Читать книгу Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit - Alexander Reeh - Страница 12
Reise unseres Lebens
ОглавлениеEine Familie wagt das große Abenteuer, verkauft all ihren Besitz und segelt für fünf Jahre um die Welt, um ausgerechnet in Deutschland »Schiffbruch« zu erleiden …
Der Atlantik ist das Ende aller Ausreden. Vor uns liegen 5 000 Kilometer Wasser. Bis zu den Kanarischen Inseln hatten wir uns von Bremen an der Küste entlang gehangelt. Aus Frust über unser bequemes aber langweiliges Leben als Kleinfamilie hatten wir uns die Frage gestellt, wie wir denn »eigentlich« gerne leben würden. Der Wunsch meiner Frau Carola war ein naturverbundenes Leben auf einem Bauernhof. Ich wollte einfach mal ein paar Jahre auf einem Schiff leben und aus Deutschland raus. Die Entscheidung fällt durch meine Frau: »Lieber ein verrücktes Leben auf einem Boot, als ein verzweifelter Mann in einer schönen Wohnung an Land.« Wir wollen die Zeit bis zur Schulpflicht der Kinder nutzen (damals 3 Jahre und 18 Monate alt). Verkaufen all unseren Besitz und tauschen Job und Versicherungen gegen ein kleines Boot und eine Reisekasse von 50 000€.
»Wollt ihr das Leben eurer Kinder aufs Spiel setzen?« ist die nicht sehr ermutigende, aber typische Reaktion unserer Umgebung. Selbst mein segelbegeisterter Vater wiegt bedenklich den Kopf: »Die See ist ein großer Gleichmacher …« Das er Recht behalten wird, merken wir erst sehr viel später. Auf den Ozeanen der Welt trifft man tatsächlich nur eine bestimmte Sorte Menschen: Die, die ihre Träume zu verwirklichen versuchen. Die Bedenkenträger bleiben zuhause. Nur unser Hausarzt ist begeistert: »Was, um die Welt fahren wollt ihr? Ist ja toll.« Dabei wollten wir zu Anfang der Reise gar nicht um die Welt segeln, sondern nur zwei Jahre raus aus Deutschland. Er stattet unsere Bordapotheke für alle erdenklichen Notfälle aus. Wir sind keine Draufgänger, eher vorsichtige Menschen, und die Beschäftigung mit all den Dingen, die auf dem Meer passieren könnten, lässt uns mehr als einmal an unserem Entschluss zweifeln. Wir suchen uns ein älteres, sehr seetüchtiges und stabiles Schiff aus, kaufen neben der üblichen Sicherheitsausrüstung noch ein Satellitentelefon, um notfalls auch mitten auf dem Atlantik einen akuten Blinddarm per Fernanleitung operieren zu können. Am Ende brauchen wir auf der ganzen Reise aber nur ein paar Klammerpflaster.
Nun ist die Angst wieder da: Wir liegen startklar am Pier in La Gomera, bis unters Dach ist das Boot vollgepackt mit Lebensmitteln und Wasser für die kommenden vier Wochen auf dem Atlantik. Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Habe ich das Recht, meine Familie einer solchen Belastungsprobe auszusetzen? Woher nimmt meine Frau nur ihr Vertrauen in mich und das Schiff? Die Kinder bleiben gelassen: Segelt man halt mal über den Atlantik.
Sie hatten sich von uns allen am schnellsten an das Leben auf einem Schiff gewöhnt. Falls wir mal gerade nicht vor einem der vielen schönen Strände ankern, die auf der Reise als Ersatz für die heimische Sandkiste herhalten müssen, vertreiben die zwei sich die Zeit auf unserem ca. 10 Quadratmeter großen schwimmenden Zuhause mit Knetwachs, Malstiften, Papier und vielen selbsterzählten Geschichten. Wir gestehen ihnen das Recht auf Langeweile zu, und so erschaffen sie aus dem Wenigen, was an Bord Platz findet, immer neue Reiche der Fantasie. Radio, Gameboy oder Fernsehen gibt es nicht, dafür ferne Horizonte, fremde Länder und Zeit im Überfluss.
Dann bläst der Passatwind alle Gedanken ans Umkehren davon. Die Wellen türmen sich für uns Ostseesegler zu beeindruckender Größe auf, und bald rauschen wir durch eine gewaltige, schäumende Wasserwelt. Das Land ist längst hinter dem Horizont verschwunden, und unser Boot zieht stetig vom Wind getrieben nach Westen. Die Tage verschwimmen, und wir verlieren das Gefühl für die Zeit. Manchmal hängt eine schimmernde Goldmakrele an der Angel, dann unterbricht ein Festessen den geruhsamen Bordalltag.
Nachts funkeln die Sterne unwirklich klar über uns, und unter uns glüht das Meer grünlich in unserem Kielwasser. Delfine kommen regelmäßig zu Besuch, und selbst an den Schlafmangel, bedingt durch das notwendige Wachegehen auch in der Nacht, gewöhnen wir uns nach einiger Zeit. Tagsüber ist wegen der Kinder an Schlaf nicht zu denken. Nachts ist alle zwei Stunden Wachwechsel. Ich kann in meiner ersten Wache kaum die Augen aufhalten, aber sobald ich in der Koje liege, bin ich hellwach. Fühle mich ausgeliefert. Es fällt mir schwer, Vertrauen in meine Frau zu haben. Ständig habe ich Angst, dass sie vergisst, den Sicherheitsgurt zu benutzen. Wir leben ganz existenziell: Nur wer Vertrauen hat, kann wirklich schlafen, wenn der andere Wache geht! Als nach 22 Tagen auf See die Karibikinsel Martinique am Horizont auftaucht, ist für alle an Bord klar: Wir fahren weiter in den Pazifik!
Wie auf einer Perlenschnur reihen sich paradiesische Inseln aneinander: Galapagos, Marquesas, Tahiti, Huahine, Tonga, Neuseeland. Doch selbst mitten in der größten Schönheit bin ich unzufrieden. Die große Freiheit nagt an mir. Ich vermisse meinen Job, leide unter der scheinbaren Sinnlosigkeit meines Daseins, dem selbstgemachten Druck, glücklich sein zu müssen, jetzt, wo ich im Paradies angekommen bin. Nun bin ich nur noch Kapitän, Ehemann, Vater. Im Buch »Die Gabe der Seenomaden« von Milda Drüke heißt es: »Nicht das Schiff ist eng, es ist die innere Enge der Menschen, die sie nicht an Land zurücklassen, ihre Weigerung im Verhalten des Partners den Spiegel zu sehen, ihre Neigung, Schuld grundsätzlich bei den äußeren Verhältnissen zu suchen, wo es doch gar nicht um Schuld, sondern um eigene Verantwortung geht.«
Konflikte häufen sich, ich bin zu ungeduldig, verspannt, kann meine Vorstellungen nicht loslassen. Dabei ist das Meer ein guter Lehrer: ständig in Veränderung, zwingt es uns immer neu, uns seinem Rhythmus anzupassen und unsere kleinen menschlichen Pläne seinem großen Atem unterzuordnen.
Die Kinder dagegen sind zufrieden: Sie schwimmen begeistert im warmen Wasser, tauchen nach Muscheln, sammeln Kokosnüsse am Strand, rudern mit dem Beiboot zu einer neben uns ankernden amerikanischen Yacht, und können nach nur drei Wochen Englisch. Beneidenswert. Jedes Mal, wenn wir eine Inselgruppe hinter uns lassen, weinen sie bittere Tränen zum Abschied, denn fast überall haben sie rasch Freunde unter den einheimischen Kindern gefunden. Aber schon nach wenigen Tagen weicht die Trauer der Vorfreude auf ein neues Land, einen neuen Kontinent.
In Neuseeland haben wir zum ersten Mal auf der Reise Heimweh. Alles ist so europäisch, und wir realisieren: von hier aus geht es in jede Richtung zurück. Sollen wir bleiben`? Wir fühlen deutlich unsere eigenen Wurzeln, und, obwohl wir uns hier endlich einmal gut verständigen können, haben wir Sehnsucht nach unserer alten Heimat. Wir machen Kassensturz und beschließen, noch im selben Jahr zurück nach Deutschland zu segeln.
Über Australien, Indonesien, Thailand und das Rote Meer geht es in weniger als einem Jahr zurück nach Europa. Aber dann macht uns der Wind wieder einen Strich durch die Rechnung: von Ägypten kommend, wollen wir rasch nach Gibraltar segeln, als es immer mehr aufbrist. Der Wind kommt von vorne, nimmt Sturmstärke an. Wir geben auf und laufen die türkische Küste an. Dort finden wir eine winzige griechische Insel, noch 120 Kilometer östlich von Rhodos gelegen, Kastellorizo. 200 Menschen, kaum Autos, viele Fischer, Handwerker, Künstler. Und eine Schule. Nach nur drei Tagen habe ich einen Job als Tischler. Die Kinder gehen in die griechische Dorfschule. Carola lernt von den alten Fischern die Kräuter der Insel kennen. Fast werden wir heimisch. Aber die Zukunft wird in Deutschland gemacht, und nachdem wir gesehen haben, wie verheerend die Auswirkungen des westlichen Lebensstils im Pazifik und in Asien sind, wo ganze Inselreiche im Müll der sogenannten »Zivilisation« ersticken, fühlen wir uns verantwortlich und wollen uns nicht in unserem griechischen Paradies verstecken.
Carola fliegt allein nach Deutschland auf Erkundungstour. Dann ist mein Schwiegervater am Telefon: Carola liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte wissen nicht, ob sie die Nacht überleben wird. Was als kleiner ambulanter Eingriff in einem vermeintlich sicheren Bremer Krankenhaus geplant war, wird (durch den Fehler eines Arztes?) zu einer lebensgefährlichen Verletzung der Aorta mit zweimaliger Notoperation. Nach Stunden gelingt es endlich, die Blutung zu stoppen. Sie überlebt, aber an eine Rückkehr auf unsere Insel ohne Arzt und Krankenhaus ist nicht zu denken. Worauf wir so traumwandlerisch sicher die letzten fünf Jahre verzichten konnten, das brauchen wir jetzt ausgerechnet in Deutschland: Gute medizinische Versorgung vor Ort.
Nach einem Jahr ist Carola soweit wieder hergestellt, dass ich unser Boot aus Griechenland zurücksegeln kann. Es wird die schwerste Etappe der Reise. Kurz vor Bremen kreuze ich allein unseren alten Kurs. Dankbarkeit mischt sich in meine wehmütigen Erinnerungen. Dankbarkeit für die Schönheit der Welt. Und Dankbarkeit für meine mutige Frau. Ohne sie würde ich immer noch in unserer Bremer Wohnung sitzen und von der großen Freiheit träumen.
Ben Hadamovsky
Das Buch zur Reise: »Mit allen Wassern gewaschen”
unter www.hadamovsky.de