Bewusstsein über den Freeway, der praktisch vor ihrer Haustür verlief und sie binnen einer Stunde nach San Francisco bringen würde – wenn sie das wollte. Es gab keinen positiven Gedanken, der sie abzulenken vermochte, und so wurde das Kribbeln, das von ihrem Bauch bis in die Zehenspitzen und unter ihrer Kopfhaut prickelte, immer stärker. Kate hielt es nicht länger aus und ging in die Werkstatt. Vorher lud sie Jacksons restliche Anspieltipps herunter, um sie über Kopfhörer zu hören, während sie arbeitete.

Die Haare zu einem Knoten zurückbindend, nahm sie an ihrem Schreibtisch Platz und schaltete dessen Leuchte ein. Kaum hielt sie den Stift in der Hand, da zeichnete er los, flog wie selbstständig über den weißen Karton und verlieh den Ideen Formen.

Der Stift begann mit dem Anhänger: Fließende Silhouetten zweier Menschen, deren Arme nach oben ausgestreckt waren, deren Hände den metallenen Strang der Kette umklammerten, während ihre Leiber sich einander entgegenstreckten, deren Beine den Körper des anderen umschlagen, wodurch sich die Figuren in der Mitte vereinigten. Fremde waren sie – auch für Kate – und doch ging so viel Vertrautes von ihnen aus, aber auch viel Begierde und Hitze.

Der Kette folgten die Ohrstecker: Sie und er waren durch die Schmuckstücke an je ein Ohr gebannt, wo sie sich wanden und nacheinander sehnten. Zuletzt war der Ring an der Reihe: Aneinandergeschmiegt lagen sie nun. Ein wenig auf den Handrücken hinausragend bog sie sich ihm entgegen und hob die Arme über den zurückgelegten Kopf. Sein Kopf ruhte an ihrem Bauch, seine Hände auf ihr, seine Beine liefen bis über den Finger, an dem der Ring getragen werden würde.

Während sie kleine Korrekturen vornahm und Details schärfte, gingen die acht französischen Lieder in ihren Ohren in die vierte oder fünfte Runde. Kate sang inzwischen mit. Nur wenige Worte kannte sie und ahmte die Laute nach, bewegte sich auf ihrem Hocker zu den Melodien und hielt manchmal inne, um eine Lieblingsstelle mit besonderer Inbrunst zu trällern.

So in ihr Tun vertieft, bekam sie nicht mit, wie es Morgen wurde. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, hob den Kopf und erschrak, weil ihre Mitarbeiterinnen breit feixend vor ihr standen. Schnell schaltete sie die Musik aus und zog die Stöpsel aus den Ohren, hatte aber doch Mühe, in die Realität zurückzufinden.

»Was ist das für eine Sprache?«, kicherte Lindsay.

»Französisch oder so ähnlich«, entgegnete Kate und stand auf, um die Mädchen zu begrüßen.

Witze reißend gingen die beiden zu ihren Werkbänken.

Vor ihrem Platz stehend, betrachtete Kate die Zeichnungen und grübelte, wo sie die Nacht verbracht hatte. Es war unglaublich, was sie da zu Papier gebracht hatte und nicht vergleichbar mit ihren bisherigen Kreationen. Diese Figuren waren so real. Mal sinnlich, mal sehnend, aber immer voller Hingabe – und sie hatten sie völlig überrumpelt. Klammheimlich hatten sie sich in ihre Gedanken geschlichen, sich dort geliebt und sie zum Zeichnen gezwungen.

2Love würde diese Kollektion heißen, beschloss Kate.

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