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In der Güllegrube

Das Haus sowie das gesamte bäuerliche Anwesen in Repperndorf standen seit über zwanzig Jahren leer. Die Alten waren verstorben, die Kinder in alle Winde zerstreut und nicht mehr daran interessiert. Potenzielle Käufer oder Kaufinteressenten hatte es bisher keine gegeben. Jetzt endlich hatte sich ein finanzkräftiger Privatmann gefunden, der das marode Bauernhaus samt Nebengebäude gekauft hatte und sanieren lassen wollte. Noch viel länger als das Anwesen selbst war die Güllegrube nicht mehr in Gebrauch gewesen, nachdem die alten Bauersleute ihre Tiere abgeschafft hatten. Nun sollte sie unter den neuen Besitzern als Wasserzisterne genutzt werden. Ein Spezialunternehmen war beauftragt, die alte, unter dem Hof liegende, etwa 80 Kubikmeter große betonierte Grube zu säubern. Der neue Besitzer wollte damit das Regenwasser von den umliegenden Dachflächen auffangen und als Brauchwasser nutzen. Dazu mussten zuerst die jahrzehntealten Hinterlassenschaften von Mensch und Tier sowie der angeschwemmte Schlick, der sich durch Regen angesammelt hatte, entfernt werden. Das Ganze sollte mit Wasser aufgeweicht und abgesaugt werden. Dazu stieg einer der Arbeiter hinab in die Grube, um das Saugrohr zu bedienen. Wegen des Drecks und möglicher lebensgefährlicher Gase ging dies nur mit entsprechender Schutzausrüstung.

Die Arbeiten hatten kaum begonnen, als man den Mann aus der Grube rufen hörte.

»Schaltet die Pumpe ab! Stoppt die Maschine!«, klang es dumpf unter seiner Atemschutzmaske hervor.

»Was gibt es denn? Warum schreist du so?«, kam die besorgte Nachfrage eines Arbeitskollegen von oben, als der Motor schwieg.

»Verdammt! Oh Scheiße, ich habe was entdeckt.«

»Scheiße!« Der Mann oben lachte. »Natürlich hast du Scheiße entdeckt. Ist ja auch massenweise da unten. Stehst schließlich knietief drin. Du bist mir ein Witzbold.«

»Blödsinn! So meine ich das nicht«, hörte man die aufgeregte Stimme aus der Grube. »Ich … Ich habe etwas anderes …«

»Etwa einen versteckten Schatz?«, rief einer der Arbeiter nach unten.

»Ich glaube … Verflucht, ich glaube … Das ist ein … ein menschlicher Schädel«, hörte man eine aufgeregte und stockende Stimme von unten.

»Was? Bist du sicher? Ist es nicht eher ein Tierkadaver?«

»Nein, nein! Bin mir ziemlich sicher, dass es keiner ist. Da sind noch Haare an dem Schädel.«

»Und wo ist der Rest?«

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich noch im Schlick. Ich bleibe keine Sekunde länger hier unten. Holt mich sofort rauf«, rief er hysterisch.

In Windeseile hatte man das Saugrohr aus der Öffnung entfernt und hievte den Arbeitskollegen wieder ans Tageslicht. Es erschien eine vermummte Gestalt mit Gummistiefeln, wasserdichtem Anzug, Handschuhen und einer Maske auf dem Gesicht. Seine Kleidung war bis zu den Oberschenkeln mit Dreck und Kot verschmiert. Der aufgeweichte Inhalt der Grube stank fürchterlich.

»Wer mag das da unten wohl sein?«

»Keine Ahnung! Ist mir auch ziemlich egal. Puh! Was für ein Schock, ich brauch einen Schnaps.«

»Was machen wir jetzt?«

»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.«

Zuerst tauchte eine Streifenwagenbesatzung auf. Als man den beiden Gesetzeshütern den Sachverhalt erklärte, informierten sie ihren Vorgesetzten und der wiederum die Staatsanwaltschaft. Diese ordnete die Bergung und gerichtsmedizinische Untersuchung des Leichnams an. Eigentlich war es ja gar keine Leiche mehr, sondern nur noch die Überreste in Form eines Skeletts. Mit Hilfe der Gerätschaft der Firma, die die Reinigung vornehmen sollte, versuchte man die menschlichen Knochen freizulegen. Es dauerte bis zum nächsten Tag, bis alle gefunden waren. Der Fund landete auf dem Tisch von Frau Doktor Wollner.

Hauptkommissar Habich traf die Rechtsmedizinerin am Seziertisch an, auf dem das Skelett aus der Güllegrube lag. Inzwischen hatte Doktor Wollner die Knochen vom Schmutz befreit und so sortiert, dass sie wieder die Form eines menschlichen Körpers darstellten. Mit einer an einem Schwenkarm befestigten großen beleuchteten Lupe begutachtete sie jeden einzelnen der Knochen ganz genau. Habich trat vorsichtig näher, um sie nicht von ihrer Arbeit abzulenken. Trotzdem spürte sie seine Anwesenheit und schaute auf.

»Ach, Sie sind es«, sagte sie locker und richtete sich auf. Die Augen auf die Akten in seiner Hand gerichtet meinte sie schelmisch: »Oh, bringen Sie mir eine ganze Mappe voller gastronomischer Empfehlungen?«

Verlegen lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nein, das leider nicht. Es ist eher etwas Arbeit. Aber ich habe Sie nicht vergessen«, beeilte er sich hinzuzufügen, »und wollte Sie für heute Abend einladen.«

Ein warmer, gnädiger Blick trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Fieberhaft überlegte er, wohin er die Pathologin einladen sollte, dann stand sein Entschluss fest. »Darf ich Sie um 19 Uhr abholen oder ist das zu spät?«

»Nein, durchaus nicht. Ich lass mich überraschen, wohin es geht.« Sie nannte ihm ihre Wohnadresse. »So, nun aber zu Ihrem dienstlichen Anliegen.«, Sie zeigte auf die Unterlagen, die Habich immer noch in den Händen hielt. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ach ja, ich habe hier zwei alte Fälle und möchte Sie bitten von der medizinischen Seite her noch mal einen Blick darauf zu werfen. Außerdem möchte ich, dass Sie diese Fälle mit dem aktuellen Fall der toten Tanja Böhmert vergleichen.«

»Vermuten Sie da Zusammenhänge?«

»Genau das möchte ich von Ihnen wissen.«

»Gut, dann werde ich mir die Unterlagen und die Obduktionsberichte in Ruhe anschauen.«

»Was haben Sie denn da?«, fragte Habich, den Blick auf die Knochen gerichtet.

»Womöglich noch mehr Arbeit für Sie und Ihr Team. Der Bericht dazu geht heute Abend noch an die Staatsanwaltschaft und die entscheidet dann, ob ermittelt wird.« Als Habich weiterfragen wollte, kam sie ihm zuvor. »Vielleicht erzähle ich Ihnen beim Essen Details, aber jetzt muss ich weitermachen, sonst wird es nichts mit unserer Verabredung«, meinte sie freundlich, aber rigoros. Wortlos verschwand der Hauptkommissar auf der Stelle. Den abendlichen Termin mit der hübschen Pathologin wollte er nicht gefährden. Erneut schalt er sich einen Narren hinsichtlich seiner Hoffnungen, die in ihm aufkeimten.

»So, was haben wir bis jetzt?«, begann der Hauptkommissar die Besprechung mit seinem Team. »Lasst mal eure Ergebnisse hören.«

Rautner erinnerte noch mal an das, was er von Lackners Arbeitskollegen erfahren hatte, und das war wenig ergiebig. Sein abschließendes Urteil lautete: »Ausschließen können wir ihn nicht, solange wir kein Alibi von ihm haben. Wir sollten ihn jetzt endlich mal auf die Fahndungsliste setzen.«

» Okay, mach das«, gab der Hauptkommissar seine Zustimmung. »Er wird aber nur als Zeuge gesucht, nicht als Verdächtiger.«

»Apropos Alibi«, mischte sich Jasmin ein, »Dieter Ranko, der letzte Ex von Tanja, ist außen vor. Er hat ein wasserdichtes Alibi. Ranko war mit seinem Chef und einem weiteren Kollegen im Auftrag eines Großunternehmens auf Messebau in Paris. Sie haben genau an dem Wochenende dort die Elektrik installiert, als unser Opfer verschwand, und am Wochenende darauf, als sie gefunden wurde, ist er erst am Sonntag von Paris zurückgekommen.«

»Gut«, nickte Habich, »einer weniger. Was macht die Fahrerliste?«

»Die Kollegen und ich haben alles telefonisch in die Wege geleitet. Was an Unterlagen und Namenslisten zu bekommen war, trifft spätestens morgen per Fax oder Mail hier ein«, antwortete Jasmin.

Schössler hatte dem Team mehrere uniformierte Beamte zur Seite gestellt, die mithelfen sollten, die zu erwartende große Anzahl der Taxifahrer zu befragen.

»Dann nehmt ihr euch noch einmal die Zeugen der alten Fälle vor. Stellt Fragen wegen der Taxis, quetscht sie ein weiteres Mal über den Abend und das Umfeld der Toten aus. Vielleicht fällt ihnen etwas ein, was sie bisher übersehen oder vergessen hatten. Ich nehme mir die drei Freunde vor, die in Tanjas und Valeries Begleitung waren.«

Es wurde ein Tag mit vielen Telefonaten und Gesprächen.

»Nix, einfach gar nix Neues in Erfahrung zu bringen«, stöhnte Jasmin. Sie hatte den ältesten Mordfall übernommen. »Zwei der ehemaligen Zeugen konnte ich gar nicht ausfindig machen, bei allen anderen waren die Erinnerungen verblasst. Meistens hieß es: schon zu lange her. Ich befürchte die Bemühungen waren umsonst.«

»Bei mir ähnlich«, gestand Rautner. »Die, mit denen ich gesprochen habe, konnten mir keine neuen Details berichten. Sie verwiesen mich auf ihre damaligen Aussagen, mehr konnte ich nicht herausholen.«

»Auch ich bin nicht weitergekommen. Es gibt keine neuen Anhaltspunkte.« Etwas resigniert ließ Habich den Kugelschreiber auf seinen Schreibtisch fallen und lehnte sich zurück. »Tanjas Freunde haben nichts gesehen, nichts gehört und keine Vorstellung, wer das Tanja Böhmert angetan haben könnte.«

»Übrigens, ich wollte noch etwas wegen Lackner …« Jasmin wurde durch das anspringende Faxgerät unterbrochen. Sie stand auf, vergaß den Satz zu vollenden, holte sich die Blätter und überflog sie.

»Was sind das für Faxe?«, fragte Habich.

»Die ersten Fahrerlisten«, antwortete sie und las weiter.

»Wolltest du nicht eben etwas über Lackner erzählen.«

»Ach nee!«, hörten sie Jasmin unbeirrt sagen. »Ihr glaubt nicht, wer auf dieser Liste steht.«

»Ich hoffe, du wirst es uns gleich verraten«, sagte Chris mit ironischem Unterton, »ansonsten müssen wir …« Jasmins Blick ließ ihn verstummen und er schluckte das Wort »raten« hinunter.

»Hier taucht der Name Peter Lackner auf …«

»Unser Gesuchter?«

»Wenn es nicht ein Namensvetter ist, dann …«

»Warte mal! Der ist Taxi gefahren? Wann und wo?«, stoppte Habich Jasmins Ausführungen.

»Er hat den Taxischein seit …, seit acht Jahren.«

»Also etwa ab der Zeit, als der erste Mord passierte. Wo ist er gefahren?«

»In Würzburg. Mehr weiß ich nicht. Den Unternehmer, bei dem er fährt oder gefahren ist, kenne ich nicht. Deren Meldungen fehlen noch. Diese Unterlagen sind von der Behörde und sie listen die aktuellen Inhaber eines Taxischeines auf.«

»Das wiederum bedeutet, er hat noch einen Schein und könnte noch aktiv sein.«

»Laut diesen Daten hier, ja. Aber genau erfahren wir es, wenn die Taxiunternehmer uns ihre derzeitigen Fahrer benannt haben.«

»Na, das ist doch schon mal ein Anfang. Dann hoffe ich, wir bekommen alle notwendigen Informationen bis morgen. Mach noch mal Dampf bei den Unternehmern.« Er erhob sich. »Und jetzt ist für heute Schluss.«

Jasmin und Chris schauten sich an. Es war für sie absolut neu, dass ihr Chef pünktlich Feierabend machte. Rautner grinste und bemerkte: »Du wirst doch nicht irgendetwas vorhaben?«

»Und wenn, dann ginge es dich nichts an«, maßregelte Habich seinen jungen Kollegen. »Auch wenn es dich überrascht, ich habe ein Privatleben.«

»Kaum vorstellbar.« Rautner schüttelte amüsiert den Kopf. Er ließ sich von dem Ton seines Chefs nicht irritieren. »Du wirkst so … so …«

»Bemüh dich nicht, die richtigen Worte zu finden«, winkte Habich ab und verschwand durch die Tür.

Pünktlich um 19 Uhr stand Hauptkommissar Habich mit seinem Wagen bei der angegebenen Adresse in der Kettelerstraße. Genauso pünktlich trat Dorothea Wollner aus dem Haus und stieg zu ihm ins Auto. Sie sah umwerfend aus in ihrem lässigen Look aus Jeans, leichtem Pullover und Lederjacke. Selbst im Jogginganzug würde sie manche Frau im Abendkleid ausstechen, fand Habich. Diese Beurteilung war natürlich eher seiner Gefühlslage zuzuordnen. Er hatte kein Auge von ihr lassen können auf dem Weg vom Haus zu seinem X3. Sie hatte es bemerkt und fragte nun, als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte: »Nehmen Sie mich so mit? Ich fühle mich in legerer Kleidung am wohlsten.«

»Ich würde mit Ihnen sogar so zum Wiener Opernball gehen«, versuchte er ein Kompliment. Dorothea Wollner quittierte es lächelnd.

»Der Weg dorthin wäre mir etwas zu weit, da ich ganz schön hungrig bin«, gestand sie.

»Dann will ich Sie schnellstens von Ihrem Leiden erlösen«, bemerkte Habich und gab Gas.

Der Weg vom Frauenland hinunter in die Stadt war zu der abendlichen Stunde keine langwierige Angelegenheit. So langsam beruhigte sich der Feierabendverkehr, denn die meisten Berufstätigen und die, die einkaufen waren, strömten aus der Stadt hinaus. In der Ludwigstraße fand der Hauptkommissar einen freien Parkplatz. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Ziel. Die Tatsache, dass Habich im Restaurant mit Namen begrüßt wurde, zeigte seiner Begleitung, dass er hier öfters verkehrte. An einem kleinen Seitentisch mit zwei bequemen Sitzbänken nahmen sie Platz. Ohne Umschweife widmeten sie sich der Speisekarte, die ihnen der Kellner gleich nach der Ankunft vorgelegt hatte.

Beide nahmen als Vorspeise Kürbis-Ingwer-Suppe. Die Rechtsmedizinerin wählte Rinderfiletspitzen auf Wokgemüse in Sojasauce mit Kartoffelspalten für den Hauptgang, der Hauptkommissar bevorzugte die Viertel Bauernente mit Kartoffelklößen und Wirsinggemüse. Dazu bestellte Habich für sich und seine Begleitung eines seiner Lieblingsgetränke, einen feinherben fruchtigen Bacchus.

»Trinken wir darauf, dass Ihnen meine erste Empfehlung zusagt«, meinte Habich, nachdem die Getränke vor ihnen standen, und hob sein Glas.

»Mir gefällt schon mal das Ambiente«, nickte Frau Doktor Wollner mit einem Blick in die Runde. »Wenn jetzt das Essen noch so gut schmeckt, wie es sich auf der Karte gelesen hat, bin ich höchst zufrieden.«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Nachdem sie angestoßen hatten, probierte Habichs Begleitung vorsichtig den Frankenwein. Aus der Lippenbefeuchtung wurde ein zweites Nippen und schließlich ein kräftiger Schluck.

»Habe ich Ihren Geschmack getroffen?«, fragte ihr Gegenüber und deutete auf das Getränk.

»Ja, durchaus! Der Wein ist sehr köstlich«, sagte sie, während sie das Glas abstellte. Sie stützte die Ellenbogen auf, verschränkte die Hände und legte ihr Kinn darauf. »Sie scheinen hier Stammgast zu sein.«

»Sagen wir, ich gönne mir hier hin und wieder ein Essen und einen guten Wein.«

»Erzählen Sie mir etwas über sich. Sie sind doch der Sprache nach auch kein Franke.«

Nur zögernd begann er zu erzählen, aber das Lächeln der Pathologin war entwaffnend, man konnte ihr nichts abschlagen. Nach der Kürbis-Ingwer-Suppe wusste sie so viel über den Privatmenschen Habich, soviel dieser bereit war offenzulegen. Als sie sich dem Hauptgang zuwendeten, erfuhr Dorothea Wollner mehr über Habichs beruflichen Werdegang. Dass er als junger Kommissar über den Boxsport vor über zwanzig Jahren in Würzburg seine neue Heimat gefunden hatte. Ab der Nachspeise – Frau Doktor Wollner hatte Crème brûlée mit marinierten Beeren und Vanilleeis gewählt, Habich entschied sich für die Käsevariation mit Feigensenf – war es an der Rechtsmedizinerin, von ihrer Vergangenheit zu plaudern. Sie stammte aus Niedersachsen, hatte in Hamburg Medizin studiert und sich in Berlin zur Fachärztin für Rechts- oder Gerichtsmedizin in den Bereichen Pathologie, Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie weitergebildet.

»Und wo waren Sie schon überall im Einsatz?«, fragte Habich.

»Meine erste Tätigkeit war in Magdeburg. Nach drei Jahren bekam ich eine Anstellung in Hannover, sozusagen in meiner Heimat.«

»Wie sind Sie denn dann hier zu uns, quasi in die Provinz ,geraten?«

Nachdenklich schleckte die Frau ihren Löffel ab. »Schuld daran ist ein etwas unrühmliches Kapitel in meinem Leben. Obwohl Schuld … Schuld kann man es nicht nennen. Anlass war eine Scheidung … meine Scheidung. Na ja …, vielmehr der Abstand, den ich danach gewinnen wollte. Da kam mir diese Stelle hier gerade recht.«

»Oh, das tut mir leid!«

»Muss es nicht. Sie haben nichts damit zu tun.« Sie hob das Weinglas und prostete Habich zu. »Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Ich möchte mir den schönen Abend nicht durch solche Dinge vermiesen lassen.«

»Dann wollen wir lieber noch ein bisschen von Ihrer neuen Heimat sprechen. Ich erzähle Ihnen etwas über Würzburg, Unterfranken und den Wein.«

An diesem Abend sollte Dorothea Wollner in Sachen Heimatkunde noch einiges Geschichtliche aus der Region und über die Region zu hören bekommen. Es war eines der Lieblingsthemen des Hauptkommissars. Nach dem zweiten Schoppen wechselte Habich zu Mineralwasser, da er noch fahren musste. Die Rechtsmedizinerin dagegen ließ sich auch noch ein drittes und viertes Glas Wein munden.

»Jetzt haben wir über so viel private Dinge gesprochen, nun muss ich aber mal dienstlich werden. Wollten Sie mir nicht etwas über das Skelett auf Ihrem Serviertisch erzählen?«

»Ich dachte, wir könnten heute Abend auf berufliche Themen verzichten.« Die kritische Bemerkung musste sich Habich gefallen lassen.

»Kann ich eigentlich schon«, verteidigte er sich, »aber ab und zu ist die Neugier einfach größer. Verraten Sie mir wenigstens ein bisschen, was die Knochen zu bedeuten haben.«

»Aber nur damit Sie heute Nacht beruhigt schlafen«, lachte sie angeheitert. »Das Skelett hat man in einer Jauche- oder Güllegrube gefunden. Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung angeordnet, um festzustellen, ob es ein natürlicher oder gewaltsamer Tod war …«

»Und wie lautet Ihr Urteil?«

Dorothea Wollner schüttelte leicht den Kopf. »So hundertprozentig zweifelsfrei kann ich es nicht sagen. Knochen geben weniger Spuren her als ein intakter Körper, aber«, betonte sie, »ich tendiere dazu, dass da nachgeholfen wurde. Vielleicht auch ein tragischer Unfall, der vertuscht werden sollte. …«

»Wie kommen Sie zu der Schlussfolgerung?«

»Die Tote, es handelt sich auf jeden Fall um die Überreste einer weiblichen Person, zeigt mehrere Verletzungen auf. Die eindeutig tödliche Verletzung war der Genickbruch. Dazu kommen aber noch ein Arm- und ein Beinbruch …«

»Alles zur gleichen Zeit?«

»Definitiv gleichzeitig entstanden. Ich tippe daher eher auf einen Sturz mit tödlichem Ausgang. Vielleicht von einer Treppe … einer Erhöhung … aus einem Fenster … oder … oder! Es könnte so vieles sein.« Sie hob hilflos die Hände. »Ob mit oder ohne Fremdeinwirkung kann ich genauso wenig sagen.«

»Hmm!«, brummte der Hauptkommissar. »Die Beseitigung der Leiche in der Grube lässt wohl mehr auf Ersteres schließen.«

»Jetzt wird es spekulativ.«

»Natürlich müssen wir Spekulationen und Überlegungen anstellen, solange wir keine Tatsachen und Fakten kennen. Wenn man in Erfahrung bringen kann, wer die Tote ist, kann man vielleicht eher Vermutungen über die Umstände des Todes anstellen.«

»Im Endeffekt zählen nur Beweise.«

»Ja, ja, ganz klar. Aber durch das Lebens- und Familienumfeld erschließen sich einem wieder ein paar neue Aspekte und Ansatzpunkte.«

»Aspekte hin oder her, ich glaube, der Wein steigt mir zu Kopf und in die Beine«, gab Frau Doktor Wollner unumwunden zu. »Wir sollten diesen schönen Abend so langsam beschließen, sonst habe ich morgen früh Probleme.«

Habich ahnte, von welchen Problemen seine Begleiterin sprach, und lächelte verständnisvoll. »Wenn Sie den fränkischen Wein nicht gewohnt sind, kann er schon unverhofft unangenehme Auswirkungen haben.«

Während die Pathologin die Toilette aufsuchte, gab Habich der Bedienung ein Zeichen, dass er bezahlen wollte. Als sie zurückkam, war die Rechnung beglichen.

»Wenn Sie möchten, können wir uns auf den Weg machen«, sagte er und leerte sein Glas.

»Wir müssen doch noch bezahlen.«

»Das ist schon erledigt.«

»So war das aber nicht gedacht«, protestierte Dorothea Wollner, »dass Sie mich zum Essen einladen. Eigentlich sollte es andersherum sein. Sie haben sich schließlich aufgeopfert mit mir auszugehen.«

»Na ja, eine Aufopferung würde ich es nicht nennen. Es war mir ein Vergnügen, das wir gerne jederzeit wiederholen können. Ich habe noch mehr gastronomische Empfehlungen für Sie. Also können Sie sich immer noch revanchieren.«

Vor der Tür machte die Rechtsmedizinerin einen ungeschickten Schritt und stieß gegen ihren Begleiter. Mit einem »Hoppla, jetzt bin ich gestolpert« entschuldigte sie sich. Habich lächelte, da er den Grund der Unsicherheit sofort erkannt hatte. Die frische Luft verstärkte die Wirkung des Weines und so bot er Frau Wollner den Arm. Sie nahm dankend an und hakte sich bei ihm ein. Ohne weitere Schwierigkeiten schafften sie die wenigen Schritte bis zu seinem Wagen. Die Fahrt zurück ins Frauenland verlief in andächtigem Schweigen, der Abschied war kurz. Dorothea Wollner verzichtete mit den Worten »Das schaffe ich schon« vehement auf seine Begleitung bis zur Tür. Geduldig wartete er im Wagen, bis sie im Haus verschwunden war, dann erst fuhr er davon.

Schwarzfahrt

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