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Nordatlantischer Ozean, Regierungsmaschine/19.15 Uhr (GMT)

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Meine Geschichte? Die hatten sie doch nicht alle! Mir gefror das Blut in den Adern. „Wie bitte? Was für eine Geschichte? Ich bin Barkeeper aus Croydon! Mit allem Respekt, aber das klingt für mich doch ein bisschen weit hergeholt.“

Callahan wartete ab, bis ich meine Tirade beendet hatte. Dann erklärte er: „Nun, so steht es tatsächlich geschrieben. Wir befassen uns seit geraumer Zeit mit diesen Aufzeichnungen und sie stimmen tatsächlich mit den Ereignissen des heutigen Tages überein. Wir nennen sie die Prophezeiungen der Wiederkehr. Zuerst dachten wir, dass sie ursprünglich ein Teil der Schriften der Apokalypse waren, aber sie stellten sich als viel älter heraus. Die darin enthaltenen Informationen werfen unsere Geschichtsschreibung und unser Weltbild vollkommen über den Haufen.“

Jedes seiner Worte machte mich noch unruhiger. Apokalypse? Prophezeiungen? „Und da steht was über mich? Was denn, verdammt noch mal?“, platzte ich heraus.

Callahan sprach ungerührt weiter: „Also, Mr Cole: In den Rollen ist die Rede vom Tag, an dem der Eine wiederkehrt. Es steht geschrieben, wenn die Erste zurückkehrt, werden alle den Einen erkennen. Sie werden ihn sehen, fühlen und spüren. Er, der immer währt, muss sich dann bereitmachen. Am Tag des Blutmondes muss er durch das Sonnentor gehen. Und dieses Sonnentor steht unserer Forschungen nach in Südamerika.“

„Und das soll meine Geschichte sein? Das ist doch Bullshit. Das muss gar nichts mit mir zu tun haben.“ Ich sprang auf, da ich mich auf meinem Sessel zunehmend unwohl fühlte. Dieser Raum und dieses Flugzeug machten es nicht unbedingt besser, ich konnte nirgendwo hin. Als ich mich geradezu gehetzt umsah, konnte ich in den Gesichtern nichts lesen. Was dachten sie von mir? Lediglich Paul schien von dem ganzen Vortrag sichtlich amüsiert und zwinkerte mir zu. Ich atmete tief durch. Wenn Paul keine Angst hatte, dann war es vielleicht doch nicht so schlimm.

„Was haben Sie denn erwartet?“, fragte Callahan zurück, und zum ersten Mal war ihm die Anspannung, unter der er stand, anzuhören. „Dass man Ihren Namen und Ihre Adresse in Babylonischer Keilschrift findet? Sie sind heute unter allen Menschen auf Erden ausgewählt worden, wie es geschrieben steht, und alles, was Sie zu sagen haben, ist Bullshit? Halten Sie das für eine angemessene Reaktion? Es gibt hier keine Zufälle, Mr Cole. In den Rollen steht viel über das Blut des Einen. Wir nehmen an, dass hiermit die Blutlinie gemeint ist …“

„Diese Schriften sind doch uralt“, unterbrach ihn Paul. „Bestimmt in sowas wie … wie hieß das noch bei Indiana Jones? Altaramäisch oder so? Woher wissen Sie das denn alles so genau?“

„Sie haben recht, die Schriften sind leider sehr schwer zu übersetzen, da sie in fast 40 uralten Sprachen verfasst sind, wobei wir die meisten zuvor nicht einmal kannten“, gab Callahan zu. „Aber dennoch – auch dafür gibt es Experten. Und wir hatten ja einige Jahrzehnte Zeit, die Schriften zu entschlüsseln.“

Ich ging langsam rückwärts, bis ich an die Wand stieß. Trotz Isolierung war sie eiskalt, die Kühle drang durch mein Hemd und ließ mich wieder etwas klarer denken. „Das erklärt immer noch nichts, denn keiner meiner Verwandten war jemals in Südamerika, soweit ich weiß. Ehrlich, nicht mal außerhalb von Europa.“

„Ihre Mutter, Mr Cole“, sagte der Professor.

„Was soll mit ihr sein? Sie war Spanierin.“

„Das ist richtig, aber Ihre Verwandtschaft mütterlicherseits nicht. Wir haben Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass einige Ihrer Verwandten Bolivianer waren.“

Meine Mutter hatte nie über ihre Familie gesprochen. Sie hatte nur einmal erwähnt, dass sie in einem Waisenhaus großgeworden war, aber wo, wusste ich nicht. „Und was bitte ist das Sonnentor?“, fragte ich.

„Es handelt sich hierbei um ein Tor in einem Tempelkomplex in Tihuanacu in Bolivien. Dorthin sind wir gerade unterwegs.“

Bolivien. Na, endlich mal etwas Greifbares. „Und warum die Eile?“

„Weil wir Grund zu der Annahme haben, dass Sie der Letzte Ihrer Blutlinie sind und die, nun ja, die anderen einfach da erscheinen, wo Sie sind.“

Den Teil verstand sogar ich: „Ach so, und ich war in London? Deswegen tauchte die Frau dort auf?“

„Genau – und ein Platz mitten in einer Großstadt ist der falsche Ort. Wir bringen Sie nach Bolivien, denn der nächste Blutmond ist in fünf Tagen!“

Okay – damit war mein Verständnis wieder dahin. „Hä? Was passiert dann, in Thicudings … in dem Tempel?“

Callahan deutete auf seine Notizen. „Hier sind die Rollen sehr detailliert: Wir müssen den Ort zur großen Wiederkehr vorbereiten. In den Schriften ist genau festgehalten, wie der Tempel aussehen muss. Es gibt genaue Vorgaben über den Verlauf der Vorbereitungen. Was ja ganz faszinierend ist für uns Wissenschaftler: Alle Kulturen der damaligen Zeit wussten von diesen Zusammenkünften. Sie haben das Wissen davon von Generation zu Generation weitergegeben und irgendwann niedergeschrieben. Dadurch, dass diese Treffen nur in sehr großen Zeitabständen stattfanden, gerieten die Schriften aber dennoch über die Jahrhunderte in Vergessenheit. Wir können von Glück reden, dass wir welche gefunden haben, denn ohne die Angaben in den Rollen hätten wir keine Chance, die nun anstehenden Vorbereitungen durchzuführen.“ Er sah mich erwartungsvoll an.

Ich zuckte mit den Schultern. Es war mir immer noch nicht klar, warum ich – ich, David Cole, da mit drinhing. Was das mit meiner Blutlinie zu tun haben sollte. Wenn das alles wahr war, dann hätte meine Mutter irgendwann einen Ton gesagt, oder? Callahan sah mich immer noch an. Erwartete er im Ernst eine Antwort von mir?

Da rettete mich Karen. „Meine Herren, der Premier ist jetzt zugeschaltet“, verkündete sie und schaltete einen großen, in die Wand eingelassenen Bildschirm an.

Der Premierminister hatte tiefe Ringe unter den Augen, der erste Bartschatten zog sich über seine Wangen. „Guten Abend, ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Flug.“

Wir nickten alle wie die Schulkinder.

„Ich nehme an, Professor Callahan hat Sie bereits aufgeklärt.“

„Hallo, Matthew, ja, soweit sind alle im Bilde“, sagte Callahan. „Mr Cole wirkt noch etwas zweifelnd, aber wir haben noch genug Zeit, um seine Fragen zu beantworten.“ Er warf mir ein schiefes Lächeln zu.

Ich verschränkte trotzig die Arme, verkniff mir aber einen bösen Kommentar.

„Danke, James, was wären wir ohne dich? Meine Damen und Herren, ich wollte Ihnen ein kurzes Update zu der momentanen Lage geben. In den meisten Ländern der Welt regiert im Moment leider immer noch die Angst, was man angesichts der Ereignisse sehr gut verstehen kann, und viele haben mit dramatischen Zuständen zu kämpfen. In fast jedem europäischen Land wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, viele flüchten sich in die Kirchen und Moscheen weltweit, andere plündern und brandschatzen. So steht gerade die Innenstadt von Warschau in Brand, und in Moskau liefert sich die Bevölkerung Straßenschlachten mit dem Militär. Die Regierungschefs weltweit rufen zur Einigkeit auf und versuchen die Menschen zu beruhigen, doch oft ohne Erfolg. In manchen Ländern sind so bereits alle politischen Strukturen zusammengebrochen. Viele afrikanische Staaten sind praktisch führungslos. Wir tun dennoch, was wir können, um die Ordnung wiederherzustellen. Die UNO hat bereits Truppen entsendet – aber ich denke, wir können das nur erreichen, wenn wir den Menschen die Hoffnung wiedergeben. Und damit zu Ihnen: Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Tempel wiederaufzubauen. Und genau das werden wir tun. Jeder weiß, dass es hier um mehr geht als um Profit, dass wir wohl keine zweite Chance bekommen. Die Region direkt am Tempelkomplex wurde mit allem Notwendigen versorgt und wir haben eine funktionierende kleine Siedlung für Sie, die Organisationsmitglieder und das Architektenteam, aufgebaut. Etwa drei Kilometer von der Kultstätte entfernt befindet sich das Hauptlager. Hier werden gerade Containerunterkünfte und Zelte für die Bautrupps, Techniker, das Militär und alle anderen Helfer aufgestellt. Von Seiten der bolivianischen Regierung aus wurde vor drei Stunden mit Grabungs- und Bergungsarbeiten am Tempelkomplex begonnen. Zwei der besten Architekten unserer Zeit sind auch schon auf dem Weg dorthin und koordinieren bereits jetzt die Vorbereitungen und Abläufe.

Sämtliche Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, werden momentan aktiviert und weltweit koordiniert, um unsere Operation zum Erfolg zu führen.“ Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Ich hoffe, es stimmt wirklich, dass die Menschheit immer dann am besten wird, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht.“ Der Premier machte eine Pause. Er sah mich direkt an und nickte kaum merklich. „Was ich Ihnen jetzt mitteile, werden Sie mir nicht glauben. Ehrlich gesagt, kann ich es selbst kaum begreifen, aber dadurch haben wir erfahren, dass wir mit Sicherheit am richtigen Ort sind: Satellitenbilder zeigen es ganz deutlich. Schon seit Wochen treffen um die Tempelanlage herum Vertreter der verschiedensten Volksgruppen und Stämme aus aller Welt ein.“ Ich sah mich um. Selbst Paul war die Kinnlade heruntergeklappt, und er schien etwas sagen zu wollen, hielt sich aber noch zurück.

„Sie waren teilweise bereits Monate unterwegs, und es werden stündlich immer mehr. Amnesty International und Mitarbeiter von Misereor, die vor Ort Hilfsprojekte unterstützen, haben wohl bereits vor Monaten erstmals darauf aufmerksam gemacht, dass sich kleinere Gruppen auf den Weg machten, doch hat man das damals als eher bedeutungslos abgetan. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Und nun kommt das Wichtigste: Sie alle berichten, sie würden von einer inneren Stimme zum Sonnentor geleitet.“

„Premierminister, eine Frage …“ Paul ging ein paar Schritte vor zum Bildschirm.

Harper hob die Hand. „Moment noch, Mr Richards. Ich bin gleich fertig. Wie mir berichtet wurde, hat sich auch das Verhalten der Tiere eklatant verändert. Immer mehr Tiere verschiedenster Arten kommen in die Region, die normalerweise nicht gerade bekannt ist für ihre Artenvielfalt. Jetzt, Mr Richards. Was möchten Sie wissen?“

Dieser nickte. „Danke, Premierminister. Soll das heißen, dass ganz viele unterschiedliche Lebewesen an diesen Ort ziehen, wo sie uns nachher aussetzen wollen?“

„Im Prinzip, ja.“

„Wilde Tiere?“, hakte Paul nach.

„Sie müssen mit allem rechnen“, gab Harper zu. „Aber wir haben ja Sicherheitsmaßnahmen getroffen, die sowohl Menschen wie auch Tiere betreffen. Nun, Sie werden noch etwa sechs Stunden in der Luft sein, also schlage ich vor, Sie ruhen sich ein bisschen aus. Ich informiere Sie umgehend nach Ihrer Ankunft über neue Entwicklungen. Ich wünsche Ihnen nun allen eine gute Nacht und Gott beschütze Sie alle.“

Mit diesen Worten wurde der Bildschirm dunkel.

Mir erschien das alles so surreal, dass ich gar nicht wusste, was ich denken sollte. Erst diese Story mit meiner Blutlinie und dass ich eigentlich wissen müsste, warum das alles geschieht, und dann das, was Harper uns gerade erzählt hatte. Wahnsinn. Mir schwirrte der Kopf. Natürlich war es Paul, der uns alle wieder zurück in die Realität holte. „So zusammen, da es sicher nicht geschrieben steht, dass wir heute Abend alle verhungern sollen, würde ich vorschlagen, wir schauen mal, was unsere zuckersüßen Stewardessen für uns zu essen haben. Ich habe einen Riesenhunger.“ Callahan konnte sich daraufhin ein Lächeln nicht verkneifen und er erwiderte mit gespielter Entrüstung: „Gott behüte, Paul, ich hoffe inständig, dass wir etwas Anständiges bekommen, bevor Sie zum Kannibalen werden.“

Als wir aus dem Meeting-Room traten, wurden uns vom Bordpersonal Erfrischungsgetränke gereicht, gefolgt von einem sehr schmackhaften Essen. Es gab Wein und hie und da wurde sogar ein bisschen gelacht. Für einen kurzen Moment kehrte fast so etwas wie Normalität ein, was ich sehr genoss. Ich saß bei Paul, der natürlich nicht umhin konnte, mich durch den Kakao zu ziehen.

„Du bist also Bolivianer“, sagte er grinsend zu mir. „Olé!“

„Lass es, Paul.“

Doch er war nicht zu bremsen. „Du siehst sicher schick aus mit einem Poncho“, sagte er und grinste dabei Bradley an, der uns gegenüber saß. „Wir nennen ihn von nun an Juan oder besser Don Juan!“ Beide begannen zu lachen. „Jetzt wird mir alles klar“, keuchte er, als er endlich wieder reden konnte.

„Haha“, sagte ich, aber insgeheim tat seine Spöttelei mir gut – was ich natürlich nie zugegeben hätte. Unter Männern sagt man sowas einfach nicht.

Nach dem Essen versuchten wir uns ein paar Stunden auszuruhen, soweit das möglich war. Ich war froh, dass ich sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, der mich die Aufregungen des Tages vergessen ließ.


Das Schöpfer-Gen

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