Читать книгу Beutewelt V. Bürgerkrieg 2038 - Alexander Merow - Страница 5

Verschwunden

Оглавление

Frank Kohlhaas öffnete die Augen und blinzelte. Um sich herum erkannte er drei verschwommene Gestalten, die sich laut auf Russisch unterhielten. Er schmeckte einen kleinen Rinnsaal aus Blut, der ihm aus der zerschlagenen Nase in seinen Mund lief. Der General lag in einem Lieferwagen auf dem Rücken und konnte sich kaum bewegen, da seine Arme und Beine mit dicken Seilen verschnürt waren. Hilflos wie ein Fisch im Netz zappelte er herum. Nach und nach wurde sein Blick etwas schärfer, Frank kam wieder zu sich. Die drei Männer schienen Kollektivisten zu sein. Einer von ihnen warf ihm einen wütenden Blick zu und stand von seinem Platz auf.

„Ah! Der Herr General ist wieder wach!“, sagte er mit einem hämischen Grinsen.

„Soll ich ihm noch eine verpassen?“, fragte sein unrasierter Nebenmann, dessen schwammiges Gesicht erwartungsvoll zuckte.

„Nein! Nur wenn er uns nervt. Wir brauchen ihn noch, haben sie gesagt!“, erklärte die dritte Gestalt.

Der Kollektivist zog ein Messer aus seiner Feldjacke und fuchtelte damit vor Franks Augen herum.

„Ich kann dir auch die Ohren abschneiden, du Hurensohn!“, fauchte er mit sadistischer Miene und entblößte seine gelben Zähne.

„Lass das, Alexander!“, tönte es von hinten. „Sieh lieber nach, wer er ist!“

Der Mann versetzte Kohlhaas einen Tritt und drehte ihn auf den Bauch. Dann durchwühlte er seine Taschen. Er fand nichts außer einem DC-Stick und ein paar weißrussischen Geldscheinen. Fluchend drehte der Kollektivist Kohlhaas wieder auf den Rücken und knurrte: „Wir kriegen schon noch raus, wer du bist, Rus-Schwein! Notfalls schneiden wir dir alle Informationen aus deinem Leib raus!“

Frank versuchte keine Angst zu zeigen, doch in seinem Inneren überkam ihn eine ungezügelte Panik. Sein Herz hämmerte in einem nervösen Stakkato und er konnte vor lauter Aufregung kaum noch atmen.

Sein Peiniger setzte sich wieder zu den beiden anderen Männern und unterhielt sich mit ihnen. Frank konnte verstehen, dass sie darüber sprachen, wie ihre Gegner St. Petersburg erobert hatten. Sie schwadronierten vor sich hin, was sie mit diesen alles anstellen würden, wenn sie könnten.

„Wir reden von Schweinen wie dir!“, rief einer der Milizionäre, den Kopf zu Frank herüber gewandt.

„Diesen Krieg werdet ihr nicht gewinnen, ihr verfluchten Reaktionäre!“, schimpfte sein Nebenmann.

Der General hob seinen Kopf und schnaufte: „Wenn Russland untergeht, dann geht auch ihr unter!“

„Ich bin gar kein Russe, du Arsch! Ich bin Tadschike und ich scheiß’ auf Russland!“, schrie ihm einer entgegen, während die anderen lachten.

„Was redest du mit dieser Ratte überhaupt?“, fuhr ihn sein Kamerad an, sprang von seinem Sitz auf und trat Frank mit seinem klobigen Stiefel in den Magen.

„Halt jetzt dein Maul! Kapiert?“, befahl er.

Kohlhaas krümmte sich vor Schmerzen und drehte seinen Kopf so gut es ging von den drei Männern weg. Das waren Soldaten des KKG, des militanten Arms der kollektivistischen Bewegung, dessen war sich Frank inzwischen sicher.

Das Fahrzeug fuhr noch etwa eine Stunde über holprige Straßen und hielt dann irgendwann an. Der Gefangene war mittlerweile außer sich vor Entsetzen und noch immer zappelte er, als würde er an einem Angelhaken hängen. Schließlich schleiften ihn die drei Kollektivisten aus dem Fahrzeug, brachten ihn zu einem Gebäude mit vielen Fenstern und Frank landete in einem dunklen Kellerraum mit grauen Betonwänden.

Die KKG-Männer verschlossen eine dicke Stahltür hinter ihm. Er hörte, wie sie sich auf dem Gang unterhielten und lachten. Jetzt war er eingekerkert, irgendwo in Russland. Die bösartig glänzende Stahltür erinnerte ihn an die grauenhafte Zeit in der Holozelle. Heißer und heißer kochte die Panik in Franks Schädel. Er versuchte zu schreien, doch es blieb ihm versagt, Luft zu holen. Nicht einmal bewegen konnte sich der General, denn er war noch immer mit dicken Seilen verschnürt und sie hatten ihn hier einfach im Schmutz liegen lassen. Verzweifelt betrachtete er die graue Decke des Raumes und wälzte sich dann in eine Ecke. Einige Stunden lang geschah nichts. Irgendwann wurde die Stahltür jedoch wieder geöffnet.

Außenminister Wilden war für einige Tage nach Ivas gefahren und hatte sich heute schon den ganzen Tag in die geräumige Bibliothek seines Hauses zurückgezogen. Nachdenklich schritt er vor den mit alten Büchern vollgestellten Regalen auf und ab. Plötzlich hielt er für einige Sekunden inne und betrachtete ein verstaubtes Buch in der obersten Reihe. Der ältere Herr zog es zwischen den anderen Schriften heraus, wobei ihm der Geruch von vergilbtem Papier in die Nase stach.

Gedankenverloren blätterte er durch die Seiten und murmelte: „Dieses Büchlein habe ich meinem Frank einmal ausgeliehen …“

„Hast du etwas gesagt, Schatz?“, kam von seiner Frau Agatha aus dem Nebenraum.

Herr Wilden hob kurz seinen Blick an und schwenkte den Kopf verwirrt zur Seite.

„Nein, schon gut!“, antwortete er.

„Das Mittagessen ist gleich fertig, Thorsten!“, schallte es aus der Küche.

„Ja, ich komme sofort, Agatha!“

Der Außenminister vertiefte sich für einen Augenblick in das kleine Büchlein und las daraus leise einige Zeilen vor. Dann blätterte er ein paar Seiten weiter und betrachtete den vermoderten Einband.

„Friedrich Schiller! Ein Buch des berühmten Friedrich Schiller!“, wisperte er, nachdenklich zur Tür blickend.

Im Nebenraum hörte man das Klackern von Tellern und Tassen. Seine Ehefrau, die in den letzten Monaten ständig auf seine Anwesenheit hatte verzichten müssen, deckte den Mittagstisch.

„Und setzt ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein!“, zitierte Wilden aus dem Werk des großen Dichters in seiner Hand.

„Mit wem redest du denn da, Thorsten?“, rief Agatha ihrem Mann durch den Hausflur zu.

„Nichts! Mit niemandem!“, erwiderte der ältere Herr genervt.

„Diese klugen Verse habe ich meinem Frank gegeben und an ihm haben sich Schillers Weisheiten am Ende bewahrheitet. Jetzt ist er tot! Mein lieber Junge ist gefallen!“, flüsterte der Dorfchef traurig und legte das Buch zurück ins Regal.

Dann ging er zum Fenster, blickte schweigend hinaus auf den verregneten Garten hinter dem Haus und spürte, wie sich seine von Sorgenfalten umringten Augen mit Tränen füllten.

„Es ist auch meine Schuld. Ich hätte den Jungen nicht mit diesen ganzen Ideen von Revolution und Freiheitskampf verwirren dürfen. Ja, daran besteht kein Zweifel. An Franks Tod trage ich eine gehörige Mitschuld!“, sagte er kaum hörbar zu sich selbst. Wütend ballte Wilden seine knochige Faust und hätte sich diese am liebsten ins eigene Gesicht geschlagen.

„Die jungen Leute sterben für die Ideen und Vorstellungen der alten Männer, wie ich einer bin. Ist das der richtige Weg, Thorsten?“, fragte er sich voller Reue und Gram.

Ein mittelgroßer KKG-Offizier in bräunlich-grüner Uniform und zwei weitere Männer betraten den Raum. Sie befreiten Frank von seinen Fesseln und einer der Kollektivisten hielt ihm die Mündung seiner Pistole vor das Gesicht.

„Er ist gefährlich!“, erklärte der Offizier seinen Leuten.

Dann beugte er sich zu Kohlhaas hinunter und grinste. Er hatte einen schwarzen Schnauzbart, eine lange Nase und braune Glubschaugen. Frank starrte ihn erschrocken an.

„General Frank Kohlhaas! Ich begrüße Sie! So etwas nenne ich wirklich einen Glückstreffer! Derart prominenten Besuch hatten wir bisher selten!“, bemerkte er kalt.

„Was wollt ihr von mir, ihr Dreckschweine?“, schrie ihn Frank an, bemüht, seine Furcht nicht nach außen dringen zu lassen.

Ein anderer KKG-Mann drückte ihm die Pistole an die Schläfe und zwang ihn zu Boden.

„Willst du hier die Schnauze aufmachen oder was?“, knurrte er ihm ins Ohr.

Der Offizier winkte ab und lächelte bösartig. „In Ihrer Situation sollten Sie etwas höflicher sein, Herr Kohlhaas. Was wir wollen? Wir wollen uns nur ein wenig mit Ihnen unterhalten. Mehr nicht!“

Die KKG-Soldaten gingen wieder aus dem Raum hinaus und der Gefangene hörte den Offizier noch sagen: „Angenehme Nachtruhe, Herr General! Morgen werden wir ein wenig plaudern!“

Mit einem lauten Knall wurde die Stahltür zugezogen und das grausame Geräusch eines einrastenden Schlosses bohrte sich in Franks Gehör.

Der Tag verabschiedete sich und die Sonnenstrahlen, die nur in geringer Zahl ihren Weg durch das kleine Fenster am oberen Ende der Wand gefunden hatten, verschwanden langsam. Zurück blieb eine unheimliche Dunkelheit, welche dem Gefangenen die Kehle zudrückte.

Er erinnerte sich an die furchtbaren, vollkommen lichtlosen Nächte in Big Eye, dem Umerziehungsgefängnis, das ihn acht Monate lang gequält hatte. Doch Frank hielt sich zurück, wollte nicht schreien und keine Angst zeigen. Es galt, sich keine Blöße und dem Gegner keinen Grund für ein teuflisches Lächeln zu geben.

Vor Verzweiflung biss er sich in den Arm – der Schmerz lenkte ab. Die schmutzige Uniformjacke zog Frank über den Kopf. So wirkte er wie ein Kleinkind, das hoffte, unter seiner Bettdecke vor den Schrecken in seinem Kopf sicher zu sein. Glücklicherweise zwang ihn die extreme Erschöpfung nach einigen Stunden doch einzuschlafen. Diesmal träumte er von nichts.

Julia hatte bereits vor ein paar Tagen angefangen, ihre Sachen in Pappkartons einzuräumen und gedachte, demnächst wieder nach Ivas zu ziehen und ihre Zweitwohnung in Minsk aufzugeben. Frank war tot, daran gab es kaum einen Zweifel, und nach endlosen Stunden der Trauer und Depression hatte sie beschlossen, der weißrussischen Hauptstadt den Rücken zu kehren, um wieder in ihr beschauliches Heimatdorf zurückzukehren. Ihr Pädagogikstudium an der Universität von Minsk hatte sie zunächst einmal auf Eis gelegt, denn die Zukunft war ungewiss und der drohende Bürgerkrieg ließ die Frage aufkommen, wie lange die weißrussische Hauptstadt überhaupt noch ein sicherer Ort war. Vielleicht würde sie irgendwann wieder in der kleinen Dorfschule von Ivas zu unterrichten anfangen, wenn sie den Schock über Franks Tod halbwegs überwunden hatte.

Die junge Frau hatte die Tragödie erst gar nicht fassen können. Frank Kohlhaas, dem schwierigen, vom Schicksal gezeichneten Menschen, hatte sie letztendlich doch ihr Herz geöffnet und dann war das Unglück wie ein unerwarteter Blitzschlag auf sie hernieder gegangen. Nun, vielleicht war er nicht ganz unerwartet gewesen, wie sie sich selbst eingestehen musste, denn Frank hatte ständig an irgendeiner Front gestanden und sich permanent im Konflikt mit irgendwelchen Feinden und Gegnern befunden.

Einen ewigen Kampf hatte der oft aufbrausende Heißsporn, der andererseits so liebevoll und einfühlsam sein konnte, ausfechten wollen. Er hatte diesem endlosen Ringen sein Leben gewidmet und es schließlich dafür hergegeben.

„Ich hätte doch wissen müssen, dass er eines Tages so endet!“, warf sie sich immer wieder unter Tränen vor.

Betrübt räumte die hübsche Tochter des Außenministers, der selbst nach wie vor nur mit dem Kampf gegen die Weltregierung beschäftigt war, weitere Gegenstände in den Pappkarton vor sich ein. Mittlerweile wirkte die erst kürzlich eingerichtete Wohnung wieder leer und kahl. Ganz so, als wäre sie niemals hier gewesen, als hätte es das kurze Glück zwischen ihr und Frank gar nicht gegeben.

Als sie zwischendurch innehielt und einen kurzen Blick auf sein Foto auf ihrem Handy warf, flossen ihr wieder die Tränen in die Augen und sie ließ sich auf dem Sofa nieder.

„Glück ist nur Schein …“, hauchte sie, hielt sich schluchzend den Kopf.

Wenn sie Pech hatte, dann würde sie eines Tages auch noch ihren eigenen Vater beweinen müssen, denn dieser konnte ebenso leicht ein Opfer der politischen Gewaltspirale werden. Julia fragte sich immer wieder, warum Frank niemals auf ihre Warnungen gehört hatte. Wieder und wieder hatte sie ihn gebeten, doch einmal die anderen kämpfen zu lassen. Aber der junge Mann hatte nicht hören wollen und seine Starrköpfigkeit war letztendlich auch seinen Untergang gewesen. Allerdings nicht nur seiner, sondern auch der ihre, wie Julia manchmal glaubte.

„Wird es jemals wieder einen Tag geben, an dem ich lachen kann?“, flüsterte sie, sich sanft über den Bauch streichelnd.

Seit einigen Tagen hatte sie Gewissheit. In ihr wuchs neues Leben heran. Ein Junge oder ein Mädchen wurde da zum Menschen. Doch es würde ein Mensch ohne Vater werden.

Frank aber war nicht tot, zumindest noch nicht. Sie hatten ihn tagelang in dem dunklen Loch eingesperrt und seinen Ängsten überlassen. Heute Morgen hatten sie ihn erneut herausgeholt, in einen anderen Raum geführt und an einen metallenen Stuhl gefesselt. Dann waren sie wieder verschwunden. Mittlerweile saß der junge Mann schon seit zwei Stunden in der hässlichen Betonkammer. Fenster gab es hier nicht, nur graue Wände, den metallischen Stuhl und ihn selbst. Plötzlich hörte Kohlhaas Schritte und Stimmen. Die Tür wurde geöffnet und der glubschäugige KKG-Offizier betrat mit vier weiteren Männern den Raum.

Einer der Kollektivisten schob ein kleines Wägelchen vor sich her, auf dem der Gefangene einige blitzende Gegenstände aus Metall erkennen konnte. Er erschrak zutiefst.

„Bringt mir endlich einen Stuhl!“, herrschte der Offizier seine Untergebenen an und einer der Männer eilte aus dem Raum heraus, um kurz darauf mit einer Sitzgelegenheit wiederzukommen.

Der KKG-Offizier setzte sich umgekehrt darauf, legte seine verschränkten Armen auf die Stuhllehne und grinste Frank mit eisigem Blick an.

„Herr General, wie geht es Ihnen?“, fragte er mit zynischem Nachklang. Frank schwieg. Er drehte den Kopf zur Seite.

„Sie sind heute nicht sehr gesprächig, wie? Dabei habe ich mir fest vorgenommen, dass wir ein wenig plaudern!“

„Fick dich!“, zischte Kohlhaas zurück.

„Ich soll mich ficken? Wir werden im Laufe des Tages noch herausfinden, wer hier wen fickt!“, giftete der Verhörende zurück.

„Gut! Lassen wir jetzt diese Kindereien! Wir haben Ihren DC-Stick untersucht, General. Weiterhin gibt es in den Archiven der KVSG mittlerweile eine gut gefüllte Datenbank über Sie. Ich habe mir das alles einmal zu Gemüte geführt. Als Vertrauter von Artur Tschistokjow möchten Sie uns sicherlich einiges über die Freiheitsbewegung der Rus erzählen, nicht wahr?“

„Wollt ihr mich sonst abknallen?“, gab Frank trotzig zurück.

„Ja, irgendwann vielleicht schon. Aber erst nachdem wir Ihnen Schmerzen zugefügt haben, die den Tod als Erlösung erscheinen lassen. Nur um das klar zu stellen!“, erwiderte der Offizier und zog seine dunklen Froschaugen zu einem dünnen Schlitz zusammen.

„Also, was hat Tschistokjow als nächstes vor? Welche Stärke hat seine Armee?“

Frank lächelte gequält. „Seine Armee ist stärker als ihr glaubt!“

Der Offizier nickte einem seiner Gehilfen zu und dieser nahm ein Skalpell von dem Wägelchen. Dann postierte er sich hinter Kohlhaas. Der Gefangene konnte seinen warmen, stinkenden Atem spüren und schluckte.

„Gut, wie stark ist Tschistokjows Armee wirklich?“, bohrte der Verhörende nach.

Der gefesselte General starrte auf den Boden und antwortete: „Sie ist stark!“

Das Skalpell schnitt durch die Haut von Franks Oberarm und ein stechender Schmerz schoss ihm in den Kopf.

„Stark?“, fragte der Offizier.

„Leck mich!“, stöhnte der Gepeinigte und verzog sein Gesicht.

Es herrschte kurzes Schweigen, dann stach ihm der KKG-Mann von hinten in den Oberschenkel. Frank schrie laut auf und sah einen Rinnsaal Blut auf den grauen Betonboden tropfen.

„Geben Sie mir genaue Informationen! Wie viele Regimenter der Volksarmee sind in St. Petersburg? Wie viele Ordnertrupps? Hat Weißrussland inzwischen Panzer und Flugabwehrgeschütze?“

„Ja!“, zischte Frank.

Der Offizier sprang auf und wickelte sich seinen Ledergürtel um die Finger. Dann schlug er Frank mehrfach ins Gesicht.

„Ja? Ja, was? Ich will Zahlen hören!“, brüllte er.

Frank spuckte einen Schwall Blut auf den Boden und sagte nichts.

„Warum schneiden wir ihm nicht ein paar Finger ab?“, fragte einer der Männer.

„Alles zu seiner Zeit!“, erklärte der Offizier.

So ging es noch eine Stunde lang weiter. Nach dem Verhör und Franks fortgesetztem Schweigen brachten sie den Gefangenen in einen anderen Raum im Keller des finsteren Gebäudes. Kohlhaas stöhnte vor Schmerzen und musste getragen werden. Seine Peiniger öffneten eine weitere Stahltür und stießen ihn in einen Raum voll kaltem Wasser. Dann schlossen sie die Tür zu.

Entsetzt sah sich Frank um. Er befand sich in einem etwa 80 Zentimeter tiefen Becken, das den gesamten Raum ausfüllte. Es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten oder anzulehnen. Der General stieß einen verzweifelten Schrei aus und hämmerte mit der Faust gegen die raue Betonwand. Irgendwann kauerte er sich wimmernd in eine Ecke und versuchte, nicht vor Erschöpfung unterzugehen.

Am 06.12.2038 kehrten die ersten siegreichen Truppenverbände der GCF aus dem Iran nach Russland zurück. Sie durchquerten Turkmenistan und erreichten anschließend den Westen von Kasachstan, wo sie sich mit den neu ausgehobenen Milizen der Kollektivisten zusammenschlossen.

Andere Verbände der internationalen Streitkräfte gingen im hohen Norden bei Murmansk an Land und besetzten den strategisch wichtigen Flottenhafen, um ihren Verbündeten mit den schwarz-roten Fahnen den Rücken frei zu halten. Die KVSG begann derweil mit dem Aufbau einer Bürgerkriegsarmee und entfaltete eine fieberhafte Rekrutierungstätigkeit in den Städten Zentral- und Ostrusslands. Tausende von Männern strömten zu ihren Bannern und wurden mit neuen Waffen, die aus Nordamerika geliefert worden waren, ausgerüstet.

Weiterhin zog die Weltregierung einige GCF-Verbände aus Nordchina ab und verlegte sie in den südsibirischen Bereich. Der Infanterie folgten Panzerverbände und kleinere Flugzeugschwadronen. In Westeuropa, Polen, Tschechien und den umliegenden Ländern wurden ebenfalls einige multinationale Divisionen für einen zukünftigen Angriff auf Weißrussland bereitgestellt.

Doch das war erst der Anfang. Immer neue Truppenaushebungen wurden von den Mächtigen angeordnet und die Medien sprachen von einem bewaffneten Konflikt in naher Zukunft, der Tschistokjows Ende bringen sollte.

Die Lage wurde innerhalb weniger Tage dramatisch und stieß den weißrussischen Präsidenten und seine Minister in tiefste Verzweiflung. Der Sieg der Rus in St. Petersburg war der endgültige Startschuss für den sich nun anbahnenden Bürgerkrieg in Russland gewesen. Hatten sich gestern noch politische Aktivisten in blutigen Straßenschlachten bekämpft, so kündigte sich jetzt eine neue Dimension der Auseinandersetzungen an: Der militärische Konflikt.

Artur Tschistokjow hatte die ganze Nacht lang wach gelegen und seine Sorgen und Ängste waren auch am nächsten Tag nicht verflogen. Im Gegenteil, sie wuchsen genau so schnell an wie Uljanins bewaffnete Trupps, die mittlerweile auch den Westteil Russlands zu überschwemmen drohten. Es hatte bereits überall kleinere Scharmützel zwischen Volksarmisten und Angehörigen der von den Kollektivisten neu ausgehobenen Verbände der schwarz-roten Armee gegeben. In den meisten Fällen waren Tschistokjows Soldaten vertrieben oder getötet worden. Noch herrschte zwar eine gewisse Ruhe vor dem Sturm, doch der Präsident Weißrusslands war sich sicher, dass der Feind bald in ungeahnter Stärke vorrücken würde.

Heute galt es, die Offiziere und Oberbefehlshaber der Volksarmee der Rus auf den kommenden Bürgerkrieg einzuschwören. Doch der Rebellenführer fühlte sich müde, schlapp und depressiv. Er hatte in den langen Stunden der letzten Nacht viel an Frank Kohlhaas denken müssen, jenen Mann, der ihm damals in Baranovichi das Leben gerettet hatte, als ihn ein Scharfschütze hatte töten wollen.

Er lächelte notdürftig, als er in den großen Konferenzsaal des Präsidentenpalastes von Minsk kam und ihn seine Getreuen umringten. Sie warteten schon gespannt auf seine Rede. Tschistokjow hingegen hätte am liebsten wieder auf dem Absatz kehrt gemacht, um dann in seine Wohnung zurück zu kehren und einfach nur noch zu schlafen. Den Jubel seiner Anhänger kaum wahrnehmend, schritt der Anführer der Rus langsamen Schrittes zum Rednerpult. Er riss sich zusammen, er hatte seine Pflicht zu erfüllen. Ein Mann wie Artur Tschistokjow hatte niemals seine Ruhe und bekam so gut wie nie eine Verschnaufpause. Es war eben so, er hatte diesen Weg gewählt.

„Meine treuen Kämpfer!

Nun ist es soweit. Der kollektivistische Block wird sich bald im großen Stil militärisch organisieren und seine Gönner und Förderer, die Logenbrüder, ihre Großbanken und die GCF, werden seine Macht weiter und weiter hochzüchten.

Über die bisherigen Vorbereitungen Uljanins kann ich noch zu wenig sagen, um das Bedrohungspotential richtig einschätzen zu können. Eines jedoch ist sicher: Der Feind ist uns in jeder Hinsicht überlegen. Der Weltverbund hat den Kollektivisten mehrere Hundert neue Simson Panzer geliefert, weiterhin Flugzeuge und zahllose Waffen, wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe. Für uns kann das nur eines heißen: Die Bevölkerung in unserem Herrschaftsbereich muss für den Krieg mobil gemacht werden. Die Weißrussen, Balten und Russen, welche Teil der Gemeinschaft der Rus sind, müssen in nie gekanntem Ausmaß zu den Waffen gerufen werden. Weißrussland muss jetzt das neue Sparta sein! Wir sind nicht viele, daher müssen wir hart wie Stein werden!“

Tosender Applaus brandete Artur Tschistokjow entgegen und seine Getreuen erschienen zuversichtlich und kampfbereit. Der Anführer der Freiheitsbewegung der Rus spürte, wie die Müdigkeit von ihm abfiel und ihm sein eiserner Wille langsam neue Kraft einflößte.

„Bevor uns Uljanin mit seinen Horden zuvorkommt, werden wir angreifen, wo es nur geht. Wir müssen den Kampfverlauf diktieren und mit gleicher Härte, Rücksichtslosigkeit und Verbissenheit zuschlagen, wie es die kollektivistischen Verbrecher tun!

Wer in Minsk, Wilna, St. Petersburg oder sonst irgendwo in unserem Herrschaftsgebiet Uljanins Propaganda verbreitet, der wird sofort erschossen! Diese geistige Seuche, erschaffen von den Feinden der freien Völker, zu ihrer letzten und schlimmsten Versklavung, muss ausgemerzt werden!

Ab heute werden neue Divisionen rekrutiert und alle Medien werden nur noch unter einem einzigen Vorzeichen ihre Berichte, Meldungen und Reportagen schreiben und senden: Unter den Vorzeichen des heraufziehenden Krieges gegen die Mörderhorden dieses Verbrechers Uljanin und seiner Hintermänner!

Ich dulde keine Drückeberger und Feiglinge in unserem Land. Jeder waffenfähige Mann muss sich darauf einstellen, dass er kämpfen muss. Allerdings will ich sein Verständnis dafür gewinnen und möchte ihn nur ungern zu seiner Pflicht zwingen müssen.

Jeder Bürger muss einsehen, jedem muss deutlich gemacht werden, dass die schwarz-rote Flut unsere Völker gnadenlos ertränken und aus dem Geschichtsbuch streichen wird, wenn wir versagen. Man soll keinesfalls glauben, dass uns Uljanin verschonen würde oder wir gar mit ihm verhandeln könnten, denn wir stehen für alles, was er und seinesgleichen abgrundtief hassen. Das Gleiche gilt für die verlogene Weltregierung, die einen unheiligen Bund mit der kollektivistischen Bewegung eingegangen ist.

Meine Offiziere und Kommandanten, füllt die Volksarmee der Rus mit neuen Soldaten auf und schmiedet sie zu einer tödlichen Waffe. Ab heute gilt es. Denkt in diesen Stunden auch an unseren geliebten Mitstreiter General Frank Kohlhaas, der uns allen immer ein leuchtender Stern der Tapferkeit am Firmament des Kampfes gewesen ist. Er und die vielen anderen dürfen nicht umsonst gefallen sein!“

Artur Tschistokjow ließ eine Gedenkminute für Frank einlegen und mehrere Hundert Rus senkten vor ihm die Köpfe. Dann setzte er die Rede fort, erläuterte seine Vorstellungen im Bezug auf die Neuaushebungen von Truppen und benannte die nächsten strategischen Ziele des Bürgerkrieges.

Alfred Bäumer, als Offizier der Warägergarde, war auch unter den Anwesenden und versank in einem tiefen Loch der Trauer, als Tschistokjow seinen besten Freund erwähnte. Er war kaum noch in der Lage, dessen weiteren Ausführungen zu lauschen und verließ den Saal bereits nach einer Stunde, um betrübt zu Svetlana zurückzukehren.

„Rede endlich, du Bastard!“, schnaubte der KKG-Offizier und trat Frank gegen das Schienbein.

„Ich weiß nichts …“, brachte Kohlhaas lediglich heraus und ließ seinen Kopf wieder nach unten sinken.

„Weißt du, was das hier ist?“, schnaubte der Aufseher vor ihm und hielt ihm eine mit langen Nägeln bestückte Holzlatte unter die Nase. Der Gefangene schwieg und wandte seinen entsetzten Blick von ihm ab.

„Als Anführer der Warägergarde musst du etwas wissen!“, schrie der Kollektivst und starrte sein an den Metallstuhl gefesseltes Opfer wütend an.

„Ich habe nur gekämpft und keine militärischen Operationen für die Rus geplant!“, erwiderte Frank mit leidender Miene.

„Schwachsinn!“, donnerte der Verhörende und hieb Kohlhaas die Nägel in den Oberschenkel.

Ein ohrenbetäubender Schmerzensschrei hallte durch den halbdunklen Raum. Dann stellte sich ein weiterer Mann hinter Franks Stuhl und kramte ein Skalpell aus der Tasche.

„Wir sollten dem Hund die Eier abschneiden, Chef!“, schlug er vor, doch der KKG-Offizer winkte mürrisch ab.

„Ja, aber nicht heute! Außerdem wollen wir ja nicht, dass der Herr General verblutet, bevor er sein Maul aufgemacht hat“, brummte er, um die Nägel daraufhin mit aller Kraft in Franks Oberarm zu schmettern.

„Wie wäre es noch einmal mit einem Ausflug in die Wasserkammer?“, wollte einer der Aufseher wissen.

„Das überlebt er vielleicht nicht. Dafür ist es langsam zu kalt! Wir sollen ihn zum Reden bringen und nicht gleich umbringen“, fuhr ihn der Vorgesetzte an.

„Wir verpassen ihm ein paar Stromschläge!“, befahl er schließlich und fletschte die Zähne.

„Ich weiß wirklich nichts …“, jammerte ihm Kohlhaas entgegen.

„Halt dein Maul!“, zischte der KKG-Mann und einer seiner Gehilfen bereitete alles für die Stromfolter vor.

„Wir lassen dich gehen, wenn du uns ein paar Informationen gibst“, bemerkte er.

Frank schwieg und stierte halb benommen auf den Boden. Dann spürte er, wie metallene Klammern an seinen Zehen befestigt wurden.

„Das alles weiß nur Tschistokjow, verdammt!“, wimmerte der General und biss sich vor Schmerz auf die Lippe.

„Wir werden sehen, du reaktionäre Ratte! Ich bin sicher, dass dir im Laufe dieses langen Tages noch etwas einfällt. Stromstöße können das Erinnerungsvermögen oft auf wundersame Weise auf Vordermann bringen“, flüsterte der KKG-Offizier in Franks Ohr und strich sich über den Bart.

Mittlerweile duzte ihn der verhörende Offizier, was bedeutete, dass man sich schon ein wenig kennengelernt hatte, schoss es Frank durch den Kopf. Er schüttelte den blödsinnigen Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf den Schmerz.

Für einige Minuten herrschte eine bedrückende Stille in der grauen Verhörzelle. Kohlhaas atmete schwer und betete im Inneren, dass der heutige Tag schnell vorbeigehen würde. Doch auf ihn warteten noch furchtbare Qualen.

„Wie viele Divisionen hat Tschistokjow aufgestellt?“, bohrte der Kollektivist nach und setzte ein sadistisches Lächeln auf.

Frank schnaufte und versuchte, dem stechenden Blick seines Peinigers auszuweichen. Der Aufseher schüttelte den Kopf.

„Strom!“, fauchte er in Richtung seines Gehilfen. Ein weiterer Schrei hallte durch den Gefängniskomplex.

Die Volksarmee der Rus unternahm am 08.12.2038 mit 10.000 Mann einen Angriff auf Vysnij Volochek, einer Stadt westlich von Rybinsk, und konnte die Ortschaft nach heftigen Straßenkämpfen einnehmen. Die kollektivistischen Milizen stießen ihrerseits zur gleichen Zeit bis nach Pervomajsk in der südlichen Ukraine vor und erlangten die Kontrolle über die Kleinstadt und einige umliegende Dörfer. Am 10.12.2038 rief Vitali Uljanin offiziell den Kriegszustand aus und forderte die Bevölkerung auf, zu den Waffen zu greifen. Der Bürgerkrieg war eröffnet. Artur Tschistokjow antwortete darauf mit einer leidenschaftlichen Rede im weißrussischen Fernsehen und erklärte den Weißrussen und Balten, dass jetzt die Zeit für den großen Kampf um die Freiheit gekommen sei.

Noch bevor der Winter über die russischen Weiten herfiel, kam es zu einer Reihe von Scharmützeln in den ländlichen Regionen im Westen des Landes. Dann zogen sich beide Seiten erst einmal zurück und bereiteten weitere Angriffe vor.

„Was wird Japan tun, wenn die Feuer des Krieges ganz Russland erfassen?“, fragten sich die Mitglieder der weißrussischen Regierung in diesen Tagen wieder und wieder.

Ohne die Unterstützung des mächtigen Inselstaates waren sie gegen die vereinte Macht der schwarz-roten Milizen und GCF-Soldaten auf Dauer chancenlos. Der Kapitalismus und der Kollektivismus, diese angeblichen Todfeinde, begannen sich in diesen Tagen wie zwei alte Freunde zu einer bizarren Front zusammenzuschließen, um ihren gemeinsamen Gegner zu vernichten. Würde Matsumoto seine Bündnispflicht gegenüber Weißrussland und den baltischen Staaten erfüllen? Artur Tschistokjow und seine Getreuen zerbrachen sich darüber die Köpfe und hofften auf eine positive Reaktion aus dem fernen Osten. Erst hatten sie Franks Tod beweinen müssen und jetzt wartete ein schrecklicher Bürgerkrieg gegen einen immer mächtiger werdenden Feind auf sie.

Beutewelt V. Bürgerkrieg 2038

Подняться наверх