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Zwischen den Kriegen

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Mit nachdenklichem Blick sah Flavius aus dem Küchenfenster auf die tief unter ihm liegenden Straßen von Lethon herab. Genau wie in seiner Heimatstadt Vanatium wimmelten die ameisengleichen Menschenschwärme zwischen den gewaltigen Habitatskomplexen umher, stets emsig und doch vollkommen ziellos wirkend. Aber Lethon war nicht Vanatium. Letztere Megastadt war ein Zentrum des blühenden Lebens im Herzen von Hyboran, jenem terranischen Kontinent, den die Altvorderen einst „Europa“ genannt hatten. Lethon dagegen war eine kriegsgezeichnete Industriemetropole auf Thracan, erbaut inmitten einer kargen Geröllwüste. Jahrelange Kämpfe und Hungersnöte, millionenfacher Tod und unendliches Leid hatten Thracan verändert, genau wie die Thracanai selbst.

Inzwischen hatte Aswin Leukos, der Anführer der Loyalisten, diese Welt in eine riesige Militärbasis verwandelt. Seit dem Ende des Bürgerkrieges spuckten die automatisierten Fabriken in den Städten pausenlos Waffen und Kriegsgerät aus; zugleich bevölkerten Hunderttausende von thracanischen Aureanern die Heerlager der Loyalisten, wo man aus ihnen Milizsoldaten und Legionäre machte.

In diesem Moment jedoch wirkte die Welt dort draußen, jenseits des großen Fensters aus Spiegelglas, friedlich und ungefährlich. Flavius wusste zwar, dass dieser Eindruck trügerisch war, doch zwang er sich, die noch kommenden Schrecken auszublenden und das Jetzt zu genießen. Er drehte sich wieder um und sah zu seiner Freundin Eugenia und seinem treuen Gefährten Kleitos herüber. Die beiden saßen am Küchentisch und unterhielten sich, während sie ab und zu an ihren Teetassen nippten.

„Was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend wieder in die Stadt gehen? Vielleicht finden wir ja noch etwas Zerstreuung“, sagte Princeps mit einem müden Lächeln.

Eugenia nickte. Kleitos hingegen reagierte mit einem sarkastischen Grinsen. „Lethon wird auch heute Abend nicht weniger dreckig und langweilig sein als sonst. Wir könnten höchstens in die Innenstadt fliegen und in einem der Restaurants an einem Nahrungswürfel lutschen. Was anderes steht hier ja nicht mehr auf der Speisekarte.“

„Sehr witzig!“, antwortete Flavius. „Oder wir spielen noch eine Runde Halo-Simulator, ist mir auch egal.“

„Mir allerdings nicht, Schatz“, wandte Eugenia mürrisch ein. „Ich finde, dass ihr in den letzten Tagen wahrlich genug vor dem Ding gehangen habt.“

„Aber wir müssen noch „Farancu Collas III“ weiterspielen. Wir sind gerade drüben in Canmeriga und haben es schon fast bis nach Noj Jook geschafft“, meinte Kleitos, wohl wissend, dass er Eugenia mit diesen Sprüchen auf die Palme brachte.

„Farancu muss die Welt retten, Liebling!“, fügte Flavius schmunzelnd hinzu.

„Sollte Farancu Collas jemals reinkarnieren und mir über den Weg laufen, dann kriegt er eine reingedonnert. Held oder nicht – der Kerl nervt!“, erklärte Eugenia.

Flavius hob die Arme in die Höhe, um dann wie der Hauptdarsteller eines altaureanischen Holographie-Theaterstücks auszurufen: „Aber man kann Farancu doch gar nicht besiegen, werte Dame! Vor allem nicht, wenn er von Flavius Princeps höchstpersönlich gespielt wird!“

„Du hast einfach nur einen Dachschaden, Liebling.“ Eugenia musste lachen. Daraufhin erhob sie sich von ihrem Platz, kam zu Flavius herüber und umarmte ihn zärtlich.

„Gut, von mir aus fliegen wir nachher in die Stadt. Eigentlich hängen mir die Halo-Spiele auch langsam zum Halse heraus“, sagte Princeps und gab Eugenia einen Kuss auf die Wange.

„Mir nicht!“, kam von Kleitos.

„Wenn ich nicht mitspiele, kommst du aber leider nicht sonderlich weit, Jarostow.“

„Bauma der Hüne kann auch alleine kämpfen, wenn es sein muss.“

„Lachhaft!“, erwiderte Princeps. „Du gehst doch schon beim zweiten Logendämon drauf, wenn du mich nicht als Unterstützung hast. Beim letzten Spiel bist du einfach in einen Haufen Rattenmenschen reingerannt, ohne auch nur …“

Mit einem lauten Räuspern unterbrach Eugenia die beiden fachsimpelnden Herren. Dann zog sie Flavius an sich heran, um ihm ins Ohr zu säuseln: „Wir fliegen nachher in die Stadt, kapiert? Später können wir ja auch noch etwas anderes machen. Irgendwann wird Kleitos doch mal abgezogen sein, oder nicht?“

„Ja, sicher!“, murmelte Flavius kaum hörbar zurück; sein Freund glotzte ihn indes mit vielsagendem Blick an.

„Äh, also, Kleitos, wir, also Eugenia und ich, würden später vielleicht doch noch in die Stadt fliegen …“, sagte Princeps, wobei er es vermied, Jarostow allzu lange anzusehen.

„Verstehe!“, brummte dieser. Er erhob sich von seinem Platz.

„Wisst ihr, ihr zwei, es ist nicht gerade weise, wenn man ständig nur vor dem Halo-Simulator hängt und seine wertvolle Lebenszeit mit Farancu Collas oder ähnlichem Blödsinn verschwendet“, meinte Eugenia mit ernster Miene.

„Ansichtssache …“, gab Kleitos leicht eingeschnappt zurück. Flavius hob beschwichtigend die Hände, seine Freundin verhalten anlächelnd.

„Es macht allerdings eine Menge Spaß!“, fügte er leise hinzu.

Sie funkelte ihn mit ihren hellblauen Augen an. Das tat sie selten, aber wenn es geschah, flößte es Princeps durchaus Respekt ein.

„Wir wissen alle nicht, wie lange wir dieses Leben noch leben können, falls ihr wisst, was ich euch damit sagen will. Vielleicht ist morgen nicht nur unser kleiner Frieden hier, sondern alles andere auch vorbei. Es gibt sinnvollere Dinge als diese dummen Halo-Spiele.“

„Ja, schon gut, ich habe ja nicht darauf bestanden, dass wir heute noch eine Runde zocken. Fliegt in die Stadt, kein Problem. Dann gehe ich jetzt eben …“, murrte Kleitos, während er seinen Kumpel vorwurfsvoll ansah.

„So meinte ich das nicht“, versuchte sich dieser zu verteidigen, doch Jarostow winkte ab.

„Also, bis die Tage! Viel Spaß in Lethon!“, grantelte der bullige Legionär aus Wittborg. Dann ergriff Kleitos seine Jacke, die er über die Lehne des Sofas geworfen hatte, als er es sich vor vier Tagen in Flavius Wohnung gemütlich gemacht hatte und seitdem nicht mehr gegangen war.

„Wie gesagt, viel Spaß!“ Jarostow stapfte beleidigt zur Haustür, welche sich sofort summend öffnete, nachdem sie sein genetisches Profil erkannt hatte.

Seit dem Ende des thracanischen Bürgerkrieges hatten sich Aswin Leukos, der Oberstrategos von Terra, und sein Freund Magnus Shivas, der Statthalter des Proxima Centauri Systems, keinen Tag Ruhe gegönnt. Hinter den beiden lag ein grausamer Bürgerkrieg, in welchem sie die Streitkräfte der Optimaten nach langen, entbehrungsreichen Kämpfen in die Knie gezwungen hatten.

Dieser blutig errungene Sieg war jedoch lediglich die Grundlage für das, was jetzt folgen sollte. Nun musste der Kampf ins Herz des Goldenen Reiches getragen werden, ins Heimatsystem der Menschheit selbst, um den verräterischen Imperator Juan Sobos vom Thron zu stoßen. Eine verwegene Vorstellung, wenn man bedachte, dass dieser über weitaus mehr Soldaten und Kriegsschiffe als seine Gegner verfügte. Dennoch gab es keine Alternative, denn Sobos würde ihnen im Proxima Centauri System auf Dauer keine Ruhe lassen und es war anzunehmen, dass er bereits eine Streitmacht ausgesandt hatte.

Doch der terranische General, den sein gerissener Widersacher einst unter falschen Voraussetzungen ins benachbarte Sternensystem geschickt hatte, um ihn von Terra wegzulocken und ihn anschließend zu beseitigen, war fest entschlossen, diesmal selbst in die Offensive zu gehen. Dafür bedurfte es jedoch umfassender Vorbereitungen, wobei die Rekrutierung und Ausbildung neuer Soldaten sowie die Bereitstellung kampffähiger Raumschiffe oberste Priorität hatten.

Mit Hilfe von Magnus Shivas versuchte Leukos zudem, die Ordnung auf Thracan wiederherzustellen und die Kriegsschäden so gut es ging zu beseitigen. Ganze Regionen, vor allem auf dem Nordkontinent Groonlandt, waren im Verlauf der Kämpfe verwüstet worden.

Inzwischen war es dem terranischen General und seinen Mitstreitern gelungen, wieder eine rudimentäre Nahrungsmittelversorgung aufzubauen. Zu Beginn des Bürgerkrieges waren gewaltige Agrarsektoren und Wasserspeicher gezielt von den Optimaten zerstört worden, was Millionen Menschen den Hungertod gebracht hatte. Mittlerweile galt die Katastrophe zwar als überwunden, doch änderte dies nichts daran, dass die Versorgungslage in vielen Megastädten immer noch kritisch war.

Der terranische Oberstrategos schenkte seine größte Aufmerksamkeit jedoch einem viel schwerwiegendem Problem, denn um das Sol-System zu erreichen, benötigte er Raumschiffe. Leukos brauchte eine ganze Flotte, die seine Heere nach Terra bringen konnte. Doch an Raumschiffen mangelte es den Thracanai besonders; zumindest an solchen, die man für militärische Zwecke einsetzen konnte.

Auf den Raumhäfen der Nachbarplaneten Crixus und Glacialis befanden sich allerdings noch einige Dutzend leichte und mittelschwere Kreuzer; außerdem gelang es den Loyalisten, das eine oder andere Schiff, welches während der Kämpfe beschädigt worden war, zu reparieren. Aber alles in allem war es kaum möglich, eine schlagkräftige Armada, die einer terranischen Kriegsflotte trotzen konnte, aufzustellen.

Als Großkampfschiffe mit starker Panzerung und Bewaffnung waren nur noch die Polemos und die Lichtweg geblieben, zwei Raumriesen der Lictor Klasse, die beide schon viel erlebt hatten und nun auf ihre nächsten Einsätze warteten.

Der Raumhafen von Remay, der von den Magmabomben der Terraner zu Beginn des thracanischen Bürgerkrieges in Schutt und Asche gelegt worden war, glich dagegen noch immer einem verbrannten Ruinenfeld. Ihn wieder aufzubauen, würde Jahre dauern. Diese Zeit aber hatte Aswin Leukos nicht, und auch die vielen dort noch stehenden Schiffe, die von den Feuerstürmen der Magmabomben in verkohlte Gerippe verwandelt worden waren, konnten ihm jetzt nicht mehr helfen, obwohl er sie dringend gebraucht hätte.

Somit gab es noch unendlich viel vorzubereiten, denn für einen Vorstoß ins Sol-System fehlten dem Oberstrategos bisher sowohl die Kraft, als auch die Mittel. Aber Leukos war dennoch fest entschlossen, den Kampf bis nach Terra zu tragen, bis vor die Haustür des verhassten Verräterkaisers Juan Sobos. Zur Erreichung dieses Ziels bedurfte es allerdings mehr als nur reinen Heldenmutes und grimmiger Kampfentschlossenheit.

Ohne genügend Kriegsschiffe, Soldaten und Waffen war es vollkommen unmöglich, auch nur in die Nähe der Erde zu kommen. Deshalb musste improvisiert werden, um das Beste aus dem Wenigen herauszuholen, was nach dem verheerenden Bürgerkrieg noch übrig geblieben war.

Der holographische Bildschirm, der in der Mitte des Raumes schwebte, zeigte glasklare, dreidimensionale Bilder voller Gewalt und Schrecken. Nicht nur auf Thracan, sondern im gesamten Proxima Centauri System, tobte ein neuer Anaureaneraufstand, der alles Vorangegangene in den Schatten stellte.

Juan Sobos schmunzelte, genau wie die Angehörigen seiner optimatischen Seilschaft, die ihn heute im Archontenpalast von Asaheim besuchten. Schrille Schmerzensschreie gellten durch den Raum, als ein unschuldig aussehendes Mädchen von einer Gruppe zerlumpter Ungoldener ergriffen und in ein brennendes Haus gestoßen wurde. Man hatte das Gefühl, sich direkt im Zentrum einer aufständischen Horde zu befinden. Und so sollte es auch wirken.

„Die Zerstörung der Slumstadt San Favellas und die grausame Vergeltungsaktion des verrückten Imperators Credos Platon hat die anaureanischen Massen auf Thracan nur noch wütender gemacht. Die Ruhe nach dem ersten Aufstand währte nur kurz, denn nun ist alles endgültig außer Kontrolle geraten“, erklärte ein Nachrichtensprecher mit düsterer Stimme.

Wieder schrieen Menschen durcheinander. Ein brüllender Anaueraner sprang durch das Bild und stürzte sich auf einen ängstlich winselnden Greis in weißem Gewand. Dann wurde das dunkle, fratzenhafte Gesicht des Ungoldenen immer größer und bedrohlicher, bis es für einen kurzen Augenblick den holographischen Schirm gänzlich ausfüllte. Die primitive, gewalttätige Gestalt stieß einen blökenden Laut aus, der sich mit dem Todesröcheln des sterbenden Aureaners vermischte.

„Grausig!“, meinte Sobos.

„Die Bilder machen den Eindruck, als wären sie hastig, wie im Vorbeilaufen, aufgenommen worden“, bemerkte einer der Anwesenden, ein grauhaariger Mann in roter Toga, dem mehrere Transmitterknoten auf Terra gehörten.

„Alles brennt im Hintergrund, das ist immer gut. Schaurig, schaurig“, schob der Archon lächelnd nach.

Markerschütternde Angstschreie erfüllten den Raum, Blasterschüsse zischten umher und rötlicher Feuerschein erleuchtete den Hintergrund. Inzwischen brannten ganze Habitatskomplexe, sie glichen riesigen Fackeln, deren schwarzer Qualm den Himmel verdunkelte.

„Diesmal ist die anaureanische Slumstadt Macpolis das Zentrum des systemweiten Aufstandes. Wieder arbeiten rebellische Ungoldene und UPC-Terroristen Hand in Hand zusammen, um die imperiale Ordnung zu Fall zu bringen. Wie weit reichen die Arme der Terrororganisation inzwischen? Gibt es mittlerweile sogar UPC-Ableger im Sol-System?“, erzählte der Nachrichtensprecher, wobei er besorgt in die Aufnahmegeräte blickte.

„Die UPC! Genial!“, rief Sobos und klatschte in die Hände.

„Es war uns wichtig, das Bedrohungsszenario noch weiter auszubauen. Man sollte ruhig mit den Sorgen und Ängsten der einfachen Menschen spielen. Sie sollen glauben, auch auf Terra nicht mehr vor der UPC sicher zu sein. So wird die Zustimmung für den zweiten Militäreinsatz auf Thracan immer weiter wachsen“, bemerkte einer der Optimaten.

Malix Yussam, der ebenfalls unter den Anwesenden war und sich die ganze Zeit über ruhig und abwartend verhalten hatte, sah sich das vor seinen Augen tanzende Propagandatheater mit verbissener Miene an.

Schließlich sagte er: „Auf der einen Seite werden die Anaureaner emanzipiert, um auf der anderen Seite wieder als Sündenböcke herzuhalten. Das ist schon merkwürdig.“

Mehrere Köpfe drehten sich dem Bankier zu. Einige Blicke spiegelten die Verachtung, die die optimatischen Politiker dem ungoldenen Emporkömmling gegenüber empfanden, deutlich wider.

„Das ist in der Politik eben so. Einfach ist nichts, alles hat zwei Seiten. Es ist das von Nutzen, was gerade von Nutzen ist, Herr Yussam“, meinte der Kaiser.

„Natürlich!“, murmelte der Geschäftsmann.

Lupon von Sevapolo, Sobos Stellvertreter und treuester Gefährte, musterte ihn kalt, um daraufhin anzumerken: „Fühlt Ihr Euch mit diesem Slumbewohnerpack etwa verbunden, Herr Yussam? Ihr seid reich und mächtig, was scheren Euch da solche verdreckten Kreaturen? Außerdem sind diese Bilder ohnehin nicht echt.“

Malix Yussam schwieg, er schaute weg. Derweil stellte sich der Archon vor die anderen Männer und hob seine speckigen Arme. „Im Großen und Ganzen bin ich mit diesem Propagandakonzept zufrieden. Das erhöhte Bedrohungspotential muss hervorgehoben werden, schüren Sie ruhig Angst, meine Herren. Aber übertreiben Sie es nicht. Man muss manchmal auch dezent vorgehen. Nicht immer ist es ratsam, den Leuten alles mit dem Energiehammer einzuprügeln.“

„Wir haben unsere Truppen bereits mit großem Tamtam ins Proxima Centauri System geschickt und jetzt müssen wir den Massen auch weiterhin Gründe dafür liefern“, sagte einer der Transmitterknoteninhaber.

„Antisthenes und seine Soldaten werden da hinten ohnehin nichts zu tun haben. Ich meine, Nero Poros wird das mit Leukos doch wohl längst erledigt haben, oder?“, kam von dem Optimaten daneben.

Sobos stieß ein leises Zischen aus. „Davon gehe ich aus, Marnil von Vernoa, alles andere ist eigentlich undenkbar. Leukos wird nicht mehr lange gelebt haben, da bin ich mir sicher.“

„Und wenn er – warum auch immer – doch noch nicht besiegt sein sollte?“, hakte Malix Yussam nach.

„Nicht besiegt?“, rief der Archon ungläubig. „Ich bitte Euch, mein lieber Freund, das ist doch lächerlich. Leukos ist ein guter General, aber doch kein Gott. Im schlimmsten Fall wird Antisthenes die Reste seiner Armee vernichten, wenn sich Poros als unfähig erwiesen hat. Aber das ist ein abwegiger Gedanke, Yussam.“

Die übrigen Optimaten stimmten sogleich in das hämische Gelächter ihres Anführers ein. Alle starrten sie Malix Yussam an, als hätte er soeben die dümmste Frage der Weltgeschichte gestellt. Der Bankier jedoch hielt ihren spöttischen Blicken stand und ließ es sich nicht anmerken, wie sehr ihn die ewige Arroganz seiner Gönner im Inneren kränkte.

Aswin Leukos stand aus seinem Sessel auf und kratzte sich am Hinterkopf. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass seine Schlachtpläne voller Schwächen und Unstimmigkeiten waren.

„Es gibt für mich überhaupt keinen Zweifel daran, dass Sobos inzwischen eine Kriegsflotte entsandt hat. Er hat Poros Hilferuf längst erhalten und wird sofort reagiert haben. Alles andere kann ich mir nicht vorstellen“, erklärte Magnus Shivas mit ernstem Blick.

Leukos betrachtete den weißhaarigen Adeligen, dem er so viel zu verdanken hatte, und ließ ein zustimmendes Brummen hören. Shivas lächelte in seiner väterlichen Art.

„Ihr werdet bald ohne mich auskommen müssen, Oberstrategos“, sagte er. „Allerdings seid Ihr mir in militärischen Angelegenheiten auch weit voraus. Ich denke schon, dass Ihr mit Eurer Flotte eine Chance haben werdet, selbst gegen eine Übermacht schwerer Lictor Kampfschiffe.“

„Niemand weiß, wie sich die Flotte, die uns Sobos auf den Hals gehetzt hat, zusammensetzt. Vorausgesetzt sie kommt tatsächlich.“

„Sie wird auf dem Weg sein. Der Verräterarchon kann uns nicht ignorieren und wird schnell gehandelt haben, General“, meinte Shivas.

„Und meine Enterstrategie wirkt auf Euch wirklich realisierbar?“, fragte Leukos unsicher.

Sein in die Jahre gekommener Gefährte schmunzelte sanft. Offenbar wollte er Leukos dadurch ein wenig beruhigen, denn dieser wurde von Tag zu Tag nervöser.

„Nun, ich bin kein Feldherr, der die Weltraumkriegsführung studiert hat, deshalb kann ich diese Frage nur unzureichend beantworten. Diese Taktik ist verwegen und verzweifelt, viele tapfere Männer werden dabei sterben. Ich kann nur hoffen, dass Ihr Erfolg habt.“

Der Oberstrategos ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. Leise stöhnend fuhr er sich mit der Hand durch seine kurzgeschnittenen, blonden Haare. Das aristokratisch wirkende Gesicht des Feldherren hatte in den letzten Jahren eine Vielzahl kleiner Sorgenfalten hinzugewonnen. Oft wirkte Leukos erschöpft und müde; Zweifel und tiefsitzende Ängste nagten an seinem Verstand. Irgendwo dort draußen wartete ein übermächtiger Feind, dem er sich stellen musste. Ein Entkommen war unmöglich, darüber war sich der General längst im Klaren, alles Verdrängen half auf Dauer nichts.

„Die Strategie“, sagte er dann, „ist verwegen, sie ist geradezu brutal, aber mir bleibt keine andere Wahl. Wir können der Feuerkraft mehrerer Lictor Kreuzer mit unseren Schiffen nicht viel entgegensetzen, deshalb müssen wir die feindlichen Großraumer erstürmen, wie es Soldaten mit einem Schützengraben tun. Ja, mein Freund, ich weiß, dass dabei viele gute Legionäre ihr Leben lassen werden, es ist mir wohl bewusst. Der Göttliche möge mir verzeihen.“

Shivas hob den Zeigefinger, wobei er seinen jüngeren Mitstreiter eindringlich ansah.

„Wenn ihr die Schlacht im All verliert, dann ist auch mein Schicksal besiegelt. Unabhängig davon ist das Sol-System ein einziges, großes Bollwerk; nicht nur Terra selbst, sondern auch der Mars und die Venus. Woher wollt Ihr die Soldaten nehmen, um Sobos Militärmacht zu trotzen? Er hat Zugriff auf die gesamte Infrastruktur des Reiches, er verfügt über sämtliche Ressourcen …“

Leukos unterbrach den Statthalter energisch; aufgeregt riss er die Hände in die Höhe. „Das weiß ich alles!“

„Das Hauptproblem ist das Sol-System. Ich werde zwar versuchen, Euch Nachschub und Verstärkung zukommen zu lassen, aber meine Mittel sind begrenzt – im Gegensatz zu denen unserer Feinde“, fuhr Shivas fort.

„Einige Legaten werden sich mir mit ihren Legionen anschließen, wenn ich zurückkehre, davon gehe ich jedenfalls aus. Als Oberstrategos von Terra war ich beliebt und angesehen, wenn ich mich nicht auch darin die ganzen Jahre hindurch getäuscht habe“, sagte Leukos verbittert.

„Sobos Propaganda dürfte Euch längst zu einem geisteskranken Massenmörder stilisiert haben“, entgegnete der thracanische Nobile.

Der Oberstrategos verzog das Gesicht, als hätte er eine Zitrone verschluckt. Dann murmelte er vor sich hin, bis sich seine Stimme wie ein leises Grollen anhörte.

„Dieses Spekulieren führt zu nichts, Statthalter! Wir werden sehen, was geschieht“, knurrte er.

„Es geht nicht nur darum, zu spekulieren, General“, bemerkte Shivas ruhig. „Wenn Ihr das Sol-System erreicht, dringt Ihr wie ein Raubtier in eine träge, pazifistische Wohlstandsgesellschaft ein. Es wird wie hier auf Thracan sein. Damals, als Ihr Euch mit dem Rest Eurer Flotte auf meine Welt gerettet habt. Nun, hier hatten wir eine Menge Glück, aber das wird nicht von Dauer sein.“

Leukos sprang auf. „Dann gebt mir einen Rat, mein Freund! Bitte, ich weiß nicht, wie ich vorgehen soll!“

„Nehmt Euren Kastenbrüdern das Essen vom Teller, lasst sie hungern und frieren. Zerstört den Wohlstand! Das ist notwendig, um sie aufzuwecken“, meinte Shivas.

„Soll ich Agrarkomplexe und Wasserspeicher vernichten? So wie es Nero Poros, dieser Verrückte, getan hat? Statthalter, dann werden mich alle, die mich Dank Sobos Propaganda schon jetzt für einen Bösewicht halten, nur noch mehr hassen“, erwiderte Leukos mit ungläubigem Blick.

„Denkt nicht zu kompliziert, Oberstrategos. Denkt einfach, wie das einfache Volk. Niemand verlangt von Euch, dass Ihr die Nahrungsmittelversorgung sicherstellt. Kein Aureaner wird von Euch erwarten, dass Ihr seine Wohnung mit Energie versorgt. Nein, das ist die Aufgabe des Kaisers und seiner Diener“, erläuterte Shivas.

„Davon halte ich nichts.“ Der terranische Feldherr schüttelte den Kopf.

„Umso länger die Versorgungskrise dauert, umso mehr werden die breiten Massen eine Wut auf den Imperator entwickeln – nicht auf Euch. Ihr seid ein Rebellenführer, von Euch erwarten sie nichts außer Chaos und Unruhe. Sobos und seine Optimaten aber haben ihnen Wohlstand, gefüllte Bäuche und Wärme versprochen. Sie werden unsere Feinde dafür verantwortlich machen, dass es ihnen schlecht geht.

Dann allerdings, wenn die Verwirrung groß genug und die Krise nachhaltig ist, müsst Ihr dafür sorgen, dass sie in Euch einen Retter sehen. Nehmt ihnen zuerst das Essen vom Teller, damit ihr ihnen anschließend die Rettung versprechen könnt.“

„Woher habt Ihr derartige Ideen, Statthalter? Sie sind äußerst gerissen“, wunderte sich Leukos. Er war nach wie vor skeptisch; seine Stirnfalten wurden tiefer.

„Mander Paathlandt, Geist und Instinkt der Massen“, antwortete Shivas trocken.

„Ha! Einer der wenigen Klassiker, die ich noch nicht gelesen habe“, meinte Leukos mit einem verhaltenen Lächeln.

„Ein frühes Werk des großen Denkers, sehr lesenswert. Studiert es, Oberstrategos. Ihr werdet viele gute Ideen darin finden.“

Das Lächeln des terranischen Heerführers begann sarkastisch zu werden. „Dann meint Ihr also nicht, dass der gewöhnliche Aureaner auf dem Mars oder auf Terra für die altaureanischen Tugenden, den Fortbestand des heiligen Reiches und die Zukunft unserer Kaste streiten wird?“

Shivas grinste noch sarkastischer zurück, um dann zu erwidern: „Der gewöhnliche Aureaner wird überhaupt erst reagieren, wenn er kein Essen mehr auf dem Teller hat. Denkt niemals zu kompliziert, wenn Ihr mit der breiten Masse umzugehen gedenkt.“

„Sie wird es nicht herausbekommen, Princeps. Jetzt nimm endlich den verdammten Neurostimulator und verpass dir ’ne kleine Dosis Glück“, zischte Kleitos genervt, um seinem Freund daraufhin ein kleines, unscheinbares Gerät zuzuschieben.

„Wenn ich nicht klar im Kopf bin, dann wird es Eugenia sofort auffallen. Ich habe keine Lust auf Ärger, sie hasst diese Dinger“, antwortete Flavius. Er sah sich verstohlen um; dann griff er nach dem Neurostimulator.

„Morgen sind wir vielleicht schon alle tot, scheiß was drauf“, meinte Kleitos, der sich schon drei Wellen Glücksgefühle in den Schädel gejagt hatte. Der bullige Soldat grinste benebelt und schlug seinem Kumpel mit der flachen Hand auf die Schulter.

„Was soll’s …“, sagte Flavius und aktivierte den Neurostimulator. Für einige Sekunden überlegte er noch, ob er ihn wirklich benutzen sollte, doch dann wurde er schwach. Das Verlangen nach berauschenden Glücksvisionen und Gefühlswogen siegte.

Die feinen Sensordrähte des Geräts berührten die Nasenschleimhäute; Flavius ließ die wohltuenden Nervenimpulse fließen. Leise stöhnte er auf. Es war großartig. Plötzlich tanzten bunte Pünktchen vor seinen Augen, während die Welt um ihn herum zu verschwimmen begann.

„Herrlich!“, stieß der Kohortenführer aus, wobei er ein leises Kichern nachschob. Kleitos klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, ganz so, wie man es von einem echten Saufkumpan erwartete.

„Gut gemacht, Princeps! Damit sieht alles doch viel rosiger aus, nicht wahr?“, lachte er.

„Ja, ich gebe es zu, einfach nur geil“, murmelte Flavius.

Die beiden Freunde standen im Schatten eines riesigen Habitatskomplexes in einem der schäbigen Wohnviertel am Stadtrand von Lethon. Hinter ihnen ragten klobige Industriebauten in den Himmel, doch in der Straße, in die sie sich zurückgezogen hatten, um sich der Neurostimulation hinzugeben, befanden sich bloß ein paar abgerissen aussehende Gestalten. Diese taten jedoch so, als würden sie nichts hören und sehen.

Es war um die Mittagszeit. Eugenia arbeitete seit einigen Monaten in einem der Hospitalkomplexe im Norden der Stadt, während Flavius meistens mit Kleitos herumhing und sich irgendwie zu beschäftigen versuchte. Für die terranischen Legionäre gab es im Moment nicht viel zu tun, aber das war auch gut so, meinte Princeps.

„Hier wohnen nur Ukas, ist schwer dreckig überall. Fast wie bei den Ungoldenen“, bemerkte Jarostow und deutete auf den Unrat, der den von einem trüben Licht beschienenen Straßenzug übersäte.

„Ukas?“, wunderte sich Flavius.

„Unterkastenaureaner, Leute aus den untersten Subkasten, meine ich. So nennt man die bei uns in Skantlant“, kam zurück.

„Diesen Begriff kenne ich nicht, aber egal. Jedenfalls nehme ich noch einen Schub Glücksgefühle“, sagte Princeps mit einem benommenen Schmunzeln. Er torkelte vor und zurück; dann lehnte er sich an einen großen Betonpfeiler und aktivierte den Neurostimulator erneut.

„Das knallt, was?“

„Wirklich heftig!“ Princeps fasste sich leise brummend an die Stirn.

„Nachher gehe ich noch in die Innenstadt. Einer von den thracanischen Legionären hat mir erzählt, dass es da so eine Adresse gibt, wo man ein wenig Spaß haben kann“, merkte Kleitos mit vielsagendem Blick an.

„Hä? Wie?“

„Weiber, Princeps! Nummer schieben!“

„Ach, so!“

„Willst du mit?“

Flavius reagierte mit einer energischen, abweisenden Handbewegung. „Nein, auf keinen Fall!“

„Wegen Eugenia?“

„Ja, natürlich wegen Eugenia.“

„Das sind nur Nutten, alle gehen da hin. Ist doch egal“, fand Kleitos.

„Nein, auf gar keinen Fall. Das kann ich nicht tun“, wehrte sich Princeps, wobei er Mühe hatte, noch einen klaren Gedanken zu fassen.

„Musst du wissen, Alter. Jedenfalls geht Manilus da auch hin. Aber mir soll es egal sein. Vielleicht sind wir bald schon alle tot. Dann will ich vorher wenigstens noch etwas Spaß gehabt haben“, sagte Jarostow.

„Wenn ich nicht mit Eugenia zusammen wäre, dann käme ich auch mit“, antwortete ihm Flavius.

Kleitos lachte schallend auf. „Weißt du, mir ist inzwischen alles scheißegal, mein Freund. Wahrscheinlich krepieren wir in naher Zukunft. Da hilft uns auch kein Buch von Malogor oder irgendetwas anderes. Aureanische Kaste und Goldenes Reich und der ganze Mist – ich bin Kleitos Jarostow, ein dummer, kleiner Soldat aus Wittborg. Und ich gehe heute eine Nummer schieben und haue mir nachher noch mehr Drogen und Neuroschübe rein. Mich wird keiner vermissen, außer vielleicht meine Eltern und mein Bruder. Aber die sehe ich sowieso nie mehr wieder.“

Das aureanische Zeitalter IV: Vorstoß nach Terra

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