Читать книгу Die unglaublichen Fälle des Harry Hell - Alexander Besier - Страница 3
1 Küchenmord
ОглавлениеWarten. Trudy ist es gewohnt. Herb kommt in letzter Zeit immer später nach Hause. Sie nestelt an ihrem einfarbigen Abendkleid herum. Der Stoff klemmt sich nach den vielen Jahren um ihre Hüften und nimmt ihr ein wenig die Luft. Doch heute gilt es Herb zu überraschen, es ist schließlich Hochzeitstag. Sie blickt aus dem Küchenfenster. Sommerregen färbt die ausgetrockneten Straßen dunkel und der erdige Duft der Nässe erinnert sie an das Begräbnis ihrer Mutter.
Sie hatte schon am Frühstückstisch auf Herb eingeredet. Er solle auf keinen Fall zu spät kommen. Anlässlich dieses Jubiläums wolle sie ein besonderes Essen veranstalten. Die Regungslosigkeit seiner Gesichtsmuskeln verschafft ihr letzte Gewissheit. Wie immer seit fünfundzwanzig Jahren steht er dann vor der Garderobe und wartet, dass Trudy ihm in den Mantel hilft. „Wie ein kleines Kind“, denkt sie jedes Mal. Wie immer, wenn endlich die Haustür hinter ihm zugeht und sie den Wagen von der Auffahrt rollen hört, summt sie leise eine alte Melodie vor sich hin und beginnt mit den Vorbereitungen.
Zum Abendessen gibt es Gulasch mit feinsten Kräutern, dazu kleine Nudeln und viel Soße. Beim Essen versteht Herb keinen Spaß. „Eigentlich versteht er überhaupt keinen Spaß“, sagt Trudy zu ihrem Spiegelbild auf der blank gewischten Glaskeramik ihres Herdes. Irgendwie geht der Tag vorbei und Trudy wird ein wenig aufgeregt. Das Essen ist fertig und Herb kommt nicht. In quälender Langsamkeit ziehen die Minutenzeiger der Küchenuhr in beständigem Rhythmus an der Zwölf vorbei. Mittlerweile ist das Gulasch kalt und zerfällt in seine Bestandteile. Die Fettaugen in der Soße setzen sich an der Oberfläche ab. Trudy beginnt an ihren Fingernägeln zu nagen. Herb kommt schon lange nicht mehr pünktlich. Endlich hört sie den schweren Wagen, die klappende Autotür, Schritte auf dem Kies und das suchende Kratzen des Haustürschlüssels. Herb steht mit hängenden Schultern in der Tür. Von seinem Hut tropft der Regen und bildet eine kleine Pfütze auf den Fliesen. Wortlos wartet er, bis sie ihm aus dem feuchten Mantel hilft. Ihr vorwurfsvoller Blick verpufft an seiner Teilnahmslosigkeit. Sie hätte die Sätze an einer Hand abzählen können, die er an einem Tag mit ihr spricht.
„Wo bist du gewesen? Ich habe dir doch heute Morgen gesagt, dass wir um acht essen wollen. Ich habe extra feines Gulasch gekocht.“
Sein Blick senkt sich auf die Schuhspitzen. Nichts wünscht er sich sehnlicher, als an einem anderen Ort in einer anderen Zeit zu sein.
„Ich habe vergessen anzurufen. Tut mir leid.“ Diese Lüge hatte schließlich immer gut funktioniert. Trudy packt seinen Arm und zieht ihn in die Küche.
„Du sollst trotzdem noch was essen, Herb. Schließlich musst du hungrig sein, nicht wahr?“
Herb nickt automatengleich und klemmt sich an den Küchentisch. Er wagt es nicht, Trudy ins Gesicht zu sehen, nicht jetzt. Also rührt er unablässig im erkalteten Fraß. Er hat keinen Hunger. Trotzdem klammert er sich an Messer und Gabel fest und schiebt sich ein paar Bissen in den Mund.
Trudy will sich nicht setzen. Sie beobachtet ihn wie eine Pokerspielerin, bevor sie ihren Einsatz wagt. Herb denkt, es sei Zeit für Konversation.
„Warum isst du nichts, Trudy? Stimmt was ni...?“ Er kann die Frage nicht beenden, denn in seinem Bauch, in seiner Speiseröhre beginnt ein ätzendes Feuer zu brennen. Anstatt eines Satzes über Trudys gutes Essen oder ihre vollen, rötlichen Haare, dringt ein schartiges Röcheln aus seiner Kehle. Seine Finger graben sich in den Hals, als könnten sie den Schmerz wieder herausreißen. Die Augen drohen aus den Höhlen zu springen.
Trudy lächelt und rührt sich nicht. Sie sieht einfach dabei zu, wie ihrem Ehegatten die Innereien verätzt werden und er einem sterbenden Fisch gleich auf dem Küchenboden zappelt. Ein paar Augenblicke nur, dann wird es ruhig im Haus. Ein Schleier aus leisen Schritten und Kühlschranksurren legt sich über diesen Abend.
Keinen Blick verschwendet Trudy mehr an Herb. Vorsichtig steigt sie mit ihrem Handkoffer über den Toten, schließt die Haustür hinter sich ab und macht sich im milden Nieselregen davon, den sie so satt hat wie die Lügen ihres Ehemannes.
Trudy will nicht wahrhaben, was ihr Herz ihr sagt. Sie kann nicht glauben, dass dieser linkische, graue Herr, den sie seit 25 Jahren morgens aus dem Haus gehen sieht, und der abends schweigend auf der Couch sitzt und sie nicht einmal ansieht, wenn er mit ihr spricht, sich mit einer jungen Frau in Cafés herumtreibt, ihr Kleider kauft und seine Hosen runterlässt, wenn die andere den Finger krümmt. Sie hätte es besser wissen müssen. Herb war ein mieser Lügner. Er benahm sich dann immer wie ein Klassenstreber, den man beim Spicken erwischt hatte.
All die Jahre betrachtete sie die Ödnis ihrer Zweisamkeit durch eine Brille, die alles in ein mattes Rosa taucht. Harmlos, aber gut. Und jetzt lege ich ihr Bilder vor, auf denen sie sehen kann, wie er seinen knochigen Körper neben der Rivalin parkt. Ein Lächeln ist zu sehen, ein zarter Stolz spricht aus seiner Körperhaltung. Ich kann ihren Hass mit Händen greifen. Ihre Augen schießen 9-mm-Geschosse in seine Herzgegend. Als Privatdetektiv bin ich solche Stimmungstäler gewohnt. Kollateralschäden. Was meine Auftraggeber mit ihren Erkenntnissen anzufangen gedenken, entzieht sich normalerweise meinem Interesse. Das sind die Brot-und-Butter-Fälle, also Geld her und tschüss. Trudy will eben kein Opfer sein. Auf eine verrückte Weise kann ich beide gut verstehen, allerdings muss Herb für den kurzen Spaß mit seinem Leben bezahlen. Für die meisten Menschen ist die gut gekleidete Lüge eben erträglicher als die nackte Wahrheit.
Eine paar Tage später sitze ich morgens in meinem Büro, eine Postkarte in der Hand. Sie zeigt einen endlosen Strand, Palmen, dahinter ein Bergmassiv mit Dschungel und jede Menge Meer. Adressiert an „Mr. Harry Hell, Privatdetektiv, Future Drive 23“, also an mich. Trudy hatte mir tatsächlich eine Karte aus der Karibik geschickt. Es stehen drei Wörter darauf: „Danke, Ihre Trudy.“
Ich hänge ihr Dankschreiben an meine Wand für Kundenkorrespondenz. Es dauert ein wenig, bis ich den richtigen Platz finde. Trudy passt gut neben den mittelalten Steuerberater, der mit seinem Masseur durchgebrannt ist, nachdem ich für ihn rausgefunden hatte, dass sein Eheweib ihn ausplündert und mit dem Schwimmbadreiniger hintergeht. Dafür zeigte er sie bei der Steuer an. Ich mixe mir ein wenig Gin mit abgestandener Limo und genieße das bittere Wirken des Wacholders auf der Zunge. Ein Toast auf den armen Herb. Vor ein paar Minuten hatte mich ein Bekannter bei der Polizei darüber informiert, dass seine sterblichen Überreste schon fest mit dem Küchenboden verwachsen waren, bevor ihn endlich ein Nachbar fand, der den Gestank nicht mehr ertragen konnte.
Das Zucken meines Mobiltelefons holt mich wieder in die Gegenwart zurück.
„Harry Hell am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Harold Luther Hellinghurst, du sollst nicht schon morgens trinken. Ich bin es: Kommissar Georges Thibault.“ Georges ist einer der seltenen, vom Aussterben bedrohten, unbestechlichen Polizisten dieser Stadt. Ein feiner Kerl, hart in der Sache und immer am Ball. Also mein Mann. Er ist einer der wenigen, der meinen Geburtsnamen kennt.
„Georges, du penetranter Bulle. Was gibts? Du störst mich doch hoffentlich nicht umsonst beim Frühstücksgin.“
Das grollende Lachen am anderen Ende verheißt nichts Gutes.
„Umsonst natürlich nicht, allerdings wirklich viel zu verdienen gibt es auch nicht, außer jeder Menge Ruhm und Ehre, versteht sich.“
Meine Nase beginnt zu jucken.
„Ruhm und Ehre? Ich verstehe. Du traust deinen Kollegen mal wieder nicht zu, sich richtig um die Sache zu kümmern und setzt darauf, dass ich nichts Besseres zu tun habe, korrekt? In Wirklichkeit erwarten mich Kübel mit Exkrementen und faulem Gemüse. Was ist los, ist die städtische Wachmannschaft mal wieder in Bummelstreik getreten?“
Georges und ich leiden beide unter dem „Superheldenkomplex“: Wir sind die wahren Rächer der Entrechteten, die Robin Hoods, mitten in dieser millionenfachen Anhäufung von genetischer Degeneration und moralischer Blindheit. Die Zwei. Das Superduo. Ohne uns würde alles komplett im Chaos versinken. Das macht einsam. Also halten wir zusammen.
Seufzend raune ich in den Hörer: „Wofür brauchst du diesmal meine Superkräfte, Herr Kommissar?“
„Sie ist sehr jung, nackt und tot. Man hat ihre sterblichen Überreste auf einem der Abfallberge der städtischen Müllabfuhr abgelegt. Keine Identität. Wahrscheinlich Mord. Ist noch nicht raus, ob sie vergewaltigt wurde oder woran sie starb. Werde mir selbst ein Bild machen und wollte dich bitten mir zu helfen. Am besten in einer Dreiviertelstunde mit allem Tamtam.“
Aufgelegt. Das Tamtam steht für meine eigene Ausrüstung. Kamera, Knarre, Ausweis, Mobiltelefon und Notizblock gehören zum Basisequipment. Kein Fall für die Kasse, doch kann ich Georges nur selten etwas abschlagen. Auf jeder Seite des Gesetzes gilt die alte Regel: „Eine Hand wäscht die andere.“