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Versunken im Leid

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Prof. Hammer war stolz auf seine wissenschaftlichen Leistungen. Er hatte den neuartigen Plasmawerfer nach intensiven Forschungen in den letzten Wochen noch erheblich verbessern können und die Gefahr, dass die hochmoderne Waffe überhitzte und explodierte, war merklich verringert worden.

Demnächst sollte sie in Produktion gehen, damit sie im Ernstfall wenigstens einigen Volksarmisten dienen konnte. Herr Wilden hatte vorgeschlagen, zunächst 500 dieser fortschrittlichen Infanteriewaffen herstellen zu lassen. Schließlich gab Artur Tschistokjow grünes Licht für diesen Auftrag.

In mehreren umgerüsteten Industrieanlagen in Weißrussland und im Baltikum wurde zügig mit der Produktion der wirkungsvollen Kriegsgeräte begonnen. Heute war eine kleine Delegation aus Minsk erneut zum unterirdischen Forschungslabor von Prof. Hammer im Baltikum aufgebrochen, darunter auch der Präsident, sein Außenminister und einige Militärs.

„Look at this!“, sagte der ergraute Wissenschaftler, setzte sich eine Schutzbrille auf und postierte sich hinter einem Plasmawerfer, den er auf eine Halterung montiert hatte. Die Gäste gingen einen Schritt zurück und warteten ab.

Kurz darauf zischten gleißende Blitze durch den Raum und ein unheimliches Knistern breitete sich aus. Der Professor gab nicht weniger als 20 Schüsse auf eine dicke Platte aus Stahl ab, die schließlich qualmend und teilweise zerschmolzen mit einem lauten Krachen nach vorne kippte.

„Great!“, stieß Wilden aus und klatschte. Die anderen taten es ihm gleich. Auch Artur Tschistokjow staunte nicht schlecht. Er ging zu Prof. Hammer herüber.

„If you shoot too often, the plasmagun overheats!“, warnte er, während sich ihm der Wissenschaftler zuwandte.

„Ich habe einen verbesserten Kühlmechanismus eingebaut, damit ist die Überhitzungswahrscheinlichkeit des Plasmawerfers deutlich gesunken“, entgegnete der Erfinder auf Deutsch und lächelte stolz.

„Das ist ein sehr gut Idee!“, antwortete Tschistokjow.

Die übrigen russischen Gäste verstanden nichts und schauten sich fragend an.

„I have invented a new cooling mechanism for this weapon!”, erläuterte ihnen Prof. Hammer, den Zeigefinger hebend. Die anderen Besucher nickten und schienen ebenfalls beeindruckt zu sein.

„Er kann wirklich bis zu 20 Schüsse hintereinander abgeben, ohne zu überhitzen?“, erkundigte sich Wilden noch einmal.

„Ja, aber das ist die höchste Frequenz. Danach sollte man ihn erst einmal für mindestens eine halbe Stunde nicht mehr abfeuern“, erklärte Prof. Hammer seinem deutschen Landsmann.

„Aber immerhin!“, gab der Außenminister zurück. „Ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zum letzten Mal.“

„Ich werde weiter an der Verbesserung der Waffe arbeiten. Sie soll irgendwann gar nicht mehr überhitzen können“, sagte der Wissenschaftler und schraubte an dem Gerät herum.

„Wir müsse so viele Plasmawerfer wie möglich lassen herstellen, Thorsten!“, betonte Artur Tschistokjow und sah seinen Freund freudestrahlend an.

Wilden grinste: „Damit können wir eine ganze Phalanx aus Panzern zerstören, das ist besser als jede PAK. Gott segne diesen Mann!“

Der ergraute Erfinder nickte zufrieden, um Wilden dann zu antworten: „Vielen Dank! Es ehrt mich, wenn ich einen so großen Beitrag leisten kann. Und glauben Sie mir, ich habe noch einige andere Konstruktionspläne in der Schublade, an deren Nachbau ich demnächst arbeiten werde!“

Es war Weihnachten. Zumindest war sich Frank, der in seinem dunklen Zellenloch vor sich hin fror, diesbezüglich relativ sicher. Jedenfalls neigte sich der Dezember des Jahres 2038 seinem Ende zu, wenn er sich beim Zählen der Tage nicht vertan hatte. Kohlhaas war für einige Zeit in seiner halbdunklen Zelle zurückgelassen worden und hatte nur ab und zu ein wenig Wasser und einige Scheiben Brot hineingeworfen bekommen. Ansonsten hatten sie ihn „schmoren“ lassen, wie es der vorgesetzte KKG-Offizier ausdrückte. Heute war er noch einmal verhört worden und sie hatten ihm mit einem Hammer den kleinen Zeh zerschlagen, als er ihnen erneut keine brauchbaren Informationen geben wollte. Nach einigen Schlägen ins Gesicht war er wieder in die Zelle gebracht worden, um ihn dort seinen Ängsten und Qualen zu überlassen. Der stechende Schmerz in seinem Zeh übertönte jenen in seinem angeschwollenen Gesicht allerdings um ein Vielfaches. Wieder und wieder kroch Frank durch die Zelle, von einer schmutzigen Wand zur anderen, und jammerte wie ein verwundetes Tier vor sich hin.

„Das nächste Mal wirst du richtig mit dem Skalpell bearbeitet, du Pisser!“, hatte ihm der verhörende Offizier noch mit auf den Weg gegeben, bevor er schreiend zurück in die Zelle geschleift worden war.

Nun verharrte Frank wieder in dem kalten Betonraum, sich für endlos erscheinende Stunden in eine verdreckte, graue Decke einhüllend. Gegen Mittag holten sie ihn schließlich wieder aus dem dunklen Loch heraus und verhörten ihn noch einmal. Wie Nadelstiche klangen die Fragen des hässlichen KKG-Mannes in seinen Ohren und für jede unbefriedigende Antwort ritzte ihm ein kollektivistischer Soldat mit dem Skalpell in die Hautoberfläche seiner Arme.

Anschließend verpassten sie ihm wieder Stromstöße und schnitten ihm dann den kleinen Finger seiner linken Hand mit einer Geflügelschere ab. Doch Frank, halb verhungert und fast ohnmächtig vor Schmerzen, gab nichts außer gequälten Schreien von sich. In Wahrheit wusste er auch nicht sonderlich viel von den militärischen Vorbereitungen Tschistokjows. Kohlhaas hatte keine Ahnung von der mittlerweile erreichten Heeresstärke der Volksarmee der Rus oder der Anzahl ihrer Panzer.

„Bringt ihn zurück. Ich muss mir überlegen, ob der Kerl überhaupt noch brauchbar ist!“, erklärte der Offizier mit dem schwarzen Schnauzbart seinen Gehilfen und betrachtete die von Frank stammenden kleinen Blutspritzer an seiner Uniform.

„Ich kann euch nichts sagen! Ich weiß nichts über die genaue Heeresstärke der Volksarmee. Ich habe nur 1.000 Waräger angeführt, sonst nichts!“, stöhnte der General und hielt sich seine blutende Hand.

„Halt die Schnauze!“, brummte der KKG-Funktionär zurück und ließ Frank wieder in seine Zelle werfen.

Der Inhaftierte lag auf dem Rücken und schnaufte leise. Wo früher der kleine Finger seiner linken Hand gewesen war, klaffte jetzt eine mit Blut verkrustete Wunde. Seinen zerschmetterten Zeh hatte er sich nicht mehr angesehen, was nichts daran änderte, dass er nur noch durch die dunkle Zelle humpeln oder kriechen konnte.

Sieben Mal war die Sonne seit dem letzten Verhör vor seinem kleinen Dachfenster auf- und niedergestiegen. Sieben Nächte voller Ängste und unruhigem Schlaf waren vergangen. Einmal hatten ihn die Kollektivisten mitten in der Nacht mit kaltem Wasser übergossen und dann liegen lassen. Jetzt, wo der Winter mit voller Härte über Russland hereinzubrechen drohte, hätte das seinen Tod bedeuten können.

Frank pinkelte in einen schäbigen Plastikeimer und stellte ihn wieder neben die Stahltür des Betonraumes. Es stank in seiner Zelle inzwischen wie in einem Kuhstall und er konnte manchmal vor Ekel und Abscheu kaum noch atmen.

Mit jedem verstreichenden Tag wurden seine Ängste schlimmer und die furchtbaren Erinnerungen an seine Zeit in der Holozelle nagten an seinem Geist wie Ratten am Gebälk eines modrigen Hauses.

„Ich bin mal gespannt, wann Herr Irrsinn wieder kommt“, sagte er manchmal leise zu sich selbst und grinste sarkastisch.

Wenn sie ihn noch weitere Wochen, Monate oder gar Jahre in diesem Loch lassen würden, dann würde Herr Irrsinn wieder auftauchen, da war sich Frank sicher. Auf ihn konnte man sich zumindest verlassen, denn er fand den Weg in jede Zelle auf der ganzen Welt. Der imaginäre Freund benutzte nämlich nicht die üblichen Ein- und Ausgänge, wie die gewöhnlichen Menschen. Nein, er kam durch das klaffende Portal des Wahnsinns, das sich wieder in Franks Kopf geöffnet hatte.

„Wenn sie mir jedoch den Kopf abhacken, dann kann auch Herr Irrsinn nicht mehr kommen“, erklärte sich Frank in diesen Stunden die Situation vollkommen logisch.

Aber im Gegensatz zur immer gleichen Holozelle bot die Gefangenschaft bei den Kollektivisten zumindest ab und zu etwas mehr Abwechslung, auch wenn es sich hierbei lediglich um Verhöre und Folterungen handelte. Die Schmerzen, welche sie ihm zufügten, erinnerten ihn zumindest daran, dass er noch lebte.

„The pain is here, to tell me that I’m still alive!”, schoss es Frank manchmal durch den Kopf. Es war die Textzeile eines alten Heavy Metal Liedes, das er als Jugendlicher oft gehört hatte. Hier passte sie durchaus.

Zwei lange Wochen waren inzwischen vergangen und Kohlhaas war noch mehrfach verhört worden. Er hatte den Kollektivisten nichts erzählt und immer wieder beteuert, dass ihm die Stärke von Tschistokjows Armee nicht bekannt war. Und das war nicht gelogen. Denn der General wusste bezüglich dieser Fragen lediglich Bruchstücke, definitiv zu wenig, um den Verhörenden brauchbare Informationen liefern zu können.

Doch sie glaubten ihm nicht und übersäten seinen geschundenen Körper mit Schnitten, Einstichen und Schlägen, so dass Frank nach stundenlanger Folter oft halb ohnmächtig in seine Zelle zurückgeschleift werden musste.

Blutige Schwellungen bedeckten sein Gesicht und nach jedem Verhör waren neue dazugekommen. Seine Oberarme waren mit scharfen Klingen zerschnitten worden und der Gefangene hatte sich längst damit abgefunden, dass es keinen Ausweg mehr aus dieser Hölle gab. Er war nur noch ein blutendes Stück Fleisch, dessen Auslöschung bereits beschlossen war. Diesmal konnte ihm auch sein Glück nicht mehr helfen, dessen war sich Kohlhaas sicher. Daher versuchte er sich mit dem Gedanken an ein baldiges Ableben anzufreunden. Oft lächelte er mit einem Anflug von geistiger Umnachtung in sich hinein und erklärte sich, dass er bald vom Leid der Welt erlöst sein würde. Er hatte den Horror der Holozelle überlebt, nur um noch mehr zu leiden, wie er meinte.

Sein Gefühl für die Zeit war Frank mittlerweile abhanden gekommen und es interessierte ihn auch nicht mehr, was aus Tschistokjows Revolution wurde. Das waren Angelegenheiten der Sterblichen hier auf Erden, doch ihre Welt würde er bald verlassen. Zu Tode gepeinigt in diesem grauen Gefängniskomplex oder mit zerschossenem Kopf auf einem schlammigen Acker.

Das einzige, was ihn immer wieder kurzzeitig aus seiner Lethargie und Depression herausriss, waren die flüchtigen Gedanken an Julia. Aber auch sie, seine große Liebe, deren Herz er am Ende doch gewonnen hatte, war letztendlich auch nicht mehr als nur ein Trugbild gewesen.

„Gott wollte es nicht!“, haderte er immer wieder mit sich selbst. Und so verstrichen die Wintertage weiter in Qual und Einsamkeit.

Anfang Februar 2039 begann der russische Bürgerkrieg mit voller Härte. Artur Tschistokjow hatte nicht weniger als 15 Infanteriedivisionen seiner Volksarmee der Rus, etwa 380.000 Mann, aus dem Boden gestampft und fast jeden waffenfähigen jungen Mann in seinem Herrschaftsbereich rekrutieren lassen.

Mit japanischer Hilfe und einer fieberhaften Rüstung gelang es dem weißrussischen Präsidenten etwa 450 Gunjin Panzer, kaum 2 Divisionen, aufzustellen. Knapp 250 Kampfflugzeuge verschiedenster Art konnten zudem dank Matsumotos Unterstützung ebenfalls aufgeboten werden. Das alles war jedoch lächerlich gegen die Streitmacht, welche Vitali Uljanin mit Hilfe der GCF und einer auf Krieg umgestellten Wirtschaft auf die Beine stellen konnte.

Mindestens 2 Millionen Soldaten hatten die Kollektivisten bis zum Jahresbeginn rekrutiert und sie füllten ihre Reihen täglich mit weiteren Männern auf. Inzwischen verfügte die schwarz-rote Macht über 2.000 Panzer und fast 1.500 Flugzeuge. Somit war sie Tschistokjows Streitkräften etwa 5:1 überlegen.

Mitte Februar stießen die beiden Bürgerkriegsarmeen in Orel zum ersten Mal im größeren Stil aufeinander. Die Rus hatten die Stadt, eine ihrer äußersten Stützpunkte im Osten, kaum mit einer Infanteriedivision der Volksarmee besetzt, als sie schon von einer gewaltigen Feindstreitmacht angegriffen wurden.

Etwa 10 Divisionen der schwarz-roten Armee unternahmen am 17.02.2039 einen ersten Großangriff auf Orel und verwickelten die Volksarmisten in einen verzweifelten Abwehrkampf. Wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm fielen die kollektivistischen Scharen über den östlichen Außenbezirk her und schwemmten die Verteidiger durch ihre schiere Masse hinweg. Die Rus zogen sich in die Innenstadt zurück und verschanzten sich dort in den Häuserschluchten.

Die meisten Einwohner Orels hatten die Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits in weiser Voraussicht verlassen und waren nach Westen geflüchtet.

Uljanins Soldaten konnte letztendlich trotz verbissener Gegenwehr und gewaltigen Verlusten nicht aufgehalten werden. Welle um Welle der Kollektivisten brandete gegen die befestigten Stellungen der Verteidiger und Tausende von heranstürmenden Angreifern wurden von den MG-Salven der Volksarmisten niedergemäht, doch ihre Zahl erschien endlos. Unzählige Menschenleiber warfen sich fortwährend in das wütende Abwehrfeuer der Rus und türmten sich in den verwüsteten Straßen Orels auf, doch die schwarz-rote Masse wurde nicht kleiner.

Einige von Uljanins Milizionären waren bereits mit den modernen Reaper Sturmgewehren der GCF ausgerüstet worden oder trugen Flammenwerfer, andere hatten lediglich veraltete Schusswaffen und manche trugen nicht mehr als Äxte und Eisenstangen. Doch das störte die Befehlshaber der schwarz-roten Bürgerkriegsarmee nicht. Ihre menschlichen Ressourcen waren gigantisch und deshalb auch größere Verluste zu ertragen.

Nach drei Tagen waren die Soldaten Tschistokjows fast besiegt und die wenigen, die das Gemetzel in den Straßen überstanden hatten, flüchteten in den Westteil der brennenden Stadt.

Rasende Horden, die alles und jeden in ihrem Weg abschlachteten, waren ihnen auf den Fersen. Artur Tschistokjow, der Orel als strategisch und psychologisch enorm wichtig betrachtete, beorderte daraufhin 10.000 Mann seiner mittlerweile stark vergrößerten Warägergarde zur Unterstützung der sich zurückziehenden Volksarmisten in die schon fast gefallene Stadt. Darunter war auch Alfred Bäumer, den der weißrussische Präsident zum höheren Offizier ernannt hatte. Mit einem mulmigen Gefühl machte sich der Hüne mit seinen Kameraden am 20.02.2039 auf den Weg nach Osten.

Alf stockte der Atem, als er vor sich die halb verhungerten und vollkommen verdreckten Kameraden von der Volksarmee erblickte. Diese hatten gejubelt, als sie hörten, dass die Waräger auf dem Weg nach Orel waren, um ihre Verteidigung zu unterstützen.

Jetzt bezogen Tschistokjows Elitesoldaten in den zerschossenen Häuserblocks im Süden der Stadt Stellung, während ihnen einige Panzer und Geschütze folgten. Es sah allerdings keinesfalls gut aus, denn der Gegner hatte sich bereits nahe der Innenstadt verbarrikadiert und wartete ebenfalls auf Verstärkungen aus Zentralrussland, um Orel in einem letzten Großangriff vollständig zu erobern.

Bäumer, der mittlerweile zu einem führenden Befehlshaber der Warägergarde aufgestiegen war, tat einfach, was ihm befohlen wurde. Er wirkte jedoch still und mürrisch und es schien fast so, als ob er versuchte, seine Gedanken so gut es ging abzuschalten, um die ständige Trauer um seinen Freund Frank nicht wieder in seinen Kopf eindringen zu lassen.

Mit seinen weißrussischen Kameraden wechselte er nur die nötigsten Worte, ansonsten befolgte er lediglich die Anweisungen des Oberkommandos mit einer gewissen Lethargie.

„Wir haben ohnehin keine Chance!“, flüsterte er leise vor sich hin, nachdem er sich hinter einem schweren Maschinengewehr postiert hatte und nachdenklich über die ausgestorbene Straße vor sich spähte.

„Was, Herr Offizier?“, kam auf Russisch von der Seite.

Bäumer lächelte gequält, winkte ab, schüttelte nur den Kopf. Dann starrte er auf den Boden und gab ein lautes Seufzen von sich.

Es dauerte noch zwei unruhige Tage, bis die Kollektivisten ihren Sturmangriff unternahmen. Eingeleitet wurde er von einem massiven Artillerieschlag auf die Stellungen der Rus, dann rückten die schwarz-roten Scharen vor und überrannten die Soldaten Tschistokjows ohne größere Mühe. Gegen ihre zahlenmäßige Stärke konnten selbst die tapferen Waräger nichts ausrichten und bevor noch mehr junge Männer in einem aussichtslosen Kampf geopfert wurden, gab das weißrussische Oberkommando letztendlich den Befehl zur Räumung der Stadt. Orel war gefallen und die Freiheitsbewegung der Rus hatte damit nicht nur ein wichtiges Bollwerk verloren, sondern vor allem auch einen schweren psychologischen Schlag erlitten. Uljanin triumphierte.

Während Alf heil aus den Kämpfen um Orel nach Weißrussland zurückgekehrt war und sich trotz der Niederlage seines Lebens erfreute, war Frank mittlerweile vollkommen verzweifelt und rechnete jeden Tag mit dem Schlimmsten.

Doch es geschah nichts. Die KKG-Männer ließen sich über eine Woche lang nicht sehen und schienen offenbar das Interesse an ihm verloren zu haben. Nur einmal waren zwei betrunkene Kollektivisten mitten in der Nacht in Franks Zelle getorkelt und hatten ihn mit einem Tritt in den Magen geweckt.

„Hast du gehört, du Stück Scheiße?“, hatte ein schlaksiger KKG-Mann gelallt und höhnisch durch den Raum gerülpst.

„Was wollt ihr?“, hatte Kohlhaas gekeucht, sich den Bauch haltend.

„Orel ist von uns erobert worden, du Arsch! Hast du gehört? Deine verdammten Waräger haben sich vor unseren Truppen verpisst!“

„Lasst mich doch in Ruhe …“, war Franks knappe Antwort gewesen.

„He! Ich rede mit dir, du Hurensohn!“, hatte einer der Kollektivisten daraufhin gebrüllt und ihm mit voller Wucht gegen den Schädel getreten.

Kohlhaas, den Kopf der grauen Betonwand zugedreht, hatte sich vor Schmerzen gewunden und war beinahe ohnmächtig geworden

„Ich wusste doch, dass die Waräger Schwuchteln sind!“, hatte der Aufseher daraufhin gehöhnt und den Gefangenen vor sich auf dem Zellenboden noch weiter verspottet.

Der General war hingegen bemüht gewesen, den zwei angetrunkenen Männern keine Beachtung zu schenken und nicht auf ihre Provokationen zu antworten.

„Scheißhaufen sind deine Leute! Genau wie du, Herr Rus-Offizier!“, hatten sie weiter gestichelt. Frank war still geblieben und hatte lediglich das zerbeulte Gesicht mit den Händen abgeschirmt.

„Wir werden euch alle vernichten! Merk dir das, du dreckiges Rus-Schwein!“

Nach weiteren Tritten und Schlägen waren die beiden schließlich wieder abgezogen und laut grölend aus der Zelle hinausgeschwankt. Kohlhaas hatte ihr hämisches Gezeter noch eine Weile auf dem Gang gehört, dann waren sie verstummt.

„Es war alles umsonst. Ich habe vergeblich gelebt!“, schoss es ihm jetzt durch seinen schmerzenden Schädel.

Frank kroch in die hinterste Ecke der Zelle und rollte sich wieder in seine schmutzige, graue Wolldecke ein. Der General versuchte zu schlafen, doch Schmerzen und Sorgen hielten ihn bis in die frühen Morgenstunden wach.

„Das war erst der Anfang! Die Berichte unserer Soldaten aus Orel sind wenig erbaulich. Und ich bin auch ganz ehrlich, derzeit sehe ich keine Möglichkeit, wie wir Uljanin aufhalten sollen!“, erklärte Artur Tschistokjow den betreten dreinschauenden Mitgliedern seines Kabinetts.

„Vielleicht sollten wir uns aus Westrussland zurückziehen und den Kollektivisten das Feld überlassen. Dann konzentrieren wir alle unsere Truppen an der weißrussischen Grenze“, schlug der Wirtschaftsminister vor.

Der weißrussische Präsident warf ihm einen zornigen Blick zu und schrie ihn an: „Was? Aus Russland zurückziehen und die gewonnen Gebiete aufgeben? Ich höre wohl nicht richtig? Vielleicht auch noch St. Petersburg dem Feind überlassen, damit Uljanin auch dort neue Soldaten rekrutieren kann?“

Ein grauhaariger Mann meldete sich zu Wort, doch Tschistokjow winkte vor Wut bebend ab. Dann grollte er: „Derartige Vorschläge verbitte ich mir! Was sagen Sie, Herr Wilden?“

Der Deutsche kratzte sich grübelnd am Kopf und antwortete dann: „Ich sehe nur eine Möglichkeit für uns. Nämlich die, dass Matsumotos Japan aktiv in den Krieg eingreift und eine zweite Front in Asien eröffnet.“

Ein Raunen ging durch die Kabinettsmitglieder, einige von ihnen schüttelten die Köpfe. Tschistokjow schlug mit der Faust auf sein Rednerpult und ermahnte seine Berater, das Gemurmel einzustellen.

„Die Japaner! Ja, das wäre schön, aber ich glaube nicht, dass sich Matsumoto zu diesem Schritt entschließen wird!“, knurrte der Anführer der Rus.

„Außerdem wird die japanische Armee wohl kaum bis nach Moskau vorstoßen können“, gab Minister Schukow zu bedenken.

„Es würde erst einmal ausreichen, wenn unsere ostasiatischen Verbündeten zumindest einen Teil der kollektivistischen Streitkräfte im Osten binden könnten“, verteidigte Wilden seinen Plan.

Artur Tschistokjow verzog mürrisch sein Gesicht und erklärte die heutige Sitzung für aufgelöst. Dann winkte er seinen Freund, den weißrussischen Außenminister, zu sich und gab ihm die Anweisung, weitere Verhandlungen mit der japanischen Regierung aufzunehmen.

„Wir haben zu verlieren nichts, Thorsten! Also versuche es einfach!“, sagte er leise auf Deutsch und klopfte Wilden auf die Schulter.

Mittlerweile hatte eine halbe Million Soldaten der schwarz-roten Armee das Industriezentrum im Südosten der Ukraine besetzt und bereitete sich auf den Vormarsch nach Westen vor. Die Heeresgruppe, welche diesmal mit neuen Panzern aus Nordamerika ausgestattet war, wurde von General Leo Dschugin geführt und hatte die Aufgabe, den Rest des Landes unter Kontrolle zu bringen, um dann in den Süden Weißrusslands vorzustoßen. Von Moskau und Rybinsk rückten weitere Verbände der Kollektivisten vorwärts nach Westen, um die von den Rus besetzten Städte anzugreifen.

Die nördlichen Streitkräfte standen unter dem Befehl von Theodor Soloto, der nach seiner Vertreibung aus St. Petersburg bittere Rachegelüste verspürte und einen schnellen Vorstoß in die ländlichen Regionen rund um Rybinsk befahl. Bis Ende des Monats stießen Uljanins Truppen hier auf wenig Widerstand und trieben die zahlenmäßig unterlegenen Volksarmisten weiter vor sich her. Anfang März eroberten sie Vysnij Volocek und weitere Kleinstädte im Hinterland. Nun ließ die kollektivistische Führung auch die ersten Bomber zum Einsatz kommen und führte einen vernichtenden Schlag gegen Velikie Luki nahe der Grenze zu Weißrussland.

Artur Tschistokjow befahl daraufhin die Bombardierung von Orel und schickte fast seine gesamten Luftstreitkräfte los. Beide Städte wurden schließlich vollkommen in Schutt und Asche gelegt. Doch während die Zerstörung Orels die kollektivistische Führung kaum interessierte, schmerzte die Rus der Schlag gegen Velikie Luki sehr.

GCF-Truppen, die über den skandinavischen Landweg oder per Schiff in den Norden Russlands einrückten, besetzten zur gleichen Zeit die gesamte Kolskij Halbinsel und stießen weiter bis nach Kockoma im Norden von St. Petersburg vor.

Kollektivistische Milizen des polnischen Revolutionärs Gregor Wainizki, deren Aufstellung die Weltregierung ausdrücklich erlaubt hatte, versuchten derweil ihrerseits über die Westgrenze Weißrusslands nach Brest vorzustoßen, konnten jedoch von den Soldaten der Volksarmee vertrieben werden.

Noch hatte der Feind seine Streitkräfte nicht ausreichend organisiert, um Tschistokjow und seinen Nationenbund vollständig vernichten zu können, doch seine Übermacht war so gewaltig, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein schien, bis es so weit war.

Der weißrussische Präsident hielt eine Fernsehansprache nach der anderen und schwor sein Volk fast täglich auf den entscheidenden Verteidigungskampf ein, doch Angst und Unsicherheit lähmten immer mehr Weißrussen und Balten, obwohl sie eigentlich zu ihm standen und seine Politik befürworteten.

Mit sehr begrenzten Mitteln und gegen alle internationalen Widerstände hatte es Artur Tschistokjow immerhin geschafft, die Wirtschaftskrise nachhaltig zu mildern und Hunderttausenden von Weißrussen wieder Arbeit zu geben. Die Lebensqualität hatte sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, doch der jetzt entfachte Krieg drohte das Aufgebaute wieder zu zerstören.

„Wir müssen lernen, hart gegen uns selbst zu sein!“, predigte der Revolutionsführer seinem Volk in dieser Zeit unaufhörlich.

Doch tief im Inneren zweifelten seine Getreuen und auch er selbst an einer realistischen Chance gegen die mächtige Allianz der Kollektivisten und des Weltverbundes. Zu gewaltig war die Zahl der Gegner und unbeirrt schob eine brutale Welle aus dem Osten die Volksarmee der Rus Stück für Stück nach Westen zurück. Am 11. März des Jahres 2039 leuchtete jedoch ein kleines Fünkchen Hoffnung am Horizont auf. Es kam aus Japan. Präsident Matsumoto hatte sich entschieden.

Beutewelt V. Bürgerkrieg 2038

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