Читать книгу Helmut Kohl. Ein Prinzip - Alexander Gauland - Страница 7
Die alte Ordnung
ОглавлениеEs gehört zu den ironischen Kapriolen des Einigungsprozesses, daß so mancher Konservative, der die Bundesrepublik über Jahre gestützt und verteidigt hatte, ihr angesichts der Einigung die Treue brach, wohingegen nicht wenige Linke, die sie zu ihren Lebzeiten als unvollkommen und restaurativ von sich gewiesen hatten, sie im Untergang in ihr Herz schlossen. Den einen war sie eine historische Kümmerexistenz in einer Nische der Weltgeschichte, apolitisch, fremdbestimmt und im Sybaritismus versinkend19, den anderen wurde sie im Vergehen zum Modellfall aufgeklärter Staatlichkeit, eine »civil society« auf dem Weg zur herrschaftsfreien Kommunikation.20 Beide Positionen überzeichnen, und doch enthalten beide mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Die Bundesrepublik hatte bei ihrer Gründung im Jahre 1949 Startchancen, die uns erst heute, da sie bedroht scheinen, recht bewußt werden. Schon die räumliche Begrenzung erwies sich als Glücksfall. Das alte Reich mußte den Spannungsbogen zwischen rheinischem Katholizismus und ostpreußischem Pietismus aushalten. Köln verband fast nichts mit Königsberg, die Pfalz nichts mit der Uckermark. Wolf Jobst Siedler hat einmal davon gesprochen, daß man Deutschland in das Weinland im Westen, das Bierland in der Mitte und das Schnapsland im Osten teilen könne, das dann umstandslos in die slawische Wodkawelt übergehe.21 Historischer ausgedrückt kann man davon sprechen, daß die alte Bundesrepublik in ihrem Kern Limesland, also römisches Erbe war, daß die vormalige DDR bis zur Elbe das ottonische Deutschland umfaßte, in dem die mittelalterlichen Kaiser gotische Dome mit römischen Ziegeln gebaut hatten, und daß östlich der Elbe Kolonialland lag, Ostelbien eben. War das Hohenzollernreich evangelisch geprägt, so war die alte Bundesrepublik konfessionell ausgeglichen. Doch da die Stätten deutscher Innerlichkeit – Wittenberg und Naumburg, Eisleben und die Wartburg – aus dem Blickfeld verschwunden waren, prägte das katholische Deutschland den Weststaat stärker als sein evangelisches Element. Es fiel der alten Bundesrepublik folglich auch nicht schwer, sich in die angelsächsische Weltzivilisation einzufügen; denn der Rhein hatte schon immer Teil an der westeuropäischen Entwicklung, an römischem Institutionendenken, an Renaissance, Aufklärung und den Idealen von 1789. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte zu Berlin, Warschau oder Budapest. Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Rußland, nicht nach Westen, ganz anders der Düsseldorfer Jude Heine und der rheinische Katholik Adenauer. Trotz Kant und Humboldt war das Gesicht Preußens gen Osten gewandt, schließlich war Preußen im Siebenjährigen Krieg und in den Befreiungskriegen von Rußland gerettet worden und auch Bismarcks Einigungswerk nur durch den Seitenwechsel Rußlands nach dem Krimkrieg möglich gewesen. Unsere westlichen Nachbarn haben diese Veränderung Deutschlands sehr viel schärfer gesehen als wir selbst. Graf Krockow zitiert in seinem Buch Die Deutschen in ihrem Jahrhundert einen Holländer mit den Worten: »Ihr Deutschen klagt immer darüber, daß 1945 der Osten so weit vorgedrungen ist bis an die Elbe und die Werra. Für uns sieht es anders aus: Die Grenze Westeuropas ist um ein paar hundert Kilometer von Aachen bis Helmstedt nach Osten vorverlegt worden.«22
Der Fortfall der Provinzen, aus denen die Führungsschichten des Hohenzollernreiches kamen, hatte aber auch eine personale Folge, die zugleich Verlust und Gewinn bedeutete. Diejenigen, die die deutsche Großmachtpolitik getragen und den deutschen Weg zwischen West und Ost verkörpert hatten, waren ihrer materiellen Basis beraubt. Was der Nationalsozialismus begonnen hatte, vollendete seine Niederlage. Zum letzten Male waren die großen preußischen Namen am 20. Juli 1944 in Erscheinung getreten. Im Aufbäumen gegen Hitler verblutete sich der preußischdeutsche Konservativismus. Nach dem Kriege gab es jenes Deutschland nicht mehr, das sich von der politischen Kultur Westeuropas dadurch zu unterscheiden suchte, daß es die »volkhafte Lebensordnung« über den bürgerlichen Staat stellte.23 Eine Neuauflage der Politik der Brockdorff-Rantzau und Schulenburg war weder machtpolitisch noch räumlich, noch geistig möglich.
Die nachwachsende Generation, in jüngster Zeit abwertend als »Jalta-Generation« tituliert24, wandte sich deshalb entschlossen nach Westen. Die einen suchten der irrationalistischen deutschen Tradition durch die Hinwendung zum linken Hegel und einem »westlich gelegenen Marx« zu entkommen25, die anderen entdeckten in Burke und Tocqueville jenen demokratischen Konservativismus, den Heidegger und Carl Schmitt in Deutschland zuerst verdrängt und schließlich zerstört hatten. Sosehr die 68er-Revolte auch »Linke« und »Rechte« trennen sollte, einig blieben sie sich in der Überzeugung, daß es einen gesonderten deutschen Weg nicht mehr geben konnte. Fast spurlos verschwanden die letzten Vertreter einer nationalen Tradition aus dem literarischen und öffentlichen Leben. Reinhold Schneider, Hans-Joachim Schoeps und Ludwig Dehio wecken heute nur noch vage Erinnerungen an eine kulturelle Traditionslinie zwischen Weimar und Potsdam, die im Niemandsland endete. Allein Gerhard Ritters Versuch, das Recht des von der Exekutive geprägten kontinentalen Machtstaates gegen die von der Legislative beherrschten insularen Mächte England und Amerika zu behaupten, gewann in der »Fischer-Kontroverse« noch einmal eine gewisse Dynamik. Doch obwohl Ritter in der Kriegszieldiskussion eher recht und Fischer eher unrecht hatte, waren es gerade die Ritterschen Grundprinzipien einer machtstaatlichen, vom Westen getrennten preußischdeutschen Tradition, die seinem Standpunkt die Wirkung raubten. Während die »Rechten« das westliche Deutschland konsequent in die transatlantischen Institutionen einfügten, bekämpften die »Linken« diese Institutionalisierung ihrer mentalen Westbindung als Restauration des Kapitalismus. Entlang dieser Scheidelinie verlief auch der 68er-Konflikt. Was für die einen ein Gewinn an Homogenität und Weltoffenheit war, erscheint den anderen als ein Verlust an Urbanität und geistiger Tiefe.
Karl Heinz Bohrer hat in seinen bitteren Marginalien zum Provinzialismus26 das Versagen der bundesrepublikanischen »classe politique« im Golfkrieg gegeißelt und ihr ihre Flucht aus dem Politischen vorgeworfen. Dabei hat er den Verlust der alten politischen Führungsschichten für die »intellektuelle Begrenzung und die kulturelle Niveaulosigkeit« der neuen kleinbürgerlichen Politikergeneration verantwortlich gemacht, die er in Kohl und Lafontaine repräsentiert sieht. Nicht erst der Betroffenheitskult in der Nachfolge der 68er, sondern bereits das Aufgeben der existentiellen metaphysischen Dimension in den 68er und 70er Jahren habe Deutschland als eine geistige Möglichkeit ausgelöscht. Doch die Bindung an den Westen setze eine eigene akzeptierte Identität voraus, die das Erbe nicht schematisch in rational und irrational unterteile, da ebendiese Selbstverstümmelung der tiefere Grund für den Mangel an Existenzwillen und Handlungsbereitschaft in der alten Bundesrepublik sei.
Diese Kritik, die jüngst Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« wiederaufgenommen hat27, zielt zugleich auf jene »political correctness», die schon die Frühromantik in den deutschen Sonderweg einbiegen sieht und mit Ernst Jüngers Arbeiter auch seine Marmorklippen verwirft. Die alte Bundesrepublik, so ihre Kritiker, habe ein Milieu hervorgebracht, das »betont kommunikativ, aber evasiv, liebenswürdig, aber ängstlich, programmatisch-ideologisch, aber undeutlich und unkonkret« sei.28 »Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.«29 Diesen nicht unberechtigten Einwänden gegen unsere »alltägliche Vernünftigkeit« kann man nur mit einem Rückgriff auf Edmund Burke begegnen, der das »bundesrepublikanische Sittengesetz« bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Extremismus der Französischen Revolution formuliert hat: »Alle Regungen, ja alle menschlichen Freuden und Genüsse, jede Tugend und jede kluge Handlung ist auf einen Kompromiß, eine Balance, gegründet, wir wägen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, wir nehmen und geben, wir nehmen einige Rechte nicht in Anspruch, damit wir uns anderer erfreuen können, und wir wollen lieber glückliche Bürger als spitzfindige Disputanten sein.«30 Nachdem die Deutschen lernen mußten, daß die Freund-Feind-Unterscheidung Schmittscher Observanz zur Krisenbewältigung nicht geeignet ist, entschieden sie sich für die Konsenssuche als ein Gegenmodell. Nicht Ausgrenzung, sondern Einhegung wurde die Zauberformel der alten Bundesrepublik. Es war der Abschied von dem tragischen Versuch, »mit welch geistigen und moralischen Mitteln auch immer – uns selbst als besondere Kategorie, die Metaphysik des Ichs gegen eine internationale Regel ins Feld zu führen».31
Kurzschlüsse, die in Verurteilungen münden, sind immer gefährlich – dennoch gab es natürlich eine Verbindungslinie von Fichtes nationaler Metaphysik über die Verwerfung der Modernität und der rationalistischen Tradition durch den »Rembrandt-Deutschen« hin zu »Bruder Hitler». Diese Verbindungslinie, die das Scheitern des deutschen Weges nach Europa symbolisiert und an deren Ende die Ersetzung des »Ich« durch das »Es« in der Heideggerschen Philosophie stand, brach 1945 ab. Daß dabei auch kulturelle Verluste zu beklagen sind, steht außer Frage. Doch die Gewinne überwiegen. Zum ersten Mal ist die parlamentarische Demokratie westeuropäischer Prägung fest in Deutschland verankert. Zum ersten Mal ist es den Deutschen gelungen, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, deren Fehlen die Republik von Weimar zerstört hat, zum ersten Mal hat sich in Deutschland eine zivile bürgerliche Gesellschaft gebildet, hat Deutschland Abschied genommen vom lutherischen Gemeinschaftsideal. Das erste Mal haben die Deutschen ein gesellschaftliches Mindestmaß an Toleranz ausgebildet, zum ersten Mal hat auch eine politische Klasse in Deutschland pragmatischen Realismus als Tugend begriffen. Die Staatsräson der Bundesrepublik stützt sich nicht wie die des Kaiserreiches auf zwei Augen, deren Erlöschen den Staat zum Schiff ohne Steuermann werden ließ.
Vor diesem Hintergrund ist die Welt, in der wir noch leben, leicht zu skizzieren. Die Bundesrepublik ist eine demokratische Industriegesellschaft, deren Klassenstruktur weit schwächer ausgebildet ist als die der klassischen Demokratien. Dies bedeutete von Anfang an die Suche nach dem Kompromiß als einer Strategie zur zivilisierten Beilegung von Konflikten, wenn nicht gar zu ihrer Vermeidung. Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft sind Stabilität und Konsens. Schon am Beginn der zweiten deutschen Demokratie stand mit der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsbegriff, der Ausgleich und Partnerschaft signalisierte. Alle Begriffe, die im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben, atmen diesen Geist der Konfliktvermeidung. Mitbestimmung, Friedenspflicht, innerer Friede, sozialer Friede, soziales Netz, Sozialpartnerschaft, Sicherheitspartnerschaft, konzertierte Aktion und Solidarpakt. Zu keiner Zeit hatte jene kalte Marktgesellschaft, die Margaret Thatcher und Präsident Reagan vorschwebte, in diesem Lande eine Chance. Die manchmal beklagten Verkrustungen – ob beim Ladenschluß, in der Tarifpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt – sind die Folge eines leidenschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wahlkampfslogan der 50er Jahre: »Keine Experimente« einen überzeitlichen und allgemeingültigen Ausdruck fand. Das Bild des Staates als einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit hat sich weit von der Hegelschen Staatsmystik entfernt. Dem Streben nach gesellschaftlichem Konsens entspricht die Ausrichtung der deutschen Politik und ihrer Institutionen auf die politische Mitte. Risikovermeidung um jeden Preis mag auch die Folge des Fehlens einer homogenen Führungselite sein, da dieser Mangel fast zwangsläufig durch das Streben nach Konsens und institutionellem Zwang zu politischer Gemeinsamkeit ausgeglichen werden muß?32 Wie in der Innenpolitik, so bestand in der alten Bundesrepublik am Ende auch Konsens über die Außenpolitik, obwohl hier anders als bei den gesellschaftlichen Grundlagen die leidenschaftliche politische Debatte am Anfang stand und alle Grundentscheidungen gegen den Widerstand einer beträchtlichen Minderheit durchgesetzt werden mußten. Das galt für die Wiederaufrüstung, die NATO-Mitgliedschaft, die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die Brandtsche Ostpolitik und die Nachrüstung. Was heute klar und einleuchtend erscheint, war am Anfang weit umstrittener als die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ausrichtung der Republik. Das eigentlich Neue an der alten Bundesrepublik ist die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Bürger sich als Teil des Westens und seiner politischen Kultur, als Teil einer immer enger zusammenwachsenden Gemeinschaft europäischer Nationen empfinden, europäische Integration und atlantische Ligaturen gehören heute (noch!) zum Kernbestand deutscher Staatsräson.33
Erstaunlicherweise hat die Revolte von 68 weder die innenpolitischen Grundlagen der Republik noch die außenpolitischen Richtungsentscheidungen in Frage gestellt. Dennoch war sie eine Zäsur für die bundesrepublikanische Gesellschaft, über deren Auswirkungen und Folgen noch immer gestritten wird. Doch während die konservative Publizistik noch immer alles Unheil dieser Welt mit dem Jahre 68 beginnen läßt34 und dabei übersieht, daß diese Revolte die Folge eines »konservativen« Modernisierungsschubs mit gesellschaftlichen Auflösungstendenzen in Richtung auf mehr Wohlstand, mehr Freiheit und damit verbunden größeren Wahlmöglichkeiten war, sind die damaligen Revolutionäre merkwürdig still geworden oder haben sich zu Kritikern der gesellschaftlichen Folgen von 68 gemausert.35
Betrachtet man das Ende und nicht den Prozeß, so halten sich Negatives und Positives die Waage. Zu den Erbübeln von 68 muß man nach wie vor die Dominanz eines marxistischen Weltbildes rechnen, das den Ordoliberalismus verdrängte und uns in theoretischer Hilflosigkeit zurückgelassen hat. Die Rückkehr von Heidegger und Carl Schmitt hat auch damit zu tun, daß die Gedanken von Eucken, Röpke, Rüstow, Böhm und Müller-Armack nicht weiterentwickelt wurden und jetzt das theoretische Werkzeug zur Bewältigung der Krise fehlt. Die modische Verflachung von Erziehung und Bildung, die Aushöhlung traditioneller Institutionen wie die Auflösung des Politischen in einer zur Handlungsunfähigkeit verdammenden Betroffenheit sind weitere Negativa. Die Geringschätzung des Formalen und das Leugnen des Existentiellen haben die schon vorhandene Neigung verstärkt, alle Konflikte durch Sozialarbeit und Gesprächstherapie, durch Appelle an den »common sense« und gutes Zureden zu überwinden.
Doch den Verlusten stehen auch Gewinne gegenüber. Das Zerstörungspotential von Großtechnik ist uns seit Friedrich Georg Jüngers berühmtem Buch geläufig, ins tägliche Bewußtsein wurde es trotz Hiroshima erst von den Grünen gehoben. Daß wir Lebenswelten nur in dem Umfang und in der Geschwindigkeit preisgeben können, wie sich neue entwickeln, daß der Markt zwar Güter, aber keine Traditionen reproduziert, gehört ebenfalls zu den neueren Einsichten. Daß die Verlangsamung des Fortschritts eine Notwendigkeit für das Wohlbefinden der Menschen wie für die Kohärenz von Gesellschaften ist, wäre in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht verstanden worden. Die Bewahrung des Romantischen, des Verspielten, des Individuellen gegen demokratische Egalität und wirtschaftliche Rationalität ist gleichfalls ein Stück – vielleicht sogar ungewollter – Betroffenheitserkenntnis. Die Zivilisierung des Politischen im Umgang mit anderen Völkern gehört ebenfalls hierher. Zeigt uns doch der Bürgerkrieg in Jugoslawien, was es für die Menschen heißt, wenn ein Volk sein Sittengesetz mit Blutopfern gegen andere behauptet.
Mag die »Toskana-Fraktion« heute Symbol für den Verlust des Politischen in der 68er-Generation sein, die zivilisierende Wirkung selbst oberflächlichster Tourismuserfahrungen läßt sich nicht leugnen. Während die ältere Generation trotz ihres »differenzierten Sprachwissens« und ihrer »kulturellen Erfahrung« mit Italien noch den »Verrat« von 1915 und 1943 verbindet, schätzen die Jungen Pinot Grigio und Bardolino. Sie sind damit trotz aller Bildungsverluste des Massentourismus in den Schoß jener weltbürgerlichen deutschen Tradition zurückgekehrt, die besonders im 18. und im frühen 19. Jahrhundert bestrebt war, sich fremde Lebens- und Kulturformen anzuverwandeln, auch wenn das politisch-kulturelle Interieur der bereisten Länder vielen verschlossen bleibt. Der Widerspruch zwischen Lebenswelt und Politik hat sich aufgelöst, und die antiamerikanisch kostümierte Revolte ist am Ende in eine weitere Verwestlichung Deutschlands gemündet. Statt des Marxismus und des Maoismus obsiegte die Pop- und Hippiekultur und die 68er wurden die kulturellen Erben Adenauers, ihre intellektuellen Wortführer zu Verfechtern der Westintegration. Wenn Jürgen Habermas sich heute zu Helmut Kohls Außenpolitik bekennt36, dann zeigt das auch die gewaltige Integrationsleistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren erster innenpolitischer Härtetest die Überführung des Generationenkonflikts in einen neuen Konsens war.
Betrachtet man die bundesrepublikanische Gesellschaft in den 8oer Jahren, so stellt sie sich als eine reife, ausdifferenzierte Gesellschaft dar, in der die vielfältigen und individualisierten Privatwelten die Uniformität der Arbeits- und Warenwelt kompensieren. Die Errungenschaften der Vielfalt wie der Emanzipation des liberalen Individuums ermöglichen aber auch den libertären Hedonismus und Narzißmus, die Rationalität und Disziplin als die Grundlagen ihrer Ermöglichung zerstören können. Mit den Worten des verstorbenen Historikers Nipperdey: »Wo aber Einheit ist, wächst das Spaltende auch.«37 Doch dies ist das klassische Problem aller reifen Gesellschaften. Die Auflösung des Politischen in höchst unbestimmbaren Gefühlswelten, Hedonismus und Pazifismus, wie das immerwährende schlechte Gewissen der führenden Schichten, waren auch typisch für das England Eduards VII. Vita Sackville-West hat diesen Erosionsprozeß in den Edwardians gültig beschrieben, und wir finden im Ansatz in diesem Buch fast alles, was die Kulturpessimisten beklagen: Genußsucht und Entscheidungsschwäche, notorisch schlechtes Gewissen der Herrschenden und den Unwillen, den politischen Realitäten ins Auge zu sehen. Die kulturelle Überzeugung wird zur Pose ästhetischer Lebensstile und die Kraft zur Gestaltung zerrinnt in schwächliches Epigonentum, wie es Byron in seiner »Ode an Venedig« von einer funktionsunfähigen Elite gemalt hat: »Jedoch in ihrem Schlaf nur murren sie / verschieden von den Vätern ganz – gleichwie / der Ebbe dunkelgrüner Schlamm auch immer / verschieden ist von frischem Flutenschimmer.« In diesen Zusammenhang gehört auch jenes berühmte Votum der Oxford Union, nicht für König und Vaterland zu fechten. Harold Nicolson hat sehr viel später unter Hinweis auf die Ästheten des Bloomsbury-Kreises davon gesprochen, daß sie alle Schuld auf sich geladen hätten, da sie die politische Ordnung nicht zu verteidigen wußten, als es notwendig war. Trotz dieser Gefährdungen bleibt die Geschichte der Bundesrepublik in den letzten vierzig Jahren historisch eine ununterbrochene Erfolgsgeschichte, auf die jene »Whig Interpretation of History« zutrifft, die das Geschehen als eine – wenn auch umkämpfte – Entwicklung zu mehr Toleranz, mehr Freiheit und mehr Demokratie begreift. Der wirtschaftliche Erfolg hat die Teilhabe immer breiterer Schichten an dieser Entwicklung ermöglicht.
Ein hartes, aber am Ende dennoch gütiges Geschick hat das Gesicht Deutschlands gewaltsam nach Westen gewendet. Doch dies ist kein neuer Sonderweg, wie jetzt behauptet wird38, sondern die Erfüllung deutscher Geschichte. Denn die Idee des Reiches war jahrhundertelang europäisch, nicht deutsch. Das nationale Selbstbild der Deutschen beruht auf einem »selektiven Grundriß»39 der Geschichte, den Treitschke im 19. Jahrhundert mit der deutschen Mission Preußens ideologisch überhöhte, wodurch zur Normalität werden sollte, was historisch gesehen die Ausnahme war. In der Bundesrepublik hat sich der Kreis geschlossen. Denn ihre Staatsdoktrin war eben nicht nur Ausdruck eines rheinischen Provinzialismus, sondern auch Anknüpfung an verschüttete deutsche Traditionen, an Goethes und Humboldts Weltbürgertum ebenso wie an Thomas Manns hanseatische Bürgerlichkeit. Was vom Weströmischen Reich über die Karolinger, die Ottonen und die Staufer zu Karl V. führte, was dann nach über fünfzehnhundert Jahren Dauer für dreihundert Jahre unterbrochen war, um für achtzig Jahre eine vergängliche Form anzunehmen, kehrte zu seinen Ursprüngen zurück. Die Deutschen in der Bundesrepublik haben in den vergangenen vierzig Jahren nach Europa zurückgefunden, da sie das Jahr 1945 darüber belehrt hat, daß Karl V. gegenüber Luther letztlich im Recht war. Helmut Kohl ist in seinen Erfolgen wie in seinen Mißerfolgen, in seinen Stärken wie in seinen Schwächen ein Repräsentant dieser Ordnung.