Читать книгу Die unglaublichen Fälle des Harry Hell - Alexander Besier - Страница 5
3 Straßengören
ОглавлениеIn einer Stadt voller Teufel brauchen die Geschundenen einen Engel an ihrer Seite. Einen schwarzen Engel. Die kurvige, sportliche Figur wird gekrönt durch einen tiefschwarzen Lockenkopf und dunkelbraune Augen, die immer ein wenig listig hinter den Rundbrillengläsern hervorschauen. Cassandra Lenglen ist Professorin für angewandte Soziologie und Streetworkerin, sie stammt aus einer angesehenen Anwaltsdynastie und gilt in der ganzen Stadt als fleischgewordene Insubordination. Die bürokratische Lähmung und organisierte Teilnahmslosigkeit des Systems sind ihr ein Dorn im Auge. In so mancher Amtsstube zittern die Sachbearbeiter, wenn der Empfang sie ankündigt.
Eines Tages erschien sie in meinem Büro und wollte, dass ich Ehemann Nummer zwei beschatte. Sie hatte den nicht unbegründeten Verdacht, dass er sie um Geld betrog. Wie sich herausstellte, zweigte er nicht gerade kleine Summen vom gemeinsamen Konto ab und beteiligte sich damit an einem Bordell in der Südstadt. Daraufhin durfte ich ihm die Finger brechen, damit er ihr das Geld bis auf den letzten Cent zurückzahlt. War mir ein Vergnügen. Zum Dank lud sie mich zum Essen ein.
Seitdem sind wir Freunde, gehen gelegentlich zusammen aus und weiden uns an den liebenswerten Marotten des anderen.
Wenn ich sie treffen will, muss ich nur ins Stadtzentrum, Ecke Golden Hint Street/Blackmails Corner. Hier schmiegen sich die altertümlichen, teils verfallenen Häuser eng aneinander, als müssten sie sich gegenseitig vor den Glaspalästen der Immobilienpäpste schützen. Hier sind die Mieten noch billig. Zwischen einem kleinen Tattoo-Shop und einem chaotischen Trödelladen steht der verfallene vierstöckige Backsteinbau, den ich suche: Der Treffpunkt der Straßenkinder. Anlaufstelle, notfalls Zuhause und Zentrum für viele kleinere und größere Aktionen, die Polizei und Stadtverwaltung mächtig auf die Nerven gehen. Ganz oben unterm Dach sitzt Professor Doktor Cassandra Lenglen, wenn sie nicht gerade Studenten an der Uni grillt, trinkt in kleinen Schlucken literweise Kaffee und verbessert die Welt.
Als ich eintrete, schenkt sie mir ihr breitestes Grinsen:
„Harry, was machst du hier? Suchst du jetzt bei mir nach neuen Jobs, um deine Steuerschulden zu bezahlen?“
„Hey, ich bin seit einem halben Jahr schuldenfrei. Seit ich einem Finanzamtsknilch bei einer Scheidungssache Geld gespart habe, bin ich gewissermaßen amnestiert. Ich wollte dich nur mal wieder besuchen. Du hast ein so schönes Büro mitten im Stadtzentrum. Wenn ich da an meine Bruchbude denke.“
Das Grinsen weicht einer schmallippigen Bitterkeit:
„Sieh dich um, mein Freund. Hier gibt es nichts zu beschönigen. Abgewetzte Möbel, verstaubte Computer, ein paar Enthusiasten, die ohne Gage ihren Einsatz bringen. Demgegenüber jeden Tag ein neues Dutzend verwahrloster, zerzauster, missbrauchter, kranker und hungriger Minderjähriger, die sich zwischen Abflussrohren und Abfallhaufen einen Platz zum Leben erkämpft haben. Ihre Hoffnung: ein bisschen Essen und guter Klebstoff zum Schnüffeln. Ihre Zukunft: ausgefallen. Mir ist gerade nicht nach Scherzen zumute. Spar dir also deinen Zynismus und komm zur Sache.“
Ich kann ihre Ex-Ehemänner verstehen: Wenn diese Frau ungehalten ist, wird es verdammt ungemütlich.
„Ich will dir auf keinen Fall deine wertvolle Zeit stehlen. Ich bin hier, weil ich dein Wissen und deinen Rat in einer wichtigen Sache benötige. Es geht um ein vermisstes Mädchen.“
Prustend lehnt sie sich in ihrem abgenutzten Chefsessel zurück. Sie deutet auf einen Berg Akten:
„Ein vermisstes Mädchen ... Harry, ich habe hier pro Monat mindestens ein Dutzend vermisste Mädchen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich die Geschichten und Gesichter nicht mehr sehen und hören. Den weinerlichen Ton in der Stimme der Eltern, die Verzweiflung in ihren Blicken. Die Wut über die Behörden. Es ist ein Teufelskreis. Sie werden als Frischfleisch angeboten oder sie sind einfach durchgebrannt, weil zu Hause nichts mehr geht. Ihre Gesichter kleben manchmal auf Milchpackungen oder Laternenpfählen und mir kleben sie im Gehirn. Ich schlafe nicht selten nur noch mit Pharmakrücken und dann esse ich morgens mein biologisch-dynamisches Frühstück mit Milch und schon sehe ich das Gesicht wieder. Ich brauch nicht noch eins.“
Erst jetzt fallen mir die Augenringe auf, die Sorgenfalten und der leicht gräuliche Teint ihrer Gesichtshaut.
„Ich habe ein Gesicht, aber keinen Namen, keine Identität. Wenn jemand außerhalb der offiziellen Wege eine Chance hat mir weiterzuhelfen, dann du. Den Rest des Auftrages erledige ich.“
Ich sehe einen Hauch von Heiterkeit um ihre Mundwinkel.
„Harry, du bist ein Idiot. Versteh mich doch: Ich hab seit Monaten keinen privaten Kontakt mehr pflegen können. Immer nur noch mehr Verantwortung, weniger Geld, mehr Auflagen, weniger Vertrauen. Ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, alles was ich anfasse, wird zu feinem Sand, der mir durch die Finger rinnt.“
„Cas, es tut mir leid. Ich brauche dennoch deine Hilfe: Es geht schließlich um einen Mord.“
Sie springt auf und schleudert ihre zarte Faust auf den Schreibtisch.
„Verdammt, du Arschloch. Habe ich nicht gerade gesagt, dass ich die Schnauze voll habe, dass ich fertig bin, es mir reicht. Und du? Du setzt noch einen drauf. Nicht nur vermisst, auch noch tot. Lass mich in Ruhe.“
Ich gehe zu ihr und lege meine Hand auf ihre Schulter.
„Okay. Okay. Es tut mir leid. Ich komme besser ein anderes Mal wieder.“ Ich wende mich zum Gehen.
„Bleib hier, Harry. Es tut mir leid. Ich bin ein wenig dünnhäutig geworden. Wie kann ich dir helfen?“
Ich lasse mich wieder in eines der abgewetzten Sitzmöbel fallen.
„Heute Morgen wurde eine Mädchenleiche auf der städtischen Müllhalde gefunden. Vermutetes Alter: zwischen vierzehn und sechzehn. Der Rumpf zeigte Spuren schwerer Misshandlung, das Gesicht allerdings ist unversehrt. Ihre Identität ist ungeklärt, sie wurde nicht als vermisst gemeldet und ihre Fingerabdrücke sind in keiner Kartei erfasst. Georges und ich dachten, es wäre eine gute Idee, hier mit den Ermittlungen zu beginnen.“
Ich reiche ihr die Digicam mit den Bildern der Toten.
Ihre Hand zittert und sie zieht die Augenbrauen zusammen.
„Es sieht schlimm aus. Das Gesicht habe ich noch nicht gesehen. Das heißt aber nicht viel, schließlich bin ich nur noch selten draußen unterwegs. Ich hoffe, du kannst diese Schweine schnappen, die so etwas anrichten.“
Sie schaut aus dem Fenster auf den schmierigen Hinterhof. Als sie sich wieder zu mir umdreht, funkelt mir wieder die altbekannte Entschlossenheit entgegen:
„Ich sage dir, was wir machen: Ich drucke das Bild ihres Gesichts aus und reiche es hier im Zentrum herum. Die Kinder sehen Dinge, die uns Erwachsenen nie auffallen würden. Mit ein bisschen Glück kennt sie jemand.“
Ich bemerke, dass an der Wand neben mir jede Menge Bilder von Kindern und Jugendlichen kleben. Einige nur in schwarzweiß mit abgeknickten Kanten und vergilbten Flecken darauf. Andere sind in Farbe und die Kinder stecken in Sonntagsanzügen, tragen zu große Brillen und lächeln gezwungen. Cas ahnt die Frage.
„Sie hängen da zur Erinnerung. Seit fünfzehn Jahren sammle ich diese Bilder von Vermissten, die hier abgegeben werden. Sie sollen nicht vergessen werden. Erst vor zwei Tagen saß auf deinem Platz ein älterer Herr, schütteres graues Haar, gesteifter Hemdkragen und blank geputzte Schuhe. Er knetete seine Mütze und starrte mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sein Sohn ist seit mehr als zehn Jahren vermisst. Auf dem Nachhauseweg verschwunden. Spurlos. Und er ist kein unterprivilegierter Malocher oder Ähnliches, sondern hat bei der Finanzbehörde als Abteilungsleiter gearbeitet. Politisch bestimmt ein Gegner unserer Arbeit. Seit drei Jahren spendet er regelmäßig für uns, kümmert sich um die Steuersachen. Alles ohne Worte. Seine Frau ist an gebrochenem Herzen gestorben. Hinter jedem Foto steckt eine ähnliche Geschichte.“
Die alte Härte ist in ihre Stimme zurückgekehrt.
„Lass uns sehen, was wir diesmal erreichen können.“
Wir gehen eine Treppe hinunter. Cas wirft einen kurzen Blick ins Sanitätszimmer: Zwei Kinder sitzen mit hängenden Köpfen auf einer Liege. Ihre Kleidung ist zerschlissen, die Gesichter schwarz vor Dreck und eines trägt einen Kopfverband. Ein Helfer reicht ihnen gerade ein Glas Wasser.
„Die zwei haben wir aus einem Sklavenhaushalt befreit. Sie wurden abgerichtet wie Hunde. Klauen, dealen, auf den Strich gehen. Ihr Alter ist nur schwer zu schätzen. Sie können nicht lesen und schreiben. Die Täter sind untergetaucht oder werden sogar von der Polizei gedeckt.“
Ich schüttele den Kopf.
„Der Mensch ist des Menschen Wolf.“
Cas packt mich am Arm.
„Verschon mich mit deinem philosophischen Halbwissen. Schlaue Sprüche hör ich an der Uni genug. Dazu die Gutmenschen, die sich hinter ihren Studien und ihren akademischen Meriten verstecken. Ich habe genug von diesem zynischen Blabla. Die Herrschaften sind sich bloß zu fein mit anzufassen.“
„Hey, schon gut. Ich hab nichts gesagt.“
Sie wechselt ein paar Worte mit dem Helfer, dann geht es weiter die Treppe hinab. Hier hat seit Jahrzehnten niemand mehr einen Finger für die Erhaltung gekrümmt. Der Handlauf dient bestenfalls als Wandschmuck. Das Erdgeschoss ist gleichzeitig Anlaufstelle, Versorgungsstation und Ruheraum für die Straßenkinder. Mindestens drei Dutzend haben sich zu dieser Tageszeit hier versammelt.
Einige dämmern in zerfransten Sesseln vor sich hin, starren auf einen altmodischen Fernseher, der den Cartoonkanal in Dauerschleife zeigt. Ihre ausgemergelten Körper stecken in Kleidung, die aus löchrigen Hosen und Altkleider-T-Shirts mit verwaschenen Farben besteht. Ihre Gesichter zeigen knochige Abgeklärtheit. Cas liest mir die Frage von den Augen ab:
„Die meisten sammeln ihre Nahrung aus dem Müll oder stehlen, was sie kriegen können. Sie kommen hierher, wenn sie nichts mehr finden oder einfach nicht mehr können. Sehr oft sind sie zugedröhnt. Die ständige Flucht macht sie krank. Etliche gehen auch auf den Strich. Jungen wie Mädchen. Hier findest du schon Zehnjährige mit Geschlechtskr...“
Sie kann ihren Satz nicht beenden. Ein Tumult bricht aus und die meisten Kinder stürmen aus dem Aufenthaltsraum. An die Wand gedrückt steht ein Junge, in der Hand eine lange Glasscherbe, die er bedrohlich an den Hals eines kleinen Mädchens drückt.
„Keiner bewegt sich. Ich schlitz der Kleinen den Hals auf, wenn ihr euch bewegt.“
Cas findet als erste ihre Sprache wieder und schiebt mich zur Seite.
„Keine Bewegung, hab ich gesagt.“
Seine Stimme überschlägt sich, der Schweiß rinnt in Strömen über das Gesicht. An den Türfenstern kleben die Gesichter der Neugierigen.
„Hör mal, Zakky, leg die Scherbe weg und gib das Mädchen wieder frei. Bis jetzt hast du noch nichts Schlimmes angestellt. Sei friedlich.“
Er schüttelt den Kopf. Das bleiche Gesicht strahlt gierige Entschlossenheit aus. Ich überlege kurz, ob ich meinen Revolver einsetzen soll. Cas spricht ihn wieder an:
„Zakky, warum machst du das? Was willst du denn von uns?“
„Ich brauche Steine. Mir ist alles egal, ich will nur die Steine. Gebt mir was ihr habt, verstanden? Sonst schlitz ich sie auf ...“
„Steine“ ist der gängige Begriff für eine synthetische Droge, deren Zusammensetzung irgendwo zwischen Waschmittel und Desinfektionslösung liegt. Er ist ein Junkie auf Entzug. Ich hebe meine Faust und sage ruhig:
„Zakky, ich hab hier was für dich. Eine ganze Hand voll Steine. Willst du sie dir holen oder soll ich sie dir bringen?“
Cas schüttelt leicht den Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen. Sie ist nicht begeistert von meiner Idee. Zakky hingegen kann vor Gier kaum noch an sich halten. Die Scherbe drückt sich immer unerbittlicher in den Hals der Kleinen. Ein paar Blutstropfen mischen sich mit Zakkys Schweiß. An ihren Füßen hat sich ein kleiner See gebildet.
„Gib mir die Steine, du Looser. Leg sie hier vor mich hin.“
Er bietet seine letzte Kraft auf. Die Kleine im Würgegriff ist stocksteif und behindert ihn zusätzlich, doch die Aussicht auf den nächsten Kick hat ihn blind gemacht. Ich halte ihm die geschlossene Faust hin und öffne sie langsam. Entgeistert starrt er auf die leere Handfläche. Diesen Moment nutze ich und packe seinen Schwertarm, reiße ihn vom Hals des Mädchens weg und denke: „Der ist erledigt.“ Ein schmerzlicher Fehler: In unberechenbarer Raserei entwindet sich Zakky meinem Griff und versucht mir in den Bauch zu stechen. Mit traumwandlerischem Reflex schiebe ich meine linke Hand zwischen Scherbe und Bauchnabel. Zakky sägt mir fast einen Finger ab.
„Nimm das, du Arschgeige. Ich hab ...“ Ein harter Fußtritt in die Körpermitte schleudert ihn durch den Raum. Zakky bleibt würgend und zuckend liegen. Ich will ihn in den Polizeigriff nehmen, doch Cas hält mich auf.
„Bitte, Harry, es ist gut. Keine weitere Gewalt. Er ist erledigt.“
Meine Hand pumpt Blut. Eine von Cas Mitarbeiterinnen hat einen alten Verbandskasten organisiert und versorgt mich und das Mädchen. „Hier Mister, du hast was verloren.“
Ein Mädchen reicht mir das Bild der Toten vom Müll. Die pechschwarzen Haare sind verfilzt, die abgewetzten Trainingshosen viel zu groß und die Augen müde. Mit durchgestrecktem Rücken und verschränkten Armen wartet sie scheinbar auf eine Belohnung.
„Danke. Wie heißt du?“
„Salome. Alle nennen mich Sal.“
Ich beschließe, die Gelegenheit gleich zu nutzen:
„Hey Sal, hast du das Mädchen auf dem Bild vielleicht schon mal gesehen? Ich möchte gerne wissen, wie es heißt.“
Sie grinst von Ohr zu Ohr, als hätte ich einen guten Scherz gemacht.
„Nee. Keine Ahnung, wer das ist. Nie gesehen. Gwen?“
Sal wendet sich einer Gruppe Halbstarker zu. Auf ihren Zuruf dreht sich ein größeres Mädchen um. Es sieht aus wie eine Bordsteinschwalbe: Enge, kurze Oberbekleidung, die Lippen signalrot und kunstvoll gefärbtes, langes Haar. Die Große schielt kurz auf die Kleine herunter und wendet sich wieder den Kumpels zu.
„Du nervst, Sal. Ich bin gerade mitten im Gespräch. Hier reden Erwachsene.“ Mit Nachdruck schiebt sie Sal beiseite. Die ist gar nicht beeindruckt.
„Gwen, hast du die hier schon mal gesehen?“
Wütend dreht sich die Große um und wirft einen Blick auf das Bild. Ohne Vorwarnung scheuert sie der Kleinen eine.
„Spinnst du? Hab dir doch gesagt, du sollst den Bullen keine Antwort geben, oder?“
Sal duckt sich in Erwartung einer zweiten Ohrfeige, stattdessen schiebt Gwen sie aus dem Weg und baut sich vor mir auf.
„Hör auf meine Schwester zu diggen. Bin mir sicher, dass die Fresse hier keiner kennt. Du wirst hier keinen finden, der dir eine Antwort geben wird, kapiert?“
Sie schreit es mir ins Gesicht. Ich merke, dass der letzte Satz vor allem eine Drohung an die Anwesenden ist, sich nicht mit mir einzulassen.
„Ist heut nicht Ihr Tag, Mister.“ Sal zuckt mit den Schultern und trollt sich.
Cas steht plötzlich neben mir. „Wie geht es deiner Hand? Ist die Wunde tief?“ Der Verband hat sich mit Blut vollgesogen.
„Wird schon gehen. Sag mal, passiert das häufiger, dass hier einer ausrastet?“ Sie sieht erschöpft aus: Die Ringe unter den Augen sind dunkler geworden, die Wangen wirken eingefallen und selbst ihre Locken scheinen an Spannkraft verloren zu haben.
„Nicht selten. Wir dulden hier keine Drogen und manche von den Kindern sind Schwerstabhängige. Zakky beispielsweise ist erst zehn. Er ist einer der gefährlichsten Fälle. Für Drogen macht er alles: auf den Strich gehen, klauen, abziehen und betteln. Er kommt nur hierher, wenn ihn der Hunger treibt. Bevor er hier herein darf, wird er gründlich gefilzt. Weder Sozialarbeiter noch Polizei haben ihn unter Kontrolle bringen können, dazu kommt, dass seine Tage gezählt sind, denn durch das Fixen hat er eine tödliche Immunschwächekrankheit bekommen.“
Beinahe hätte mir also ein zehnjähriger, schwindsüchtiger Junkie den Bauch aufgeschlitzt. Ich frage Cas nach den beiden Schwestern.
„Die beiden sind Stammgäste hier. Die Ältere hat eine gewisse Autorität bei den Kindern hier. Gwen kümmert sich aufopfernd um Sal. Die beiden leben auf dem heruntergekommenen Indus-triegelände der alten Stahlfabrik unten am Hafen. Einmal in der Woche schicken wir einen Wagen hin, der Decken, Kleidung und Essen verteilt. Selbst die Polizei wagt sich nur selten dorthin.“
„Ich habe den Eindruck, die Große hat das Mädchen auf dem Bild wiedererkannt. Sie behauptet das Gegenteil und hat scheinbar eine Warnung an alle Anwesenden ausgesprochen mir Informationen zu geben.“
„Die werden dir nichts sagen. Für sie bist du ein Spitzel, eine Gefahr, einer mehr, dem sie nicht vertrauen. Sie würden keine anderen Kids verraten. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel.“
In der Zwischenzeit versammelt sich die Horde wieder im Aufenthaltsraum. Mich treffen misstrauische Blicke aus traurigen Augen. Ich fühle mich wie ein Affe im Zoo.
„Warum kümmert sich eigentlich niemand sonst um die Kinder? Es gibt doch Waisenheime und Pflegefamilien, Sozialarbeiter, Polizei und was weiß ich noch alles.“
Mich trifft ein mitleidiger Blick.
„Es gibt ein offiziell gut ausgebautes Netz von Fürsorge-einrichtungen. Derzeit dürften es mehrere Tausend Kinder und Jugendliche sein, die so versorgt werden. Ich habe darüber einige Studien ausgearbeitet. Es mangelt nicht unbedingt am Geld. Allerdings gibt es auch eine andere Seite des Systems: Missbrauch, Versklavung und Verwahrlosung. Seit sich das Bürgertum hinter seine Stacheldrahtzäune verkrochen hat und der Slum im Süden der Stadt stetig wächst, hat sich die öffentliche Fürsorge in einen Sumpf aus Ausbeutung und Korruption gewandelt. Es sind zu viele Fälle. Die Eltern, Behörden und Einrichtungen sind schlicht überfordert. Zudem sind die Kinder und Jugendlichen häufig in verschworenen Gemeinschaften organisiert, auf die wir keinen Zugriff haben, vor deren Brutalität wir zurückschrecken.“
Ich habe vorerst genug und verabschiede mich von Cas. Die beiden Schwestern sind von einem Augenblick zum anderen im Gewühl verschwunden.