Читать книгу Red Tear - Alexander Fiszbach - Страница 10
ОглавлениеDer Beginn einer bevorstehenden Hoffnung
Es ist der gleiche Tag, der gleiche Ort, die gleiche Zeit, da sich Vater und Sohn duellieren …
Am Ufer eines ruhig fließenden Flusses schlendert ein einzelner Wanderer daher, ohne sonderliche Eile, ohne jegliche Begleitung. Lediglich das sanfte Rauschen des Gewässers begleitet ihn auf seinem Weg. Der Mann kniet am Ufer nieder, taucht beide Hände ins Wasser und erfrischt sein Gesicht. Das kühle Nass wäscht die Müdigkeit von ihm ab und rinnt in Tropfen an seinem langen, weißen Bart hinab. Nachdem er einen Schluck getrunken und seinen Wasserbeutel gefüllt hat, wendet er seinen Blick in Richtung der untergehenden Sonne. Sie wirkt bedrohlich und taucht die Umgebung in rötliches Licht, als würde sie den Fluss mit Blut tränken wollen. Der Wanderer deutet dieses Schaubild als Ankündigung eines bevorstehenden Ereignisses. Er schaut besorgt dem Berggipfel entgegen und rammt seinen Wanderstab in den Boden. „Panta rhei“, flüstern seine Lippen.
Ein Schrei aus weiter Ferne stimmt den alten Wanderer neugierig. Die Stimme kommt ihm bekannt vor und weckt eine böse Vorahnung in ihm. Besorgt horcht er ein weiteres Mal hin.
„Maria!“
Der Bergpfad, von dem die Stimme ertönt, führt durch einen tiefen Wald. Das Unterholz wuchert über die nur noch schlecht auszumachenden Wege und verhindert einen schnellen Durchmarsch. Zudem stehen die Bäume teilweise so dicht beieinander, dass das Sonnenlicht keinen Weg durch das Geäst findet und es selbst am helllichten Tage in diesem Wald so dunkel ist, wie in der wolkenverhangenen Düsternis vor einem aufkommenden Sturm.
Hektisch und zugleich ängstlich irrt ein junger Mann umher. Vor ihm läuft hechelnd ein Wolf mit silbergrauem Fell, der genauso aufgeregt zu sein scheint wie der Mensch. „Maria!“ Immer wieder ruft der Junge den Namen nach allen Seiten. Die Nacht bricht bald herein und die Möglichkeit, die Gesuchte nicht rechtzeitig zu finden, bereitet ihm große Sorge.
Schließlich erreicht der Junge das Ende des Waldpfades, bleibt vor Erschöpfung keuchend stehen und stützt sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Ihn überkommt ein Schauer, er blickt hinter sich und seine Züge spiegeln seine Furcht vor dem Wald wider. Er ist froh, den unheimlichen Ort endlich verlassen zu haben, doch sein umherziehender hektischer Blick verrät, dass er sich nicht vor dem Wald selbst fürchtet, sondern vor dem, was darin lebt. Als er wieder nach vorne blickt, erleuchtet die untergehende Sonne im Tal nun wieder den vor ihm liegenden Weg. Die eben noch herrschende Dunkelheit im Waldinneren scheint vergessen.
Die langen schwarzen Haare des jungen Mannes sind zu einem Zopf geflochten und die Strähnen auf der Stirn wehen sanft im Wind. Sein Äußeres ist von ästhetischer Natur, nicht groß, aber auch in keinster Weise klein. Seine Gesichtszüge sind zart, doch seine Augen sind etwas schmaler und sein stechender Blick strahlt Willenskraft und Entschlossenheit aus. Von seiner rechten Wange bis zur Stirn verläuft eine senkrechte dünne Narbe über das Auge, das auf wundersame Weise so rot wie die Hölle selbst ist, während das linke Auge das Blau des Himmels widerspiegelt.
Der junge Mann scheint nicht älter als zwanzig zu sein. Seine Bekleidung ist bescheiden, er trägt eine Art Hemd aus grob gewebtem Stoff mit engen Ärmeln, die seine leicht muskulösen Arme betonen, eine lange Hose aus leichtem Material, dazu einfaches Schuhwerk. An seinem Ledergürtel ist eine Scheide befestigt, in der ein Langschwert steckt. Einige hundert Schritte entfernt erblickt er eine Windmühle und eine angrenzende kleine Holzhütte. Ohne Ankündigung läuft plötzlich sein pelziger Begleiter voraus und lässt seinen jungen Herrn hinter sich zurück.
„Shiron! Nicht so schnell!“, ruft der Junge seinem wegweisenden Gefährten hinterher, der den Pfad an dem beschaulichen Fluss entlangläuft. Prachtvoll wirkt hier die Umgebung, umringt von mächtigen Bergen, die das gesamte Tal umschließen. Der Mond, der diesen Planeten in einer nahen Umlaufbahn umkreist und sowohl am Tag als auch in der Nacht sichtbar ist, schmückt den Horizont neben der untergehenden Sonne. Neben ihm schwebt ein wesentlich kleinerer, roter Planet, dessen Erscheinung jedoch in Angesicht des Mondes zu verblassen scheint.
An der Windmühle angekommen, bemerkt der junge Mann verwundert, dass sich das Windrad trotz des Zerfalls ganz langsam im Wind dreht. Auffällig sind die ungewöhnlich großen Wurzeln, die aus dem alten, fast in sich zerfallenen morschen Gebäude herausragen, in dessen Inneren eine wunderschöne blaue Rose wächst. Diese einsame Blume wird von einem einzigen schmalen Lichtstrahl erhellt, der sich durch die undichten Holzwände zwängt. Umzingelt von den starken, großen und stacheligen Wurzeln, die überall aus dem Boden ragen, macht es dieser ungewöhnliche Ort geradezu unmöglich, der blauen Rose nahe zu kommen. Und doch scheint sich ihr gerade jemand mit vorsichtigen Schritten zu nähern …
Wie durch Zauberei fangen die stacheligen Wurzeln an, sich zu bewegen und geben einen Pfad frei, der zur Rose hinführt. Doch es sind nicht die metallischen Schritte eines furchtlosen Ritters oder die dumpfen Tritte eines ausgeklügelten Alchemisten, sondern die zarten kleinen Füße eines hübschen Mädchens, das sich der prächtigen Rose immer weiter nähert. Das Haar ist lang und strahlt, als wäre es aus Gold. Die zartrosa Wangen stehen im Kontrast zu der sonst so blassen Haut des Mädchens, dass sich für das junge Alter recht tapfer an einen so gefährlichen Ort wagt.
Zögernd bleibt das Mädchen eine Weile vor der Rose stehen, bis es sich letztlich doch dazu entscheidet, die Hand auszustrecken und die Blume mit viel Feingefühl zu pflücken. Es umfasst die blaue Rose mit beiden Händen, schließt die Augen und nimmt ihren Duft wahr. Der Wind, der durch die morschen Holzwände hindurchzieht, streift sanft durch die langen Haare.
„Maria!“, ertönt ein lauter Ruf von draußen. „Was machst du da?!“
Das Mädchen geht langsam aus der Windmühle heraus, erblickt den besorgten Jungen und dessen Wolf. Mit einem Lächeln erwidert sie: „Schau mal, Gabriel, ich habe den Engel gefunden!“
Als dieser die blaue Rose erblickt, reißt er seine Augen auf und geht einen Schritt nach vorn. „Das ist doch … das ist doch die blaue Rose!“
Anstatt Reue zu zeigen, strahlt ihn das Mädchen voller Hoffnung an: „Meine Träume haben mich zu ihr geführt … Sie ist ein Engel und sie wird mich wieder heilen!“ Sie blickt auf die stachligen Ranken nieder, doch diese ebnen ihr weiterhin den Weg während sie mit beiden Händen den Stiel der Rose fest in der Hand hält.
Auch Gabriel wagt sich nun ins Dornengestrüpp, doch das Unkraut und die herausragenden Stacheln erscheinen wie eine undurchdringliche Mauer.
„Wie machst du das?“, fragt er seine Schwester entsetzt.
„Sie vertraut mir“, antwortet Maria ihm lächelnd.
Als sie nun vor ihm steht, greift er sie an die Schultern und schüttelt den Kopf. „Maria, diese Rose ist dem Dorf heilig! Wir haben jetzt ein großes Problem!“ Er atmet tief durch, beugt sich zu ihr hinunter und guckt ihr tief in die Augen: „Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Währenddessen schleckt der Wolf ihr die Hände ab, da sie sich an den Dornen des Stiels einige blutige Stichwunden zugefügt hat.
Sie nickt bevor sie ihm antwortet: „Papa hat gesagt, wenn man fest an etwas glaubt, dann wird es auch wahr!“
Mit einem Mal neigt Gabriel seinen Kopf zur Erde nieder. „Vater …“
„Er wird wieder zurückkommen, ganz sicher!“
Nachdem Gabriel den Blick von seiner Schwester abwendet und sich wieder aufrichtet, bewundern die beiden den Anblick, den die alte Windmühle ihnen bietet. Es scheint sich um eine ältere Konstruktion zu handeln. Die Form erinnert an einen Grundsegler, das Windrad reicht ungefähr einen Schritt an das Bodenniveau heran. Hier und dort finden sich einige undichte, zerfallende Stellen, trotzdem scheint das Gebäude all diese Jahre ohne größere Schäden überstanden zu haben.
„Das ist also die sagenumwobene Windmühle, von der alle sprechen“, meint Gabriel. „Wie konntest du sie überhaupt finden?“
„Ich sagte doch, der Engel hat mich zu ihr geführt!“
„Was für ein Engel?!“, schreit Gabriel frustriert empor. „Diese Mühle gehört der Ältesten, sie ist die Hüterin der blauen Rose. Wo ist sie überhaupt?“
Maria sieht ihren Bruder unschuldig entgegen und zuckt mit den Schultern.
„Es sollte besser niemand sehen, dass du sie gepflückt hast, sonst bekommen wir gewaltigen Ärger“, entgegnet ihr Bruder schnaubend.
„Man hat uns doch verstoßen“, meint das Mädchen, „was soll dann noch großartig passieren?“
„Hattest du denn keine Angst vor den Wölfen?“, fragt der Bruder ohne auf ihre Frage einzugehen.
„Ich glaube, die Geschichten über die bösen Wölfe dienen nur zur Abschreckung, damit wir unser Dorf nicht verlassen. Außerdem, Onkel Ragnar ist Holzfäller und er würde mich sicherlich hören, wenn ich nach ihm rufe.“
„Du glaubst an die falschen Dinge, Schwester. Denkst du, es wird in unserem Dorf zum Spaß so hart trainiert? Und selbst wenn Onkel Ragnar dich hier in den Wäldern finden würde, so wäre er dem Rudel unterlegen.“
„Niemals!“, protestiert Maria entrüstet. „Onkel Ragnar ist stark!“
„Er hat doch nur einen Arm, den er benutzen kann.“
Nach einem Moment des Schweigens weht ein sanfter Wind erneut durch Marias goldenes Haar.
„Niemand sollte kämpfen, niemand sollte jemanden verletzen … warum auch? Das ergibt doch keinen Sinn?“
„Tiere verfügen nun mal über keine Vernunft, sie folgen ihrem Instinkt und wenn es sein muss, werde ich gegen sie kämpfen!“
„Ich habe dich nie kämpfen sehen, Gabriel, und ich will es auch nicht. Mama hat gesagt, dass du damit aufgehört hast, nachdem du dich mit deinem besten Freund gestritten hast.“
Gabriel gleitet mit seinen Fingern über seine Narbe. „Arend ist nicht mehr mein Freund.“
„Du hast dich von allen anderen abgewandt, du verbringst nur noch Zeit zuhause und unternimmst mit deinen Freunden nichts mehr.“
„Ich brauche niemanden“, erklärt er und blickt abweisend zur Seite.
„Und was ist mit dem Jungen, dem du damals geholfen hast?“, hakt Maria nach. „Der mit den weißen Haaren. Wie hieß er noch gleich? Keiner hat ihn akzeptiert, nur du hast als Einziger an seiner Seite gestanden. Warum trefft ihr euch nicht wieder?“
Beinahe unmerklich schüttelt Gabriel den Kopf. „Hektor hat inzwischen bestimmt neue Freunde gefunden … Aber du lenkst vom Thema ab, pflanz die Rose wieder ein! Vielleicht wird die alte Hexe es nicht merken!“
„Sie ist keine Hexe! Sie ist die Älteste! Ich glaube an das, was der Dorfälteste über sie erzählt. Sie war schwach, der Fluch hat sie böse gemacht!“
„Ja und soweit ich weiß, soll die blaue Rose sie wieder zur Vernunft gebracht haben, oder?“
Die Brauen des kleinen Mädchens ziehen sich zusammen, ihre Augen werden glasklar. „Aber sie hat mich gerufen, sie wollte …“
„Dein Traum … dieser Engel. Wenn es wahr sein sollte, was der alte Mann erzählt hat … Ich meine … Wir leben im Tal der toten Götter … Wir leben auf ihrem Grab. Was wäre, wenn sich einer dieser Götter in die Gedanken eines leichtsinnigen Mädchens einnisten würde, um die Rose loszuwerden?“
„Was redest du da?! Wenn das so wäre, hätte mich doch die blaue Rose nicht zu sich gelassen!“
„Ist ja gut, beruhige dich. Ich versuche mir das nur alles zu erklären.“
Bedrückt blickt sie zu ihm auf: „Die blaue Rose hat mir Hoffnung gegeben, weiterzuleben. Vielleicht würde ich ohne diese Hoffnung heute nicht hier mit dir vor dieser Windmühle stehen. Wenn du fest an etwas glaubst, dann wird es auch wahr … Und außerdem ist die Rose ein Symbol für die Entstehung unseres Dorfs. Man sollte diese Geschichte kennen.“ Bestürzt sieht Maria ihren Bruder an. „Wie konntest du sie nur vergessen, Gabriel?“
„Ich habe sie nicht vergessen … Es ist nur lange …“, er hält ein und blickt mit schmalen Augen und gestrecktem Hals zum Himmel empor. Weit über ihnen schwebt eine Wolkendecke, die im roten Licht der Sonne in skurrilen Zügen eine Art Mauer bildet und in der Mitte einen weiten Bogen zieht.
„Das ist kein gutes Zeichen, Maria. Diese unheimlichen Wolken und die Röte, die in ihnen liegt.“
„Abendrot“, erwidert seine Schwester kurz und knapp.
Gabriel fasst sich verärgert an den Kopf. „Merkst du nicht, dass alles zusammenpasst?“ Doch als er seinen Blick erneut auf seine kleine Schwester richtet, bemerkt er, dass Maria ihm stumm in die Augen sieht.
„Was ist?“, fragt ihr Bruder.
„Deine Augen, sie sind –“ Plötzlich spitzt Shiron seine Ohren, als das Windrad unvermittelt aufhört, sich zu drehen. Gabriel packt seine Schwester fest an der Hand und erschrocken folgen sie dem Blick des Wolfs. Beide werden kreidebleich, als sie eine dunkle Gestalt am Waldrand stehen sehen. Shiron geht einige Schritte auf den Waldrand zu, doch Gabriel läuft ihm schnell hinterher und umfasst mit beiden Händen die Schnauze des Wolfs.
„Shiron, sei still!“
Als er wieder aufblickt, ist die dunkle Gestalt verschwunden.
„Wer war das?“, flüstert Maria.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Gabriel und deutet mit einem Nicken zu einem nahen Hügel, auf dessen Kuppe sich eine Hütte befindet. Aus dem Schornstein steigt leichter Rauch empor. „Lass uns hingehen“, fügt er nach kurzer Stille hinzu.
„Nein, warum? Lass uns nach Hause gehen!“
„Maria, irgendwas stimmt hier nicht! Vielleicht kann uns die alte Frau helfen.“
„Ich halte das für keine gute Idee. Sie ist bestimmt sauer auf uns“, flüstert Maria während ihr Bruder verstummt. Als er einen Schritt in Richtung Hütte wagt, wird er am Ärmel gezogen. „Man sagt, sie sei sehr eigen, und es heißt, dass man sie selten ohne ihr großes Schießeisen sieht. Sie soll angeblich was im Mund tragen, ein zusammengerolltes Papierstück, aus dem Rauch rauskommt.“
Gabriels reißt sich los und neigt seinen Kopf zur Seite: „Bleib einfach hinter mir.“
Langsam und vorsichtig nähern sich die beiden ihrem Ziel. Shiron weicht nicht von ihrer Seite und sucht die Nähe zu Maria. Einsam und alleinstehend, ohne ein einziges anderes Haus in der näheren Umgebung, sieht die Holzhütte sehr bescheiden und dennoch merkwürdig einladend aus. Das saftige Grünland scheint verlassen und im nahen Umkreis zur Hütte steht kein einziger Baum. Gabriel und Maria wissen, dass die alte Dame oftmals ihre Zeit alleine im Haus verbringt, da sie sich im Dorf nur selten zeigt. Als sie sich schließlich der Hütte nähern, wagen sich die beiden Geschwister neugierig an eines der Fenster heran.
„Die Hütte ist um einiges größer, als ich es mir gedacht habe“, stellt Gabriel erstaunt fest.
Maria dagegen kann ihr Unbehagen nicht verbergen und fasst ihren Bruder erneut am Ärmel. „Gabriel, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist …“
„Ruhe jetzt!“, zischt Gabriel und entzieht Maria erneut seinen Arm. „Ich möchte nur sehen, ob sie zuhause ist! Wenn sie nicht da ist, wird es wohl sie gewesen sein, die wir am Waldrand gesehen haben.“
Das junge Mädchen beißt sich trotzig auf die Unterlippe und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich habe keine Angst!“
„So siehst du auch aus“, entgegnet Gabriel höhnisch und zeigt mit dem Finger zum Dachboden hinauf. „Schau mal! Von da oben hat sie einen direkten Blick auf die gesamte Umgebung. Bestimmt sitzt sie dort oft stundenlang in ihrem Schaukelstuhl, liest Bücher, beschäftigt sich mit Stickereien oder betrachtet einfach nur die Natur … während sie auf ihr nächstes Opfer wartet.“
„Du machst mir keine Angst“, gibt sich Maria selbstbewusst.
Gabriel grinst. „Also doch kein Angsthase?“
„Ich bin einfach nur vorsichtig!“
Es haben sich mittlerweile leichte Augenringe auf ihrem Gesicht abgezeichnet und zudem scheint es, als sei ihre Haut noch ein wenig blasser geworden.
Die beiden gehen weiter um das Haus herum und entdecken einen großen Steinbrunnen. Unweit von diesem befindet sich eine Ackerfläche mit Obst und Gemüse.
„Sieht so aus, als würde sie doch nicht nur Menschen essen“, sagt Gabriel bestimmt.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Menschen isst!“
„Es heißt, dass sie nur gegen Männer etwas auszusetzen hätte. Also keine Angst, dir wird nichts zustoßen.“
„Das ist doch Schwachsinn!“, entgegnet Maria aufgebracht und blickt bekümmert zum Haus empor. „Es ist traurig, dass sie hier seit vielen Jahren ganz allein wohnt, nachdem ihr Mann sie verlassen hat.“
„Aber weißt du das denn mit Sicherheit? Niemand kennt schließlich die wahre Geschichte über sie.“
„Siehst du das nicht? Du brauchst dir doch nur diesen Ort genauer anzuschauen. Er ist so leer und die Älteste fühlt sich einsam. Sie ist doch nicht anders als wir. Auch mir fehlt unser Vater.“
Maria greift nach der Hand ihres Bruders und blickt auf die Rose, die sie behutsam in ihrer Rechten hält. „Er ist jetzt schon sieben Jahre fort und ich erinnere mich kaum noch an sein Gesicht.“
„Du warst erst drei, als er fortging. Es wundert mich, dass du dich überhaupt noch an ihn erinnerst.“ Gabriel drückt die Hand seiner Schwester. „Ich werde ihn suchen!“
„Dann komm ich mit dir.“
„Das geht nicht. Du bist krank und musst zuhause bleiben.“
„Wie willst du denn ohne mich da draußen überleben?“
„Ich werde eben so lange nach ihm suchen, bis die Hoffnung in mir stirbt.“
„Dann wirst du nicht aufhören, nach ihm zu suchen … niemals.“
Beide halten inne, als sie dem Horizont entgegenblicken. Die Sonne ist nur noch eine Halbkugel und dennoch gelingt es ihr, das Tal vor der Dunkelheit zu behüten. Die rötliche Färbung des Abendhimmels löst eine gewisse Ehrfurcht in den Kindern aus. Obwohl es schon spät ist und der Tag langsam der Nacht hätte weichen müssen, nähert sich die Dunkelheit nur langsam. Die Stille endet abrupt als sie ein Geräusch aus dem Inneren der Hütte wahrnehmen.
„Kein guter Platz, um Zukunftspläne zu schmieden“, sagt Gabriel.
Maria zeigt auf eines der Fenster. „Ich glaube, ich habe etwas gesehen!“
Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen und stützt sich zusätzlich mit den Händen ab, um durch die kleinen, staubigen Fenster etwas zu erkennen, als hinter ihnen ein scharfer Wind aufkommt und Shiron erneut die Ohren spitzt. Blitzschnell drehen sich beide um und zucken gleichzeitig zurück, als sie vor sich einen riesigen schwarzen Wolf erblicken, der in seiner blutbefleckten Schnauze einen toten Raben trägt. Die ungewöhnliche Größe des Tiers und seine kräftigen Muskeln unter dem dunklen Fell flößen den beiden Geschwistern Ehrfurcht und Angst ein. Als wäre das noch nicht genug, spuckt die Bestie den leblosen Vogel vor ihnen auf die Erde und geht mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren in Angriffshaltung über.
Maria beginnt leise zu wimmern und klammert sich verstört an der Kleidung ihres Bruders fest. Indes versucht Gabriel Ruhe zu bewahren, während er mit zitternden Händen nach seiner Waffe tastet.
„Bloß nicht umdrehen oder weglaufen“, flüstert er seiner Schwester zu. „Sobald er merkt, dass wir zu flüchten versuchen, sind wir ihm ausgeliefert.“
Ihren Tränen unterlegen und völlig verängstigt nickt Maria schweigend.
Schritt für Schritt und sich langsam an der Wand der Hütte entlangtastend, weichen die Geschwister zurück. Plötzlich läuft Shiron auf den schwarzen Wolf zu.
„Shiron! Komm zurück!“, brüllen beide entsetzt, doch obwohl der fast doppelt so große Artgenosse sein Fell aufbürstet und Gabriels Gefährten bedrohlich anknurrt, fängt Shiron ohne große Furcht an, dessen Hinterteil zu beschnuppern. Der schwarze Wolf scheint im ersten Augenblick darüber verblüfft zu sein, doch dann springt er Shiron ohne Vorwarnung an die Kehle und drückt ihn zu Boden.
„Shiron!“, brüllt Maria erschrocken.
Im gleichen Augenblick zieht Gabriel seine Klinge und stürzt sich auf die Bestie, doch die schwarze Kreatur lässt blitzschnell von Shiron ab und wirft sich dem Jungen mit einem mächtigen Satz entgegen. Der Zusammenprall ist so hart, dass das Schwert aus Gabriels Hand gerissen wird und sich für den Jungen in unerreichbarer Ferne in den Boden gräbt. Der schwarze Wolf presst ihm mit seiner kräftigen Pfote die Luft aus der Lunge und hält ihn mühelos am Boden. Während sich die scharfen Zähne der Bestie langsam seiner Kehle nähern, zieht Gabriel ächzend ein Messer aus seinem Ärmel hervor, um die Klinge seitlich in die Kehle seines Angreifers zu rammen – doch unvermittelt stoppt das Knurren über ihm und die Pfote gibt seinen Brustkorb frei. Gabriel schnappt nach Luft und spürt etwas seltsam Feuchtes an seinem Gesicht entlanggleiten.
„Gabriel, lebst du noch?“
Der Junge blinzelt langsam und blickt sich um. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie sich Shiron ihnen spielerisch nähert. Maria weiß augenscheinlich im Moment gar nicht, wie ihr geschieht. Sie steht noch immer an der Wand der Hütte und schaut hektisch zwischen dem schwarzen Wolf und ihrem Bruder umher.
„Bin ich schon im Himmel?“, fragt Gabriel.
Maria lächelt zaghaft. „Warum? Sehe ich etwa aus wie ein Engel?“
Laut stöhnend richtet sich Gabriel auf und fasst sich an die Brust. Sein Herz rast wie verrückt, seine Rippen schmerzen und sein Blick ist ein wenig verschwommen. „Ja, tust du, kleine Schwester“, erwidert er mit dem Anflug eines Lächelns und hebt sein Schwert vom Boden auf. „Ist bei dir alles in Ordnung?“
Verängstigt hält sie die Rose mit beiden Händen fest. „Ja, mach dir keine Sorgen um mich.“
Gabriel blickt zu den beiden Wölfen, die sich gut zu verstehen scheinen und in einigen Schritten Entfernung herumtollen.
„Warum hat er von mir abgelassen?“, fragt sich Gabriel mit fragenden Augen und steckt die Klinge in die Scheide.
„Ich weiß es nicht, aber … sieh doch!“, fügt sie nach kurzer Beobachtung hinzu und streckt ihren Finger weisend auf Shirons pelzige Mähne.
„Da ist keine Wunde zu sehen … Sie haben miteinander gespielt“, ergänzt Gabriel scharfsinnig.
„Auch wenn er uns vielleicht nicht mag, aber anderen Wölfen gegenüber scheint er friedfertig zu sein.“
„Wir haben im Dorf vieles über Wölfe gelernt und sie verteidigen ihr Revier auch vor anderen Wölfen. Die ganze Situation scheint merkwürdig zu sein … Ich habe das Gefühl, dass er erst nach Shirons Hinzukommen von uns abgelassen hat und daher denke ich, …“
„… dass Shiron uns das Leben gerettet hat?“, ergänzt diesmal Maria mit sichtlicher Erleichterung.
Gabriel nickt behutsam, während er seinen Blick nicht vom schwarzen Wolf abwendet.
„Vielleicht kennen sie sich ja und haben sich heimlich im Wald getroffen?“, fragt Maria.
Gabriel schüttelt langsam den Kopf. „Nein aber wie es aussieht, hattest du recht …“
„Was meinst du?“, fragt seine Schwester mit gehobener Augenbraue.
„Man muss nicht immer alles mit Gewalt lösen.“
„Ja, du solltest dir an ihnen ein Beispiel nehmen“, stimmt Maria zu und fröstelt ein wenig, als sie eine kühle Brise streift und ihr das Haar zerzaust.
Nach kurzem Durchatmen fügt er schließlich hinzu: „Die Älteste ist nicht daheim. Komm, lass uns endlich nach Hause gehen.“
Shiron tänzelt spielerisch um seinen neuen pelzigen Freund herum, während dieser den beiden ungebetenen Gästen zum finsteren Waldpfad folgt. Maria wendet sich immer wieder ihren pelzigen Begleitern zu und beobachtet mit welcher Freude Shiron um ihn herumtollt.
„Meinst du, die beiden haben sich ineinander verliebt?“, will Maria mit einem Blick auf ihren Bruder wissen.
Gabriel grinst von einem Mundwinkel zum anderen. „Ich glaube kaum, dass Shiron mit dem gleichen Geschlecht verkehrt. Sieht so aus, als würden sich die beiden einfach nur gut verstehen.“
Maria bleibt stehen und ihre Schritte werden langsamer, als sie dem schwarzen Wolf immer tiefer in die Augen schaut.
„Tu das nicht!“, warnt Gabriel. „Er könnte uns wieder angreifen!“
Doch das Mädchen schweigt und nähert sich dem riesigen Tier. Shiron spitzt seine Ohren, zieht sie mit der Schnauze am Ärmel, doch sie widersetzt sich der Warnung und legt ihre zierliche Hand vorsichtig auf den pelzigen Schädel. Der schwarze Wolf verhält sich ruhig und lässt sich auf die Hinterläufe nieder. Er ist im Sitzen ebenso groß wie das Mädchen mit dem goldenen Haar, das vor ihm steht. Seine Körperhaltung strahlt Stolz und Anmut aus. Das schwarze Fell glänzt und seine blauen Augen strahlen im Gegensatz zu seinem muskulösen und furchterregenden Erscheinungsbild reine Gutmütigkeit aus.
Vor Aufregung läuft Gabriel eine Schweißperle an der Schläfe hinab. „Maria! Was tust du da?“, zischt er ihr zu, als sie vorsichtig beginnt über den Kopf des Wolfs zu streicheln.
„Seine Augen …“, erwidert Maria gebannt. „Er hat die gleichen Augen wie du, zumindest das eine blaue Auge.“
„Ja genau, vielleicht sind wir ja verwandt“, entgegnet Gabriel zynisch und fassungslos aufgrund der Leichtsinnigkeit seiner Schwester.
Maria ignoriert die Worte ihres Bruders und bewundert weiterhin den friedlichen Wolf. „Er ist so wunderschön“, sagt sie und streichelt ihm weiter über den Kopf.
„Komm jetzt, lass und weiter“, äußert Gabriel, während er erneut zur bedrohlichen Wolkendecke emporblickt.
„Es wird einfach nicht dunkel.“
Die angsteinflößenden Wolken haben sich mittlerweile zu einer Art Anhäufung skurriler Geschöpfe umgewandelt, die beim genauen Hinsehen ihre Opfer zum Torbogen hineinziehen möchten.
„Normalerweise lösen sich doch Wolken nach einer bestimmten Zeit auf. Dieser seltsame Torbogen wirkt aber unverändert und es sieht so aus als wären uns die Wolken noch näher gekommen“, antwortet der Bruder mit scharfsinnigen Augen.
„Die Wolken sind doch jetzt egal!“, sagt Maria und richtet ihre Augen langsam auf den dunklen Waldeingang. Große, gelbe Augen ragen aus der Finsternis hinaus, die Maria und Gabriel immer größeres Unbehagen bereiten. Der Ruf einer Eule lässt sie zusammenzucken und im nächsten Moment beobachten sie, wie sich der gefiederte Jäger auf eine Feldmaus stürzt, um dann wieder im Schutz des Waldes dem dämmernden Sonnenlicht zu entrinnen.
„Gibt es keinen anderen Weg als durch den Wald?“, fragt das verängstigte Mädchen.
„Möglich wäre es … aber wir haben nicht die Zeit, um das jetzt herauszufinden. Es könnte nämlich jederzeit dunkel werden.“
Als sie nun das Innere des Waldpfades erreicht haben, verlieren die Blätter der dicht besiedelten Bäume das prachtvolle Grün und wirken nun grau und schwarz im Antlitz der Dämmerung. Kletterpflanzen schlängeln sich an den Baumstämmen empor, Pilze wachsen nahe dem Trampelpfad und Sträucher säumen den Weg.
Zu viert setzen sie ihren Weg fort, doch während der Wind durch die Blätter der Bäume braust und das Licht mit jeder Minute der Dunkelheit weicht, werden die beiden Wölfe immer unruhiger. Eine unheimliche Stille breitet sich im inneren des Waldes aus, doch dann springt eine dunkle Gestalt aus den Schatten des Waldes hervor und schießt direkt auf das Mädchen zu, doch der schwarze Wolf reagiert blitzschnell. Er fängt den Angreifer ab, bevor er Maria erreichen kann, und drückt ihn mit der Schnauze an der Kehle zu Boden. Es ist ein weiterer Wolf, der es offenbar auf Frischfleisch abgesehen hat.
Immer mehr Wölfe tauchen knurrend und kläffend aus allen Richtungen des Waldes auf und umzingeln die Kinder. Shiron kauert ängstlich auf dem Boden, während Gabriel tapfer sein Langschwert zückt und seine Schwester hinter sich zurückdrängt. Maria presst ihre Hände zu einem Gebet zusammen und scheint nicht zu bemerken, dass die Stacheln der blauen Rose dabei ihre Haut verletzen. Blutstropfen fallen zu Boden und die Wölfe nehmen Witterung auf.
Gabriel steht zunächst ratlos dem Rudel gegenüber, doch als er bemerkt, wie sich die knurrenden Angreifer immer näher an das vermeintlich schwächste Opfer herandrängen, schießt das Adrenalin in Strömen durch seinen Körper. Die Pupille in seinem rechten Auge dehnt sich aus, als würde sich eine blutige Pforte öffnen, und seine Gestalt wirkt plötzlich so stark, männlich und standhaft gegen jede Gewalt. „Hab keine Angst, Maria! Ich werde dich beschützen.“
Maria scheint von den Strapazen des Weges und der immer wiederkehrenden Angst um ihrer beider Leben erschöpft zu sein und beginnt zu husten, spuckt sogar Blut. Ihre Kräfte verlassen sie und sie fällt auf die Knie. Entsetzt schaut Gabriel auf die sich ausbreitenden dunkelroten Flecken auf den Armen seiner Schwester. Instinktiv dreht er sich zu dem riesigen schwarzen Wolf um und ruft: „Bitte, hilf uns!“
Die schwarze Bestie lässt den unterwürfigen Wolf laufen, der sich an Maria vergehen wollte, und wagt sich langsam und furchtlos einige Schritte nach vorne, während der Zorn in seinen Augen funkelt. Die Hoffnung und das Vertrauen in den Wolf lassen einen gedanklichen Pfad entstehen, der sich im blauen Auge des Jungen spiegelt. Es flimmert und strahlt eine ungewöhnliche Energie aus, die sich Gabriel selbst nicht recht erklären kann. Plötzlich hört er Stimmen murmeln. Zuerst denkt er, er sei verrückt geworden, als er Worte wahrnimmt, die aus dem Gedankenstrom der Wölfe ertönen. Die Stimmen erscheinen Gabriel zunächst undeutlich, denn sie sind nicht menschlicher Natur. Das Grollen und Knirschen wie auch die Tonlage sind derart tief, dass ein Mensch nicht imstande wäre, sie auf diese Weise auszusprechen.
Ein abgemagertes Tier mit grauem, von Schmutz bedecktem Fell tritt aus dem Kreis der pelzigen Gegner hervor. Es ist genauso groß wie der schwarze Wolf und hat eine Narbe entlang seines blinden weißen Auges. Das obskure Wortgut und das Grollen der Raubtiere schwinden, als das Alphatier die Zugspitze erreicht.
Furchtlos tritt der schwarze Wolf mit gefletschten Zähnen dem Anführer entgegen. Seine ausgefahrenen Krallen durchstechen den porösen Boden. „Lasst sie in Ruhe!“
„Ich … ich kann verstehen, was sie sagen?“, denkt Gabriel fassungslos. „Das ist doch unmöglich!“
Das Alphatier zeigt sich von Gabriels geistiger Präsenz unbeeindruckt. „Ihr Menschen werdet dafür büßen, was ihr uns angetan habt. Wir sind es leid, uns vor euch zu verstecken.“
Einer der anderen Wölfe mischt sich ein und klagt den schwarzen Wolf an: „Verräter! Lässt dich versklaven von einer jämmerlichen Gestalt!“
„Haltet die alte Frau da raus!“, entgegnet der Angesprochene aufgebracht. Die Gestalt des schwarzen Wolfs verändert ihre Form und wirkt mit einem Mal größer als zuvor. Seine Zähne blitzen gefährlich und seine Mähne wie auch sein gesamtes Fell stellen sich geradezu übernatürlich auf. Die meisten Mitglieder des Wolfsrudels weichen ein paar Schritte zurück und auch Shiron versteckt sich ängstlich hinter Gabriels Beinen. Lediglich das Alphatier verharrt regungslos auf seinem Platz.
„Vater …“, sagt der schwarze Wolf.
„Schweig, du undankbare Missgeburt!“, sagt das graue Alphatier, von Zorn eingenommen. „Die Menschen wollen uns aus unserem eigenen Zuhause vertreiben! Sie jagen uns, als wäre dieser Landstrich zu klein für sie und uns.“
„Ihr habt nicht das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, Vater!“, entgegnet der schwarze Wolf zornig.
„Es wird immer mehr böse als gute Menschen geben.“
Gabriels Augen weiten sich. „Lasst uns gehen!“, gibt er entsetzt von sich. Während er diesem Gedanken nachhängt, tritt eine deutlich schmächtigere Wölfin vor.
„Wie kann das sein, wie kann dieser Mensch mit uns reden?“
„Ich …“
„Er ist ein Verstoßener. Er gehört nicht zum Dorf“, unterbricht der schwarze Wolf.
„Er ist immer noch ein Mensch! Wir müssen unsere Welpen vor ihnen schützen!“
„Der größte Feind ist der Mensch“, äußert ein anderer Wolf zornig, „und du hast dich trotzdem mit ihnen verbündet!“
„Eure Worte werden nicht von Dauer sein, wenn ich euch eure Eingeweide herausreiße!“
„Morus! Halt!“, ertönt in diesem Augenblick eine laute Stimme aus dem Wald und unmittelbar danach erschallt ein ohrenbetäubender Schuss. Kurz darauf erhebt sich ein Schwarm schreckerfüllter Vögel aus den Kronen der umliegenden Bäume und ein schwefliger Pulvergeruch verbreitet sich in der Luft. Innerhalb weniger Augenblicke löst sich der Kreis des Wolfsrudels auf und die Tiere verschwinden im schützenden Dunkel des Waldes. Lediglich das unerschrockene Alphatier bleibt noch einen Moment zurück und sieht seinem Sohn unbekümmert in die Augen. Sein Blickt macht deutlich, dass dies nicht das letzte Mal gewesen sein wird, dass sie sich gegenüberstehen. Kurz darauf verschwindet auch er im Schatten zwischen den Bäumen.
Es tritt eine alte Frau aus dem Dunkeln des Waldes hervor, die ein geschultertes Gewehr aus Holz und vergoldetem Messing trägt. Der Rauch steigt immer noch aus der Mündung empor, während sie einen Korb am rechten Arm trägt und grinsend an einer dicken Zigarre zieht. Ein Kopftuch bedeckt zum Großteil ihre grauen Haare. Sie wirkt alt und gebrechlich, scheint jedoch geübt im Umgang mit einem Gewehr zu sein. „Diese verdammten Köter gehen mir allmählich auf die Nerven.“
Obwohl das Wolfsrudel verschwunden ist, wirkt Gabriel alles andere als erleichtert und wendet sich seiner Schwester zu. „Maria, ist alles in Ordnung?“
Das Mädchen ist immer noch starr vor Angst und sagt kein Wort. Shiron geht zu ihr hinüber und stupst sie mit seiner Nase an, doch Gabriels Schwester reagiert nicht. Morus geht währenddessen langsamen Schrittes auf die Älteste zu und begegnet ihr mit Gehorsam und Disziplin.
Die alte Frau blickt dem schwarzen Wolf auf Kopfhöhe in die Augen. „Morus, du solltest doch aufs Haus aufpassen!“, tadelt sie das riesige Tier und fügt dann kichernd hinzu: „Na ja, wenigstens hatten die Kinder eine freundliche Beihilfe.“
Sie dreht ihren Kopf zu den Geschwistern und sagt: „Maria und Gabriel – schön, dass ihr mich endlich besuchen kommt.“
„Woher kennst du unsere Namen?“, fragt Gabriel verstört, doch bevor die Frau antworten kann, fällt Maria in Ohnmacht und stürzt zu Boden.
„Maria!“
„Das war wohl heute ein wenig zu viel des Guten“, meint die Alte unbewegt.
Der Junge kniet neben Maria nieder und legt seine Hand stützend unter den Kopf des Mädchens. „Kannst du ihr helfen?“
„Leider nein, mein Junge.“
Gabriel schüttelt aufgebracht den Kopf, nimmt Maria auf seine kräftigen Arme und steht auf. „Sag mir, wie wir hier schnell rauskommen!“
„Ruhe ist wahrlich nicht deine Stärke, Gabriel. Ich weiß, dass deine Schwester schwer krank ist, doch dein Zorn wird ihr nicht zur Gesundheit verhelfen.“
„Siehst du nicht, dass sie ohnmächtig ist?!“
Als Gabriel ihr den Rücken zuwendet, kichert die Älteste und sagt: „Ich denke, dass wir uns schneller wieder begegnen werden, als dir lieb ist.“
Gabriel wirft einen wütenden Blick über die Schulter nach hinten. „Das glaube ich kaum.“ Er schaut sich um und wirkt orientierungslos, Verzweiflung macht sich auf seinem Gesicht breit. Der Gedanke, seine Schwester bald nicht mehr am Leben zu sehen, lässt einen Kloß in seinem Hals entstehen und seine Augen werden wässrig.
„Wenn du nach Hause willst, solltest du in die andere Richtung gehen.“
Shiron ist genauso betroffen wie sein Herrchen und scheint die Lage zu verstehen. Winselnd schmiegt er sich an Gabriels Beine.
„Halte deine Tränen nicht zurück, mein Junge. Eine Träne erlöst dich von innerem Leid. Aber die Wölfe haben Hunger und sind noch in der Nähe“, fährt sie fort und füllt ihr Gewehr mit Schwarzpulver. „Also spute dich und folge mir.“
Gabriel blickt nachdenklich auf die blaue Rose, die zu Boden gefallen ist. Er hat ein schlechtes Gewissen, denn schließlich haben sie die Rose aus der Windmühle entwendet und nun hat ihnen die Frau, die sie jahrelang behütet hat, das Leben gerettet. Einen Moment lang zögert er, doch dann lässt er die Blume liegen und folgt der Ältesten. Stillschweigend und mit den Gedanken bei seiner Schwester, geht er hinter der gesprächigen alten Frau her, ohne jedoch ihren Worten, dass sie gerne Pilze sammeln geht und sich stets über Besuch freuen würde, viel Gehör zu schenken.
„Wir hatten nicht vor, dich unter diesen Umständen zu besuchen“, erklärt Gabriel schlagartig.
„Ah, der junge Mann spricht also wieder mit mir“, erwidert die Alte und dreht sich grinsend zu ihm um. „Schön, dass du Verstand und Mund zu nutzen versuchst. Sag mal, kennst du bereits meine Enkelin?“
„Welche Enkelin?“, fragt Gabriel erstaunt.
Wieder kichert die alte Frau: „Du wirst sie früh genug kennenlernen.“
Dem Jungen läuft ein kalter Schauder über den Rücken. „Wenn sie nur annähernd dem Erscheinungsbild ihrer Großmutter entspricht, will ich das wahrscheinlich gar nicht“, schießt es ihm durch den Kopf, doch im gleichen Augenblick spürt er, dass seine Kräfte allmählich nachlassen. Er geht in die Knie, lehnt Maria vorsichtig an einen Baum und versucht sich zu orientieren. Sie sind inzwischen am Ende des Waldpfades angelangt und müssen nur noch eine steinerne Brücke passieren, unter der ein schmaler, glasklarer Fluss fließt.
„Wie geht es eigentlich Vincent?“, fragt die Älteste.
„Wer ist Vincent?“, fragt Gabriel verwundert. Er kennt jeden im Dorf, doch dieser Name ist ihm fremd.
„Ich bin wohl die Einzige, die ihn so nennt.“ Erneut fängt sie an zu kichern. „Ihr bezeichnet ihn alle als den Dorfältesten, denn anscheinend ist euch der Name, den er trägt, nicht so wichtig. Seit der Erbauer verschollen ist, ist er das Oberhaupt eures Dorfs. Er wollte unbedingt, dass ich mit euch im Dorf lebe.“
„Und warum bist du dann nicht bei uns geblieben?“
Mit einem aufgesetzten Lächeln äußert sie: „Irgendwer musste doch auf die blaue Rose achtgeben.“
Ein unbehagliches Gefühl macht sich in Gabriel breit, doch etwas in ihm lässt ihn ahnen, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagt.
Als sie wenig später eine kleine Weggabelung erreichen und das rote Dämmerlicht kegelförmig durch das verworrene Geäst der Bäume auf sie niederscheint, bleibt die Älteste stehen. „Weiter wagen sich die Wölfe nicht mehr heraus. Ihr solltet jetzt in Sicherheit sein.“
Gabriel legt seine Schwester sanft auf den Boden. Schweigend blicken der Junge und die alte Frau auf das Flussufer und beobachten, wie der Strom an den Felsen entlangzieht.
„Mein Kind, lass dich von der Natur belehren“, durchbricht sie schließlich die Stille. „Selbst, wenn alles aussichtslos erscheint – bleib stets standhaft wie ein Fels in der Brandung.“
Langsam wendet der Junge seinen Kopf und sieht sie mit einem leicht konfusen Ausdruck in den Augen an. Zu seiner Überraschung holt sie die blaue Rose, die er selbst hat liegen lassen, aus ihrem Korb hervor. Er deutet dies als kein gutes Zeichen und schweigt, doch die alte Frau verliert kein Wort über den Umstand, dass sie ihre Rose gepflückt haben.
„Wenn du fest an etwas glaubst, dann wird es auch wahr“, sagt sie und streckt ihm die blaue Rose entgegen. Entsetzt weicht Gabriel ein paar Schritte zurück. Dies sind die gleichen Worte, die Maria voller Hoffnung gesprochen hat.
Noch immer hält ihm die Älteste die blaue Blume unter die Nase, doch der Junge sträubt sich energisch, die Rose entgegenzunehmen, aus Furcht, es könnte sich um eine List handeln, mit der sich die alte Frau an ihnen rächen möchte. Er nimmt Maria wieder vorsichtig auf die Arme und geht mit Shiron im Schlepptau auf die Brücke zu. Dann dreht er noch einmal seinen Kopf zur Seite und mit einem leisen „Danke“ zum Abschied macht er sich auf den Heimweg.
Die Älteste blickt ihm lächelnd nach, die blaue Rose noch immer in ihrer Hand haltend.