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Auf der Jagd

Ganz gemächlich rollte der Wagen durch die nächtlichen Straßen von Kitzingen. An jeder Kreuzung oder Abzweigung hielt das Fahrzeug für einige Sekunden an. Dabei schaute der Mann hinter dem Lenkrad nach links oder rechts, scheinbar unschlüssig, wohin er sich als Nächstes wenden sollte. Andere Verkehrsteilnehmer waren zu der Zeit kaum unterwegs. Die Uhr zeigte auf kurz nach fünf Uhr in der Frühe, aber noch waren am Himmel keine Anzeichen für den anbrechenden Morgen zu erkennen. Das Oktoberwetter präsentierte sich wolkenverhangen und pechschwarz.

Der Fahrer schien kein bestimmtes Ziel zu haben. Sein Augenmerk war auf Straßenränder und Gehsteige gerichtet. Kamen menschliche Gestalten in sein Blickfeld, so wurde er noch langsamer und musterte die Personen intensiv, so als suche er jemand. Meist waren es junge Leute in kleinen Gruppen, die er zu Gesicht bekam. Vielleicht waren sie auf dem Heimweg, vielleicht zu einem frühen Vergnügen unterwegs oder zu einem Unfug, den man tags danach in der Zeitung lesen konnte. Vereinzelt wankte eine männliche Person heimwärts, den Blick starr geradeaus gerichtet, dabei nach links und rechts schwankend, als ob er die Breite des Bürgersteiges ausmessen wollte.

Gelegentlich wurde die Aufmerksamkeit des Fahrers durch eine weibliche Stimme abgelenkt, die von irgendwoher kam. Dann stieg seine Anspannung.

Da war die Stimme wieder. Dieses Mal wirkten die Worte elektrisierend auf ihn und er gab Gas. Sollte er heute Glück haben? Irgendwann musste es doch klappen. Viel zu lange war er schon auf der Suche, nein, regelrecht auf der Jagd. Er fieberte dem Erfolg entgegen. Ohne Rücksicht auf Verkehrszeichen und Geschwindigkeitsbegrenzungen preschte er los. Zwei Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Eine weibliche Gestalt am Straßenrand winkte und er hielt an. Kaum dass sie eingestiegen war, fuhr er los. Endlich, endlich, jubelte er innerlich. Das, was die junge Frau ihm sagte, registrierte er nur am Rande. Es war sowieso egal, sein Ziel stand fest.

Wenige Augenblicke später wurde seine Aufmerksamkeit auf die Lichter eines weiteren Fahrzeuges in seinem Rückspiegel gelenkt. Er hatte das Gefühl, der Wagen würde ihnen in einigem Abstand folgen. Immer wieder beobachtete er die Scheinwerfer. Dann kam ihm die unerklärlich orthodoxe nächtliche Ampelschaltung im Kitzinger Stadtgebiet zugute. Er näherte sich einer Kreuzung, deren Ampel in seiner Fahrtrichtung grundlos – es war weit und breit kein anderes Auto zu sehen – von Grün auf Gelb und schließlich auf Rot schaltete. Der Mann hinter dem Steuer gab Gas und brauste noch bei Gelb über die Kreuzung. Der nachfolgende Wagen musste bremsen und anhalten. Hatte der überhaupt mit ihm zu tun oder war es Paranoia, die ihn befiel? Vermutlich ein harmloser später Heimkehrer oder jemand, der sonst irgendein Ziel hatte und gar nichts von ihm wollte. Die Lichter im Rückspiegel waren verschwunden und die Gedanken daran auch. Gleich darauf verließ der Wagen mit den zwei Insassen Kitzingen in Richtung Dettelbach. Wenige Kilometer weiter – mitten in Mainstockheim – wurde das Fahrzeug langsamer, bog von der Hauptstraße ab und kam schließlich in einer Seitenstraße zum Stehen, der Fahrer stellte den Motor ab.

»Was ist? Warum halten wir?«, fragte die junge Dame auf dem Beifahrersitz irritiert.

»Der Wagen hat irgendein Problem. Vermutlich fehlt Öl«, antwortete der Mann hinter dem Steuer kurz angebunden. »Ich muss mal schnell nachschauen. Geht gleich weiter.«

Über einen Hebel im Fußraum des Wagens betätigte er die Entriegelung der Motorhaube. Mit einem metallischen Geräusch sprang sie auf. Im Licht der Innenbeleuchtung musterte die junge Frau ihren Chauffeur, als der die Fahrertür öffnete und ausstieg, gleich darauf wurde es im Inneren des Wagens wieder dunkel. Auch keines der Fenster der umliegenden Häuser war erleuchtet. In der Straße war es zu der nächtlichen Stunde totenstill. Zuerst hob der Mann die Motorhaube an, dann ging er nach hinten und öffnete den Kofferraum. Scheinbar gelangweilt beobachtete die Beifahrerin das Treiben des Mannes. Plötzlich wurde die Beifahrertür geöffnet.

»Ich könnte mal Hilfe gebrauchen, jemand, der mir die Taschenlampe hält.«

Die junge Frau stieg aus. Ein seltsamer süßlicher Geruch drang ihr in die Nase, als sie die Tür schloss. Sie kam aber nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Im gleichen Moment legte sich von hinten ein mit Chloroform getränktes Tuch auf Mund und Nase. Schreck und Überraschung ließen sie im ersten Moment erstarren. Dann erwachte ihr Überlebenswille und sie begann sich zu wehren, aber es war vergebens. Letztendlich musste sie erkennen, dass sie der Kraft des Mannes nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hielt die Luft an, um das Betäubungsmittel nicht einzuatmen. Auch diese Bemühungen waren umsonst. Ihr wurde der Sauerstoff knapp. Schwindelgefühl stellte sich ein. Schließlich musste sie einatmen, um nicht zu ersticken, und kurz darauf begann das Mittel zu wirken. Ohnmächtig sackte sie zusammen und wäre auf den Boden gefallen, wenn sie der Mann mit seinen kräftigen Armen nicht gehalten hätte. Blitzschnell packte er die junge Frau und verfrachtete sie in den Kofferraum. Er schloss die Heckklappe und während er die schwarzen Handschuhe auszog, sah er sich einen Moment lang um, ob von irgendwoher eine Reaktion kam oder sich jemand zeigte, der den Zwischenfall beobachtet haben könnte. Doch rundherum war alles ruhig geblieben. Niemand schien aufmerksam geworden zu sein. Vorsichtig und bemüht, geräuschlos zu bleiben, verschloss er die Motorhaube wieder. Die ganze Aktion hatte höchstens zwei Minuten gedauert. Sein Herz pochte bis zum Hals, so erregt war er. Der Nervenkitzel begann ihn anzutörnen und verursachte ein angenehmes Kribbeln auf der Haut. Ohne Hast stieg er in sein Fahrzeug und wendete den Wagen. Äußerlich gelassen fuhr er den Weg zurück nach Kitzingen. Seine Gedanken waren woanders, daher schenkte er diesmal weder dem entgegenkommenden Auto noch den kurz darauf auftauchenden Lichtern im Rückspiegel Beachtung.

Einige Minuten danach bog der Wagen von einer asphaltierten Straße auf einen unbefestigten Feldweg ab. Nur wenige Meter später erreichte er ein eingezäuntes Grundstück und hielt an. Im Scheinwerferlicht tauchte ein Tor auf. Es bestand aus einem zweiflügeligen Holzrahmen mit Maschendraht. Der Mann hinter dem Steuer stieg aus, öffnete beide Flügel und fuhr aufs Grundstück, direkt vor die Feldscheune, die dort, umringt von Obstbäumen, mitten auf dem Gelände stand. Ein weiteres Mal öffnete er ein hölzernes Tor und ließ den Wagen in dem Gebäude verschwinden. Kurz darauf wanderte der Strahl einer Taschenlampe durchs Innere der Scheune. Der Mann fand den Lichtschalter. Mehrere Lampen begannen zu flackern und verbreiteten gedämpfte Helligkeit, bedingt durch Staub und Dreck, der auf der Beleuchtung hafteten. Holzgebälk und eine gemauerte Wand wurden sichtbar, an der eine hölzerne Werkzeugbank und ein Metallspind standen.

Er öffnete den Kofferraum des Wagens. Traurig und fast mitleidig blickte der Mann auf die ohnmächtige junge Frau und in das von blonden Haaren umrahmte blasse Gesicht. »Keine kann mir entkommen«, murmelte er und zog aus der Jackentasche seine schwarzen Handschuhe und einen dunkelblauen Seidenschal. Mit unbewegter Miene zog er die Handschuhe an und beugte sich in den Kofferraum. Den Seidenschal band er der jungen Frau fast liebevoll um den Hals. Anschließend nahm er von der Werkbank mehrere Kabelbinder und fesselte seinem Opfer Hände und Füße. Plötzlich verharrte er in der Bewegung und lauschte. Ihm war es, als wenn er ein Motorengeräusch gehört hätte. Regungslos stand er da, aber alles blieb still. Die Sache mit dem eingebildeten Verfolger ließ ihn erneut misstrauisch werden. Er verschob sein Vorhaben auf später. Eilig verschloss er der Frau mit einem Klebeband den Mund, dann klappte er leise den Kofferraum zu und schaltete das Licht aus. Es wurde stockdunkel in der Scheune. Trotzdem fand sich der Mann blindlings zurecht. Von der Werkbank nahm er einen schweren Schraubenschlüssel. Vorsichtig öffnete er das Tor einen Spalt und spähte hinaus. Mit unruhigen Blicken starrte er hinaus in die Nacht, bis er glaubte etwas gesehen zu haben. Eine Bewegung, einen huschenden Schatten hinter dem Zaun auf dem Feldweg. Vielleicht spielten ihm auch die Fantasie und der aufkommende Herbstnebel einen Streich? Verursachten die dichter werdenden Nebelschwaden diese verdächtigen Erscheinungen? Um sicher zu gehen, musste er nachsehen. Geräuschlos schob er das schwere Holztor weiter auf die Seite und trat nach draußen. Seine Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit. Angespannt lauschend verharrte er an der Scheunenwand. Mit den Augen versuchte er die Nacht und ihre tiefe Schwärze zu durchdringen. Zwischendurch hielt er immer wieder kurzzeitig den Atem an und lauschte. Jedes noch so kleine Geräusch ließ ihn aufschrecken. Sein Herz pochte bis zum Hals. Trotz der nächtlichen Kühle bildeten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Verdammt, war heute etwas schiefgelaufen? überlegte er angestrengt. Dabei fixierte er weiterhin die Umgebung, bereit, auf jeden Laut und jede Bewegung zu reagieren. Dann vernahm er schleifende Schritte im feuchten Gras. Es raschelte leise. Füße berührten Laubblätter. Der Mann war sich nicht sicher, von welcher Seite die Geräusche kamen, hier gab es überall Bäume und Blätter. Er entschied sich weiter bewegungslos stehen zu bleiben und der Dinge zu harren, die da kommen würden. Auf jeden Fall wollte er sich nicht bloß stellen lassen. Der unbekannte Neugierige war dabei, sein Geheimnis zu entdecken, das durfte nicht sein. Jetzt hatte er seinen Verfolger lokalisiert. Ganz vorsichtig ging er drei Schritte in die andere Richtung vom Tor weg. Dann tauchte plötzlich eine dunkle Silhouette auf, die sich zögernd der Scheune näherte. Dicht vor dem Gebäude verharrte die Gestalt. Sie schien zu überlegen, vielleicht auch nur zu zögern oder zu horchen. Bevor der Herangeschlichene das Herannahen / das Näherkommen des anderen bemerkte, machte dieser zwei, drei schnelle Schritte und schlug mit dem Schraubenschlüssel zu. Ein dumpfes Geräusch, ein kurzes Stöhnen, ein zweites Geräusch, die Gestalt sank zu Boden, dann war es wieder Totenstille, als wenn die Natur ringsherum den Atem anhalten würde.

Einen gehörigen Schreck in der Morgenstunde erlebte am Montagmorgen eine Spaziergängerin in Hohenfeld. Wie jeden Morgen wollte sie mit ihrem Vierbeiner an dem kleinen Teich vorbei in die Felder Richtung Sickershausen. Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben spazierte sie durch den kühlen Frühnebel, der zusammen mit dem fallenden Laub den Herbst ankündigte. Nur mühsam setzte sich das aufkommende Tageslicht gegen die feuchten Dunstschwaden durch. Trotz der eingeschränkten Sicht sah sie durchs Geäst an dem Pavillon in der Nähe des Wassers etwas Helles leuchten. Neugierig näherte sie sich, den Hund an der Leine haltend, der genauso interessiert schien und kräftig zog. Beim Näherkommen erkannte sie schließlich einen menschlichen Körper in sitzender Stellung, der mit dem Rücken an dem Pavillon lehnte. Zuerst sah es so aus, als wenn sich dort jemand vor Erschöpfung niedergelassen hätte. Einige zögernde Schritte später blickte sie in das fahle, totenbleiche Gesicht einer jungen Frau. Sie war nur mit Bluse und Jeans bekleidet. Um den Hals trug sie einen dunkelblauen Seidenschal. Es dauerte einige Sekunden, bis die Spaziergängerin begriff, dass sie vor einer Toten stand. Ihr lief ein gehöriger Schauer über die Haut, sie schlug die Jacke noch enger um sich. Eilig kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf.

Schwarzfahrt

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