Читать книгу Stockwell - Alexander Smokov - Страница 3
ОглавлениеERSTES KAPITEL
Das Büro, welches für den Leiter des Projektes mit der einfachen Bezeichnung „N 1“ schlechthin das Allerheiligste darstellte, sah aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Dies war beileibe nicht das Ergebnis eines gelungenen Anschlags, sondern die Folge konsequenter Schlampigkeit, wie sie genialen Wissenschaftlern in der Regel zu Eigen ist. Computerausdrucke, Notizzettel, Fachbücher und allerlei moderne Gerätschaften bildeten ein Chaos, in dem sich nur der Verursacher zurechtfinden konnte: Professor Dr. Walter Stockwell.
Er haßte es, wenn allzu übereifrige Raumpflegerinnen versuchten, Ordnung in das Wirrwarr zu bringen, aber noch weniger liebte er es, wie eben in diesem Moment, in seiner Arbeit gestört zu werden.
„Herein!“ rief er unwillig, als es an der Tür klopfte. Der Störenfried konnte sich auf einen gehörigen Anraunzer gefaßt machen, sollte er keinen plausiblen Grund für diese Unterbrechung haben.
„Tut mir leid, daß ich so unangemeldet hereinplatze“, ertönte eine Stimme, die er nicht sonderlich schätzte, „aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.“
Stockwell blickte dem Besucher ins Gesicht, wobei er mißmutig seine Augenbrauen hochzog. Dieser Kretin hatte ihm gerade noch gefehlt! Auch wenn dieser Mann, Oskar von Artenberg, den Doktortitel besaß, verkörperte er für ihn das Ignorantentum schlechthin – ein Bürokrat, wie er im Buche stand! Aber leider war er gezwungen, sich mit ihm zu arrangieren, weil v. Artenberg die Administration des Projektes oblag und daher eine Stufe höher stand.
„Haben die Österreicher Bayern besetzt oder ist der Papst zum Islam übergetreten? Welche Neuigkeiten gibt es diesmal, daß Sie es wagen, meine kostbare Zeit zu verplempern?“ fragte er sarkastisch. „Steht vielleicht der von den Zeugen Jehovas prophezeite Weltuntergang ins Haus?“
„Mit letzterer Annahme haben Sie fast ins Schwarze getroffen“, antwortete v. Artenberg schadenfroh, denn er konnte Stockwell ebensowenig leiden, wie dieser ihn. Er warf eine zusammengefaltete Zeitung auf den Schreibtisch. „Ein Weltuntergang – allerdings für Sie!“ Er legte eine Pause ein, um die Gewichtigkeit seiner Ankündigung zu unterstreichen. „Das Projekt wird aufgelöst!“
„Ich habe schon bessere Witze von Ihnen gehört, obwohl ich Sie nicht gerade zu den humorvollsten Zeitgenossen zähle“, gab Stockwell zurück und grinste dabei süffisant, um so leichter seine Überraschung verbergen zu können. Er war alarmiert und sein Verstand begann auf Hochtouren zu arbeiten. „Wie soll das von sich gehen? Wer wird denn ein Hundert-Millionen-DM-Projekt in den Sand setzen, nachdem schon mehr als die Hälfte des Etats aufgebraucht ist?“
„Das haben Sie der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verdanken“, antwortete v. Artenberg, ein zynisches Lächeln auf den Lippen. „Sie wissen doch um die Bestrebungen der Abrüstungsbefürworter, das Projekt Jäger 90 einzustellen. Die Bürger sind der Meinung, es gäbe keine Gefahr mehr aus dem Osten. Die Feindbilder sind weitgehendst abgebaut, also sollen die Herren in Bonn die Steuergelder gefälligst für den Ausbau der Infrastruktur Deutschlands verwenden, anstatt sie, wie es der allgemeine Tenor verkündet, in neue und unnütze militärische Errungenschaften stecken.“
„Aber der Jäger 90 ist doch als Projekt genauso bekannt wie der Airbus“, warf Stockwell ein. „Da verstehe ich ja noch, wenn man ihn absägen will. Doch unser Vorhaben ist streng geheim! Außer einigen höheren Chargen, wie zum Beispiel der Verteidigungsminister, weiß niemand Bescheid! Zudem sind die Arbeiten schon soweit erfolgreich fortgeschritten, daß ich mir einen Verzicht der Regierung auf das Endresultat nicht vorstellen kann! Das können Sie mir nicht einreden! Auch wenn die Gefahr vom Osten her scheinbar gebannt ist, gibt es noch diesen Schirinowski, der unmißverständlich angedeutet hat, daß er, wenn es ihm gelingt, Jelzin vom Thron zu stoßen, die Welt in Schutt und Asche legen wird. Und dann sind da noch die anderen Länder, zumeist aus der Dritten Welt, die unentwegt versuchen, per Zuhilfenahme unterbezahlter eigene neue Waffentypen zu entwickeln. Aus diesem Grund haben ja auch die Vereinigten Staaten ihr SDI-Programm nicht eingestellt, weil man in Ländern wie Nordkorea, Pakistan, Indien, China, aber auch in Nah-Ost samt Israel, eine potentielle Gefahr für den Weltfrieden sieht. All diese Nationen sind gefährliche Brandherde, zu deren Entfachung es nicht viel bedarf. Und einige von ihnen besitzen schon die Atombombe, andere stehen kurz vor der Fertigstellung. Und da wollen Sie mir weismachen, daß ein solch wichtiges Forschungsunternehmen, wie N 1, dem Rotstift anheimfallen soll? Daß ich nicht lache! Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland die Chance, zumindest auf einem Gebiet in der Waffentechnik führend zu sein! Wir stehen kurz vor dem Erfolg! Außerdem lässt sich unsere Errungenschaft bei unseren Nato-Partnern gut verkaufen – und damit wären die Forschungsgelder mehr als wieder drin, denn gute Waffentechnik ist für jedermann ein rentables Geschäft! Sie sind also entweder einer Ente aufgesessen oder man hat Sie falsch informiert!“
„Für Sie mag dies vielleicht den Anschein haben, aber die Sachlage verhält sich anders“, sagte v. Artenberg, wobei ihm die Befriedigung über das, was er Stockwell sogleich erzählen würde, vom Gesicht abzulesen war. „Das Projekt ist nämlich nicht mehr geheim!“
„Treiben Sie gefälligst Ihre Späße mit jemand anderem!“ entrüstete sich Stockwell. „Wer, um alles in der Welt, könnte denn davon erfahren haben?“
„Anscheinend wurden die Sicherheitsmaßnahmen nur ungenügend durchgeführt“, mutmaßte sein Gegenüber, „denn der Stasi wußte schon vor dem Fall der Mauer über N 1 Bescheid. Zum Glück fielen den Genossen keine genaueren Details in die Hände, die sie dem KGB hätten zuspielen können. Aber es ist trotzdem erschreckend, wieviel an internen Vorgängen offenkundig geworden sind. Aus der Stasi-Akte konnte der BND entnehmen, daß die Brüder ziemlich gut informiert waren und es höchstens noch einige wenige Monate gedauert hätte, bis sie auch an die Top-Secret-Unterlagen herangekommen wären.“
„Und wie ist die Sache publik geworden?“ fragte Stockwell. „Angeblich werden doch keine Stasi-Verschlußsachen an die Öffentlichkeit weitergeleitet, bevor man sie nicht gründlich beim BND ausgesiebt und für unbedenklich erklärt hat.“
„Das ist eben der Nachteil einer Demokratie“, stellte v. Artenberg fest. „Ein Mitarbeiter aus dem Aufarbeitungsstab, man weiß noch nicht genau, wer dieser Jemand ist, hat die Akte kopiert und an eine Tageszeitung weitergeleitet.“ Er deutete auf das Exemplar eines bekannten Boulevardblattes, welches er zuvor auf Stockwells Schreibtisch geworfen hatte. „Gegen ein sechsstelliges Entgelt – nehme ich an. Diese Schweine haben natürlich sofort reagiert und das Material auf schnellstem Wege veröffentlicht, um einem Publikationsverbot seitens der Regierung zuvorzukommen. In einem totalitären Staat hätte man dafür die Verantwortlichen an die Wand gestellt.“
„Aber wieso wurde an oberster Stelle so schnell reagiert und das Projekt wie eine heiße Kartoffel fallengelassen?“ unterbrach ihn Stockwell. „Neben den Russen zählt man doch auch die Deutschen zu den absoluten Meistern des Dementierens. Finden Sie das nicht ein wenig merkwürdig?“
„Das ist in der Tat recht ungewöhnlich“, gab v. Artenberg zu, „aber nach den jüngsten Ereignissen im Golfkrieg, bei denen die Deutschen nicht gerade souverän wirkten, herrscht Alarmstimmung in der Regierung. Die Beteiligung deutscher Firmen an irakischen Giftgasproduktionsanlagen, sowie anderer waffentechnischer Projekte, wie zum Beispiel die Reichweitenverbesserung der Scud-Raketen, haben zu einem Imageverlust enormen Ausmaßes geführt. Die Bundesrepublik wurde zum Prügelknaben der Weltöffentlichkeit abgestempelt, deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn man auf derartige Indiskretionen panisch reagiert. Das Resultat dieser überempfindlichen Politiker hat man uns nun präsentiert: In spätestens zwei Wochen soll die Auflösung des Projekts abgeschlossen sein. Bis dahin müssen sämtliche Unterlagen systematisch archiviert und alles Inventar katalogisch aufgelistet werden. Diese Maßnahmen dienen höchstwahrscheinlich der späteren Wiederaufnahme der Forschung, sobald sich die Situation wieder beruhigt hat, aber der voraussichtliche Zeitpunkt steht noch in den Sternen. Ein Sonderkommando der Bundesregierung wird das Material abtransportieren und zu einem geheimen Ort bringen, wo es eingemottet und in Plastik verschweißt, auf seine Reaktivierung wartet. Aber Sie werden daran bestimmt nicht mehr teilhaben, das steht für mich jetzt schon fest.“
Die herablassende Art des adeligen Projektbeauftragten verfehlte bei Stockwell seine Wirkung nicht. Solche Typen, wie dieser oberlehrerhafte Bürohengst sie verkörperte, hatte er noch nie abgekonnt. Sie stellten für ihn den Inbegriff provinzieller Rückständigkeit dar, vergleichbar mit den Urhebern der Inquisition, deren repressiver Konservatismus seiner Meinung nach die technische Entwicklung der Menschheit um Jahrhunderte zurückgeworfen hat. Die Bevölkerung wurde gewaltsam von den Herrschenden unwissend gehalten, um ja keinen unkontrollierten Intellektualismus entstehen zu lassen, der sich womöglich gegen die dominante Schicht wenden könnte. Deshalb war auch der Besuch einer Schule oder Universität stets nur regimetreuen Speichelleckern vorbehalten, die ihre Kenntnisse dann später dazu benutzten, die Unterschicht noch mehr auszubeuten. Auch wenn sich im 20. Jahrhundert die Zeiten nach außen hin geändert hatten, so war doch im Prinzip alles beim alten geblieben – die Reichen blieben reich und zogen an den Schalthebeln der Macht, um die Armen weiterhin unter Kontrolle halten zu können.
Stockwell war Realist genug, zu erkennen, daß in diesem Jahrtausend keine Besserung der Zustände mehr eintreten würde, weil es noch immer Kräfte gab, die ihr eigenes Süppchen kochten und versuchten, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. In Dr. v. Artenberg sah er einen solch typischen Vertreter dieses Establishments: Engstirnig, rechthaberisch, verlogen, bigott und feige, wenn es darum ging, eigene Entscheidungen zu treffen. Aber nichtsdestotrotz unterschätzte er ihn nicht, denn v. Artenberg hatte während der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit bewiesen, daß er sich hervorragend darauf verstand, ihm, wo es nur gerade ging, Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Dieser Mann war ein Heimtücker, deshalb verzichtete er auf eine längere Diskussion, in deren Verlauf er mit Sicherheit ausrasten und womöglich noch Andeutungen über seine Zukunftspläne machen würde, stattdessen sagte er nur:
„Die Schadenfreude über diese negative Entwicklung steht Ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben, denn Sie als Beamter sind unkündbar, während ich auf der Straße stehe. Man wird Sie einem anderen Projekt zuteilen – damit hat sich's. Sicher, ich bekomme zwar eine beträchtliche Abfindung, aber all das, wofür ich gelebt und geforscht hatte, ist nun mit einem Schlag dahin. Daß Sie mich nicht leiden können, weil Ihnen meine Ernennung zum Forschungsleiter mißfiel, ist mir hinreichend bekannt. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn Ihr Protege, den Sie nur allzugerne auf meinem Stuhl gesehen hätten, ist somit auch aus dem Rennen – wenigstens ein kleines Trostpflaster. Und jetzt verlassen Sie augenblicklich mein Büro, bevor ich mich vergesse und Ihnen zu einem neuen Gebiß verhelfe! Ich kann Ihre verdammte Fresse nicht mehr ertragen!“
Die in Aussicht gestellten Prügel veranlaßten v. Artenberg, sich wortlos zurückzuziehen. Aus der Personalakte Stockwells wußte er, daß dieser während seines Studiums an den amerikanischen College-Meisterschaften im Boxen teilgenommen hatte, auch wenn er dann dem späteren Sieger im Viertelfinale unterlag. In Anbetracht dieser Tatsache beschloß er, den Bogen nicht zu überspannen, wie er es sonst so oft getan hatte, denn Stockwell wirkte immer noch beängstigend fit und war zudem auch überaus gereizt. Er würde schon Mittel und Wege finden, um sich an dem verhaßten Amerikaner für die erlittene Demütigung zu revanchieren.
Als v. Artenberg gegangen war, verriegelte Stockwell sorgsam die Tür und ging zurück zum Schreibtisch, aus dessen unterstem Fach er eine Flasche Whisky samt Glas entnahm. Er goß das Glas voll und trank es in einem Zug leer. Dann ließ er sich im Sessel nieder und holte aus der mittleren Schublade ein Diktaphon hervor. Seine Wut war nun etwas verraucht, so daß sie ihn nicht mehr am logischen Denken hinderte. Auf den ersten Blick wirkte das Gerät wie eines der handelsüblichen Fabrikate, doch als er den hinteren Teil der Verkleidung abnahm, kam eine Armatur zum Vorschein, die mit dem Bedienteil eines Recorders nichts mehr gemein hatte. Er stülpte sich einen Kopfhörer über und klinkte das Kabel in die dafür vorgesehene Buchse ein.
„Dann laß' mal hören, was du Schweinehund wieder ausheckst“, knurrte er zufrieden und betätigte einen Schalter, der den Apparat zum Leben erweckte. Ein leises Rauschen im Hörer verriet ihm, daß die Wanze, die er während einer Besprechung in v. Artenbergs Büro versteckt hatte, bislang noch nicht geortet und eliminiert wurde. Erleichtert atmete er auf, denn eine Entdeckung seines „Kuckuckseis“ wäre für ihn mit fatalen Folgen verbunden gewesen. Unter anderem hätte man bestimmt das gesamte Institut auf den Kopf gestellt, um den Wanzenleger ausfindig zu machen. Doch die halbjährlich angesetzte Routineuntersuchung war gottseidank schon vor zwei Wochen gewesen und zu diesem Zeitpunkt befand sich die Wanze noch nicht in seines Gegners Büro. Aber vor unangemeldeten Kontrollen konnte niemand sicher sein und wenn er entlarvt worden wäre, hätte er ziemlich viele unangenehme Fragen beantworten müssen. Fragen über geheimdienstliche Tätigkeiten oder Industriespionage; alles Dinge, die auf ihn nicht zutrafen, weil ausschließlich privates Interesse an v. Artenbergs Person sein Handeln bestimmte, was ihm natürlich in diesem Fall keine Menschenseele glauben würde.
Während er auf ein Lebenszeichen aus v. Artenbergs Büro wartete, dachte er darüber nach, wieso es eigentlich dazu kam, daß er sich nun, entgegen seinem ethischen Empfinden, mit der Bespitzelung seines Widersachers befaßte. Angefangen hatte alles damit, daß v. Artenberg versuchte, einen Günstling als wissenschaftlichen Leiter in das Projekt einzuschleusen. Die Manipulation scheiterte an der mangelnden Qualifikation desselbigen. Immerhin war er, Walter Stockwell, als stellvertretender wissenschaftlicher Leiter an der Entwicklung der Neutronenbombe maßgeblich beteiligt gewesen; besaß also genügend Erfahrung und Kompetenz, um einen Forschungsauftrag dieser Größenordnung erfolgversprechend durchzuführen. Damals hatten ähnliche Bedingungen vorgeherrscht, die ihn veranlaßten, die USA zu verlassen und zu versuchen, seine Erkenntnisse in jenem Land, aus dem seine Mutter stammte, in die Realität umzusetzen. Old Germany war nämlich mittlerweile auf dem Gebiet der Nuklearforschung zu einem ernstzunehmenden Faktor geworden, fast gleichbedeutend mit den Vereinigten Staaten. Aber auch hier gab es Intrigen und Machtkämpfe, die ihm die Freude an seinem Beruf verleideten.
„Die ganze Welt besteht doch nur aus armseligen Scheißern, die einem den Erfolg neiden!“ dachte er bitter. „Anstatt effektiv zusammenzuarbeiten und wirklich etwas Elementares zu vollbringen, kämpft jeder gegen jeden, nur um vor aller Augen als der Größte dazustehen, auch wenn dabei die gesteckten Ziele auf der Strecke bleiben! Zuerst dieser widerliche Lawrence und dann der nicht minder unangenehme v. Artenberg!“
Prof. Dr. Frederic Lawrence war der ausschlaggebende Grund gewesen, daß er nach Deutschland ging. Ursprünglich hatte die Regierung ihn, den etwas weniger bekannten, aber dennoch hervorragend qualifizierten jungen Wissenschaftler für den Posten des Projektleiters vorgesehen, doch als Lawrence, der sich schon mit einigen in technischen Journalen veröffentlichten Abhandlungen über die Teilchen-Ringbeschleunigung einen Namen gemacht hatte, von der Sache erfuhr und seine Dienste anbot, zog man diesen vor, zumal hinter dem Schleimer eine Lobby stand, gegen deren Durchsetzungsvermögen er nichts ins Feld führen konnte. So hieß es, die zweite Geige zu spielen, was ihm aber zu Anfang kaum etwas ausmachte, weil er in seiner Naivität glücklich und stolz darüber war, mit einem Wissenschaftler dieses Kalibers zusammenarbeiten zu dürfen.
Aber der integere Professor sollte sich als Ideenklau, als Abstauber und zudem noch als sein Feind erweisen, denn Lawrence war eine absolut egoistische Persönlichkeit, die keinen anderen Gott neben sich duldete. So geschah es, daß ihm, als er gerade einen bahnbrechenden Durchbruch geschafft hatte und die diesbezüglichen Resultate am nächsten Tag dem Aufsichtsgremium vorlegen wollte, die Unterlagen aus seinem Schreibtisch gestohlen wurden. Seine Überraschung war perfekt, als er Lawrence am nächsten Morgen dabei ertappte, seine Erkenntnisse als die eigenen auszugeben. Von ihm zur Rede gestellt, was er sich denn dabei gedacht hätte, ging Lawrence zum Gegenangriff über und bezichtigte seinerseits nun ihn des Plagiatismus. Da Lawrence die handgeschriebenen Unterlagen über Nacht mit der Maschine neu getippt hatte, war diesem natürlich schlecht etwas zu beweisen. Im Gegenteil. Das Gremium vermutete, daß Stockwell eine Intrige gesponnen hatte, aus Rache darüber, daß man ihm Lawrence vor die Nase gesetzt hatte. Es wurde ihm nahegelegt, freiwillig zu kündigen, weil keine Basis mehr für eine weitere gute Zusammenarbeit gegeben sei.
Der Versuch, das Gremium dazu zu bewegen, die Angelegenheit gründlichst zu untersuchen, damit der Diebstahl lückenlos aufgeklärt würde, scheiterte an der dafür nötigen Mehrheit jenes insuffizienten Ausschusses. Lawrence hatte ganze Arbeit geleistet und den Großteil der Mitglieder auf seine Seite gebracht. Mit einem gehörigen Maß an Scharlatanerie war es ihm gelungen, all diese beamteten Fachidioten von seiner Unentbehrlichkeit in Bezug auf das Projekt zu überzeugen. Stockwell fragte sich, auf welch dubiose Weise dieser Abstauber zu seinen akademischen Titeln gekommen war und ob die wissenschaftlichen Veröffentlichungen tatsächlich dessen Intellekt entsprungen sind. Seiner Überzeugung nach hatte sich Lawrence äußerst erfolgreich mit Lug und Trug durchs Leben geschlagen, wobei er zahllose gutgläubige Opfer auf seinem Weg nach oben zurückließ.
So blieb ihm letztendlich nur die Möglichkeit der Kündigung, wollte er sein Gesicht wahren. Als Lawrence ihm dann am Tage seines Abgangs auf jovial-süffisante Art vor versammelter Belegschaft alles Gute für den weiteren Lebensweg wünschte, konnte er nicht umhin, diesem vor aller Augen eine gehörige Abreibung zu verpassen. Seine aufgestaute Wut entlud sich in einer Serie von Faustschlägen, die krachend im Gesicht seines Widersachers landeten und dessen Physiognomie in eine aufgequollene, blutige Masse verwandelte. Die anstehende Anzeige wegen Körperverletzung wartete er gar nicht erst ab. Die Vereinigten Staaten waren für ihn erledigt. Mit der erstbesten Maschine flog er nach Deutschland.
Die Heimat seiner Mutter, die er bislang immer verachtet und gemieden hatte, weil er es ihrer Bevölkerung nicht verzeihen konnte, daß sie einem Judenschlächter wie Adolf Hitler zur Macht verhalf, wurde nun für ihn zum letzten Strohhalm, an den er sich klammern konnte. Er hätte zwar noch die Möglichkeit gehabt, in die Sowjetunion zu gehen, weil er von seiner Gesinnung her überzeugter Edelkommunist war, doch authentische Berichte über Massaker und sonstige Greueltaten der „Genossen“ hatten ihn von seinen sozialistischen Tagträumen gründlichst kuriert. Der Gedanke des Kommunismus war gut, doch seine Ausführung bedeutete Tod und Verderben, weil die jeweiligen Machthaber diese Ideologie dazu mißbrauchten, ihre Position zu festigen und sich unrechtmäßig zu bereichern. Die Brüder waren also auch nicht besser, als der geheiligte „Führer“. Aber der große Knacks sollte erst noch kommen! Sein Geburtsland, das allesbeschützende, freie Amerika, dessen Verfassung angeblich die Rechte seiner Bürger garantiert, hatte sich dazu entschlossen, ihn aus Sicherheitsgründen zu liquidieren! Welch ein Hohn! Es lebe die Demokratie! Sein Status als Geheimnisträger brachte die CIA mit ins Spiel. Daß er das „Know-how“ um die Neutronenbombe in seinem Kopf mit sich trug, war den Herrschenden nicht genehm, also sandte man Agenten aus, die den Auftrag hatten ihn zu beseitigen.
Sie lauerten im Hotelzimmer, welches er gemietet hatte, um die Wartezeit bis zu seinem Weiterflug von Berlin nach Köln zu überbrücken, auf ihn. Völlig unvorbereitet traf ihn ein Schlag auf den Hinterkopf, als er nach einem Zug durch das Berliner Nachtleben den Raum betrat. Doch der Hieb war entweder zu schwach ausgeführt oder seine Nehmerqualitäten konnten sich mit denen eines Berufscatchers messen, denn er steckte das Ding ohne erkennbare Wirkung weg und ging seinerseits zum Gegenangriff über. Dabei kam ihm die Boxerfahrung aus der Collegezeit und sein durchtrainierter Körper sehr zustatten – es dauerte nur wenige Augenblicke, dann lagen die Knilche mit deutlich sichtbaren Blessuren bewußtlos am Boden. Dem größeren fehlten einige Zähne, der andere benötigte für sein gebrochenes Nasenbein dringend einen Schönheitschirurgen.
Stockwell hielt die ganze Chose anfangs für einen Raubüberfall und fesselte die vermeintlichen Ganoven mit einer hastig heruntergerissenen Gardinenkordel, damit sie nicht entwischen konnten, während er die Polizei rief. Doch etwas an ihrem Aussehen machte ihn stutzig und so angelte er sich deren Brieftaschen, um festzustellen, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Sein Erstaunen war nicht gering, als er die CIA-Ausweise sah, welche die Kerle bei sich trugen. Sie waren sich ihrer Sache so sicher gewesen, daß sie es nicht für nötig erachteten, diese verräterischen Beweise für ihren Mordauftrag in der Dienststelle zu lassen. Und daß es ein Mordauftrag war, bestätigte ein Telex, das er nach weiterer Durchsuchung zutageförderte. Es kam von der Zentrale in Washington und enthielt die wichtigsten Daten über seine Person, einschließlich der Order, ihn unverzüglich zu liquidieren. Ein Funkbild mit seinem Konterfei, an das Telex zum Zwecke der schnelleren Auffindung seiner Person beigeheftet, machte ihm deutlich, daß Uncle Sam nicht lange fackelte, wenn es um die Wahrung seiner Interessen ging.
Aber er machte seinen Häschern einen gewaltigen Strich durch die Rechnung, denn nun kannte er den Feind! Die Polizei zu rufen, hätte nichts gebracht, weil in West-Berlin immer noch die Alliierten das Sagen hatten. Wie leicht wäre er da vom Regen in die Traufe geraten! Also machte er sich aus dem Staub, nicht ohne zuvor die Agenten zu knebeln und in handliche Bündel zu verwandeln. Am Flughafen erwischte er sogleich eine Maschine, die ihn zwar nicht nach Köln, sondern nach Frankfurt brachte, doch das war ihm für den Moment egal. Hauptsache, er kam nach Westdeutschland, bevor man die fehlgeschlagene Mission bemerkte.
In Frankfurt begab er sich sofort zur Einwanderungsbehörde, wo er um politisches Asyl bat. Das dumme Gesicht des Beamten, der die Personalien aufnahm, hätte ihn fast zum Lachen gebracht, als dieser erfuhr, daß er aus den USA kam. Ein Ami bittet in der Bundesrepublik um politisches Asyl! Doch seine Situation war momentan zu beschissen, als daß er es sich hätte leisten können, diesen Staatsdiener zu verärgern. Also unterdrückte er klugerweise seinen Lachreiz und erklärte ihm stattdessen die Hintergründe für seinen Asylantrag.
Der Blick des Beamten wurde immer ungläubiger und als Stockwell seine atemberaubende Story beendet hatte, griff er zum Telefon und wählte eine Nummer, die er anscheinend auswendig kannte. Trotz des Dialektes, den dieser Mann schnatterte, damit er von dem Gespräch nichts mitbekam, konnte Stockwell sinngemäß den Inhalt erfassen, denn nicht umsonst hatte seine Mutter bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihm Deutsch gesprochen.
Die Angelegenheit überstieg Kompetenz und Entscheidungsspielraum des Beamten, so daß dieser sich gezwungen sah, die Verantwortung einem höheren Chargen zuzuschanzen. Kurz darauf erschienen zwei Typen, denen die Zugehörigkeit zu einem geheimdienstlichen Organ an der Nasenspitze abzulesen war. Sie baten Stockwell höflich, mitzukommen und führten ihn zu einer schwarzen Mercedes-Limousine mit getönten Scheiben. Die Fahrt dauerte nicht lange, dann hielt der Wagen vor einer Schranke, die von einem uniformierten Posten, der in einer Pförtnerloge saß, bewacht wurde. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und reichte dem Posten einen Ausweis, den dieser nach sorgfältiger Kontrolle zurückgab. Die Schranke ging hoch und der Wagen rollte auf das umzäunte Gelände. Stockwell konnte einige vierstöckige Häuser erkennen, die wie Verwaltungsgebäude aussahen. Vor einem dieser Gebäude stoppte der Fahrer, die Beamten stiegen aus und nahmen Stockwell in die Mitte. Am Eingang mußten sie sich nochmals bei einem Posten ausweisen, dann standen sie kurz darauf in einem Lift, der sie in die zweite Etage beförderte. Nach einigen Metern erreichten sie ein Büro, an dessen Tür eine Nummer stand, ähnlich wie in einem Hotel. Der kleinere der beiden Beamten klopfte an und ohne das obligatorische „Herein“ abzuwarten, öffnete er die Tür. Stockwell besah sich den Raum und fand, daß er das gleiche Flair hatte, wie tausende anderer Büros. Interessanter wirkte da schon der Mann mit den graumelierten Haaren, der soeben seine Tageszeitung beiseitelegte und sich aus dem Sessel erhob. Man merkte ihm sofort an, daß er ein „Macher“ war – einer der das Sagen hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Wolfram Martens“, sagte er, als er mit zur Begrüßung ausgestreckter Hand hinter seinem Schreibtisch hervorkam. „Und sie sind sicher Dr. Stockwell.“
„Professor Dr. Walter Stockwell“, ergänzte dieser seinen Namen und schlug lächelnd in die dargebotene Hand ein.
„Oh... Entschuldigen Sie meinen Lapsus. Ich hatte nicht die Absicht, ihnen den Professor abzuerkennen.“ Martens lächelte nun ebenfalls. „Doch in der Eile wurde ich nur zur Hälfte informiert. Aber nehmen Sie doch erst einmal Platz. Ich werde uns Kaffee bringen lassen. Als Amerikaner mögen Sie doch sicher Kaffee, wenn ich mich nicht irre – oder?“
„Sehr gerne.“ Stockwell gefiel die Art seines Gegenübers. Trotzdem beschloß er, auf der Hut zu sein. Die jüngsten Ereignisse hatten ihm gezeigt, daß er niemandem trauen konnte, am allerwenigsten staatlichen Institutionen. „Wenn es möglich ist, hätte ich gerne vorab einen Whisky“, fügte er hinzu. „Die Sache ist mir nämlich ein bißchen auf den Magen geschlagen.“
„Da sind Sie bei uns in besten Händen“, sagte Martens, öffnete einen Schrank und holte eine Flasche „Black & White“ samt Gläsern heraus. „Original PX-Ware. Leider habe ich kein Eis.“ Eine Handbewegung bedeutete den beiden Beamten, daß sie nicht mehr gebraucht wurden und dezent verließen sie das Büro. „Auf welcher Schule haben Sie denn so ein phantastisch gutes Deutsch gelernt?“ fragte Martens, während er die Gläser halbvoll goß.
„Im Prinzip bin ich Deutscher“, antwortete Stockwell und nahm sein Glas in Empfang. „Meine Mutter war Vierteljüdin und hat Deutschland 1938 verlassen, als die Repressalien der Nazis immer unerträglicher wurden.“
„An Ihrem Beispiel ist zu ersehen, daß unsere düstere Vergangenheit noch immer nicht wirklich bewältigt ist“, stellte Martens fest und bot ihm aus einer Schatulle eine Zigarette an. „Ich hoffe nur, wir können gutmachen, was man Ihrer Mutter angetan hat. Erzählen Sie mir doch bitte Ihre Geschichte in allen Einzelheiten.“
Stockwell ließ sich von Martens Feuer geben und sog den Zigarettenrauch gierig in die Lungen. Dann schilderte er die Ereignisse ab dem Diebstahl seiner Unterlagen.
„Das klingt so abenteuerlich, daß ich geneigt bin, Ihnen zu glauben“, sagte Martens kopfschüttelnd. „Ansonsten hätten Sie Ihren Beruf verfehlt und sollten lieber als Romanschriftsteller arbeiten. Können Sie Ihre Behauptungen auf irgendwelche Weise belegen?“
„Aber sicher“, antwortete Stockwell und holte aus der Innentasche seiner Wildlederjacke das Mordtelex und die Agentenausweise hervor.
„Unglaublich!“ rief Martens, als er das Beweismaterial betrachtete. „Ich werde sofort eine Überprüfung veranlassen!“ Hastig griff er zum Telefon und gab in kurzen Sätzen präzise Anweisungen. Dann lehnte er sich entspannt zurück. „In spätestens zehn Minuten wissen wir, ob Ihre Darstellungen der Wahrheit entsprechen.“
„Wo bin ich denn hier eigentlich?“ fragte Stockwell. „Etwa beim Bundesnachrichtendienst?“
„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben“, antwortete Martens. „Aber Sie sind ja nicht geistig minderbemittelt – also können Sie sich ausrechnen, daß ich irgendeinem Verein angehöre, der sich damit befaßt, die Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen leider nicht verraten.“
Während sie auf das Klingeln des Telefons warteten, brachte ein hübsch anzusehendes Mädchen Kaffee und belegte Brötchen. Stockwell fand, daß das Aussehen der Brötchen keinen Vergleich mit amerikanischen Sandwiches aushielt, doch als er sie probierte, stellte er fest, daß er sich ganz gewaltig geirrt hatte. Die Brötchen waren nicht labberig, wie in den meisten amerikanischen Schnellrestaurantketten, sondern hatten Biß. Die Butter schmeckte frisch und der Belag, der aus verschiedenen Wurst- und Schinkensorten bestand, war von besserer Qualität, als er es jemals in den USA vorgesetzt bekam. Auch der Kaffee konnte sich durchaus sehen lassen. Kein Unterschied gegenüber amerikanischen Produkten. Er hatte Deutschland von der Eßkultur her immer für ein Entwicklungsland gehalten, aber nun mußte er seine Meinung revidieren. Man nannte die Deutschen „Krauts“, weil sie angeblich kein anderes Gericht kochen konnten, als Sauerkraut. Doch bei der alljährlich stattfindenden Steuben-Parade schätzten sich die Amerikaner glücklich, wenn sie aus alter Tradition als Gast bei einer deutschstämmigen Familie aufgenommen wurden, die ihnen dann die Errungenschaften der deutschen Küche präsentierte. Da gab es nämlich zumeist kein Sauerkraut, sondern Spezialitäten, die sogar manchen kulinarisch verwöhnten Franzosen überzeugen würden, vorausgesetzt, er wäre ein Anhänger der rustikalen Kochkunst. Schon in Berlin hatte Stockwell bemerkt, daß an allen Ecken und Enden die verschiedensten Spezialitäten aus aller Herren Länder angeboten wurden. Sein Erstaunen darüber war natürlich sehr groß, war er doch immer dem Trugschluß aufgesessen, daß nur die Amerikaner aufgrund ihrer Rassenvermischung eine multikulturelle Eßtradition entwickelt hätten. Und nun kam er nach Deutschland, dessen Lebensstandard im Wesentlichen mit dem amerikanischen übereinstimmte. Das lag mit Sicherheit daran, daß die Bundesbürger im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und der damit verbundenen Einwanderungspolitik gegenüber allem Fremden mehr Toleranz ausübten. Aus der Nation ehemaliger „Herrenmenschen“ war ein friedliebendes, aufgeschlossenes Volk von Antifaschisten geworden – von einer Minderheit militanter Neonazis einmal abgesehen.
Das Telefon schrillte und Martens nahm den Hörer ab. Anscheinend hatte der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung amüsante Neuigkeiten zu vermelden, denn als er nach einem kurzen „Danke – das war gute Arbeit“ auflegte, stand ein breites Grinsen in seinem Gesicht.
„Ihre Geschichte entspricht in allen Punkten den Tatsachen“, wandte er sich an Stockwell. „Ein Dienstmädchen hat die beiden Kerle in Ihrem Zimmer entdeckt, als sie saubermachen wollte. Die daraufhin alarmierte Polizei brachte die Brüder dann zur Revierwache, wo sie erkennungsdienstlich erfaßt wurden. Oh Mann...! Wissen Sie eigentlich, was Ihnen da gelungen ist? Sie haben diesen angeblich so unfehlbaren Verein bis auf die Knochen blamiert! Sie ausgetrickst wie blutige Anfänger! Das werden die Ihnen nie vergessen!“ Er rieb sich dabei die Hände und kicherte wie ein Mädchen, dem der Nachbarsjunge zum ersten Mal unter den Rock gefaßt hatte.
Das Lachen war so ansteckend, daß Stockwell, ob er wollte oder nicht, miteinstimmen mußte. Nun wurde ihm erst so richtig bewußt, welcher Lächerlichkeit er den amerikanischen Geheimdienst preisgegeben hatte, als er sich durch Flucht dessen Fängen entzog. Doch gleich darauf kam die Ernüchterung: Wenn Martens mit seiner Andeutung recht behielt, würden sie weiterhin versuchen, ihn zu töten – allein schon deswegen, um ihre Scharte wieder auszuwetzen.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Martens, der seine Gedanken zu lesen schien, mit beruhigendem Unterton in der Stimme. „Leute wie Sie werden bei uns mit offenen Armen aufgenommen. Es herrscht an qualifizierten Wissenschaftlern in unserem Lande ein Defizit, weil die meisten unserer Spitzenkräfte mit großzügigen Offerten abgeworben werden – überwiegend von den USA und Japan. Mein Einfluß reicht hinauf bis in die höchsten Regierungskreise – wenn es sein muß, bis zum Außenminister oder sogar Bundeskanzler. Man wird Ihnen, aufgrund der politischen Verfolgung Ihrer Mutter und deren zwangsläufig damit verbundenen Emigration, nach unserem Aus- und Übersiedlergesetz sofort die deutsche Staatsbürgerschaft gewähren. Somit sind Sie unantastbar. Die CIA wird es nicht wagen, Ihnen erneut ein Killerkommando auf den Hals zu hetzen, denn unübersehbare diplomatische Verwicklungen wären die Folge. Die guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA würden ganz gewaltig darunter leiden – ein Politikum unberechenbaren Ausmaßes.“
So wurde Stockwell also deutscher Staatsbürger. Was er noch vor einem Monat für unmöglich gehalten hätte, war nun eingetreten: jenes Volk, das er eigentlich wegen seines innewohnenden gewalttätigen Potentials seit jeher verachtet hatte, gab ihm Arbeit, Obdach und Schutz! Martens hielt sein Wort. Er konnte sich unbehelligt, ohne Furcht haben zu müssen, auf der Straße zeigen – kein Killer lauerte an der nächsten Ecke auf ihn. Auch beruflich ging es steil aufwärts, obwohl man ihm anfangs nur kleinere Forschungsprojekte zuwies. Doch mit den Jahren festigte er seine Position und man übertrug ihm die Leitung von N 1, nachdem seine Befähigung dafür an höchster Stelle offenkundig wurde. Dies war sein Spezialgebiet, auf dem er alle anderen Konkurrenten um Längen schlug. Und nun setzten ihn die Politiker vor die Tür, weil sie um ihre Wählerstimmen bangten. Feige Kacker, denen es einzig und allein auf das Fortbestehen ihres Machtanspruchs und des Diätenbezugs ankam! Darin unterschieden sie sich in nichts von den oberflächlichen, ständig unverbindlich grinsenden Volksvertretern seiner Ex-Heimat.
Der Knall einer zuschlagenden Tür riß ihn zurück in die Gegenwart. Deutlich konnte er im Kopfhörer die Schritte v. Artenbergs vernehmen. Die Wanze funktionierte hervorragend. Ein gequältes Aufächzen des Stuhls, das Blätterrascheln eines Notizbuchs, das Klicken der Telefongabel, als der Hörer abgenommen wurde – und schon wußte Stockwell, daß sein Kontrahent im Begriff war, einen Anruf zu tätigen. Rasch drückte er den Aufnahmeknopf des Cassettenrecorders. Eine Weile hörte er nur das rhythmische Knacken des Apparates, der die angewählten Ziffern in Impulse umsetzte, dann ertönte eine Stimme:
„Velberkamp.“
„Hier v. Artenberg. Tut mir leid, wenn ich Sie so kurz vor Feierabend noch störe.“
„Ich wollte zwar gerade ins Wochenende fahren, aber für Sie kann ich immer etwas Zeit erübrigen“, sagte der Mann, von dessen Existenz Stockwell bislang nichts wußte. „Gibt es Schwierigkeiten?“
„Könnte sein. Ich habe das Gefühl, unser Schützling wird Ärger machen. Der ist imstande und läuft zur Gegenseite über.“
„Na, na! Nicht gleich so schnell mit den jungen Hunden!“ bremste Velberkamp ab. „Worauf stützt sich Ihre Annahme?“
„Intuition“, antwortete v. Artenberg. „Ich kenne Stockwell nunmehr seit fast vier Jahren. Die Nachricht von der Auflösung des Projekts hat ihn sichtlich schwer getroffen. Man konnte es direkt hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Bestimmt heckt er etwas aus. Und dann hat er mich auch noch unter Androhung von Gewalt aus dem Büro geworfen, aber diese Unverschämtheit zahle ich ihm noch irgendwie heim.“
„Aber das sind doch alles keine Beweise“, hielt Velberkamp dagegen. „Da müssen Sie schon wirklich schlagkräftige Indizien beibringen, damit ich etwas unternehmen kann.“
„Die Sache sehe ich anders“, fuhr v. Artenberg unbeirrt fort. „Wenn man seinen Ausführungen glauben schenken darf, steht das Projekt kurz vor der Vollendung. Versetzen Sie sich doch mal in seine Lage! Was würden Sie tun, wenn man Ihnen so kurz vor dem Ziel den Hahn abdreht und somit die Möglichkeit nimmt, sich mit Ihrem Lebenswerk vor aller Welt zu profilieren? Haben Sie schon etwa vergessen, wie cool er die Amerikaner in die Pfanne gehauen hat? Der Mann ist noch nicht so alt, als daß ihm solch ein Bravourstück nicht auch ein zweites Mal gelingen könnte! Und dann frage ich mich, wofür ich dem BND Informationen liefere, wenn sie von Ihnen als unbrauchbar abgetan werden! Immerhin waren es doch Sie gewesen, der mich für diese Aufgabe angeworben hat, weil man Stockwell nicht so recht traute, aber andererseits glaubte, ihn wegen seiner Qualifikation unbedingt einstellen zu müssen. Ich wollte schon seit Anbeginn des Projekts einen anderen auf diesem Posten sehen, aber man hat ja nicht auf mich gehört! Wenn es nach mir geg...“
„Nun regen Sie sich mal wieder ab!“ fiel ihm Velberkamp ins Wort. „Sie mögen zwar in mancher Hinsicht Recht haben, doch vergessen Sie anscheinend, daß über mir auch noch Leute sitzen, die mir Befehle erteilen und denen ich Rechenschaft ablegen muß. Also gut! Im Prinzip bin ich einverstanden, aber ich werde mir die Sache trotzdem übers Wochenende nochmal durch den Kopf gehen lassen. So eilig wird sie ja wohl kaum sein, als daß sie nicht bis Montag warten könnte – oder?“
„Ich denke, das geht in Ordnung.“ v. Artenberg hatte sich wieder etwas beruhigt. „Am Montag findet eine Personalversammlung statt, auf der Stockwell das Aus verkünden wird. Ich glaube nicht, daß er schon vorher zu irgendeiner Aktion bereit ist. Man kann über ihn sagen, was man will, aber in dieser Beziehung hat er Charakter. Er läßt es sich bestimmt nicht nehmen, der Belegschaft die Pleite höchstpersönlich mitzuteilen.“
„Sehen Sie, die ganze Chose löst sich in Wohlgefallen auf.“ Velberkamps Stimme klang zufrieden. „Am Montag ist General Schomburg wieder aus dem Urlaub zurück. Er hat in dieser Sache das letzte Wort, aber mit ihm komme ich schon klar. Ich habe momentan die Akte Stockwell nicht so genau im Gedächtnis... Können Sie mir sagen, ob er noch Verwandte hat?“
„Soviel ich weiß – keine. Seine Eltern sind verstorben. Sie waren beide ohne Anhang. Es existieren auch keine Geschwister.“
„Das erleichtert es uns natürlich gewaltig, beim General Grünes Licht zu bekommen. Gibt es eine Freundin, die womöglich Fragen stellen könnte?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Er hält sich ja die meiste Zeit im Labor auf – wie soll er da noch Muße für eine Freundin haben?“
„Sehr gut. Noch ein Problem weniger. Na ja... Dann wünsche ich Ihnen ein angenehmes Wochenende. Ich rufe Sie auf alle Fälle am Montag an.“
„Wünsche ich Ihnen auch, Herr Oberst... Also, bis Montag.“
Mit einem Daumendruck, der all seine Wut zum Ausdruck brachte, schaltete Stockwell den Recorder ab. Die fast gleichgültige, andererseits jedoch anmaßende Art, mit der diese hinterlistigen Typen über sein Leben verfügten, als wäre er ein Bauer im Schachspiel, den man um des strategischen Vorteils willen einfach so opferte, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Von wegen Recht und Freiheit! Das ganze Geschwätz diente doch nur dem einen Zweck: die Menschen über die wahren Absichten von Staat und Industrie im Unklaren zu lassen. Beide Machtfaktoren kochten gemeinsam das ergiebige Süppchen der Symbiose, wobei die Rollen von Wirt und Parasit gleichermaßen miteinander verschmolzen – entsprechend dem Aufsichtsratsmitglied eines Konzerns, welches als einträglichen Nebenjob noch das Amt eines Bundestagsabgeordneten innehatte. Aber er würde es diesen heuchlerischen Schweinehunden schon zeigen! Wie gut, daß er seine Lektion in puncto Staatsinteressen gelernt und vorbeugende Maßnahmen getroffen hatte, als er sah, wie v. Artenberg zwei Tage zuvor mit einem Angestellten, der ihm als Parteigänger seines Gegners bekannt war, auf dem Flur tuschelte. Um was es sich handelte, konnte er nicht hören, weil die beiden, als er dazukam, sofort verstummten, aber die Geheimnistuerei hatte ihn stutzig gemacht. Vielleicht wußte v. Artenberg aus sicherer Quelle schon vorab über die Veröffentlichung Bescheid oder es handelte sich lediglich nur um das übliche Betriebsgeratsche – er konnte es nicht sagen. Doch sein Mißtrauen ließ ihm keine Ruhe und so schmuggelte er die Wanze in v. Artenbergs Büro. Aber sooft er auch die Telefonate und die Gespräche mit anderen Mitarbeitern abhörte, konnte er nichts Verdachterregendes entdecken. Bis auf heute. Da hatte er allerdings einen Volltreffer gelandet!
Er nahm die Zeitung, die ihm v. Artenberg zuvor so lässig auf den Schreibtisch geworfen hatte, und schlug sie auf. Die rot unterstrichene Schlagzeile sprang ihm fast ins Gesicht: „Todesprojekt Neutronenpanzer – Stasi war informiert“. Neugierig geworden, las er weiter:
„Wie unsere Redaktion soeben erst durch einen absolut zuverlässigen Informanten erfahren hat, werden in der Bundesrepublik an einem geheimen Ort – auf den wir, um nicht mit den Interessen des Staates zu kollidieren, im Moment nicht näher eingehen wollen – Versuche durchgeführt, die der Entwicklung einer taktischen Waffe ungeahnten Ausmaßes dienen, deren Existenz unserer Meinung nach für den Weltfrieden ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko bedeutet. Bei dieser Waffe handelt es sich um eine Kanone, mit der man in der Lage sein wird, gezielt Neutronen zu verschießen, und die ohne großen Aufwand in jeden Panzer oder sogar Lastwagen eingebaut werden kann. Die Bundeswehr, bestückt mit einer Unzahl dieser mobilen 'Todesboten', besäße demnach die hundertfache Kampfkraft vergleichbarer, mit noch herkömmlichen, konventionellen Waffen ausgerüsteter Armeen. Die Folge davon wäre ein wiederum verstärktes Wettrüsten, das den derzeitigen Entspannungsprozeß zunichte machen und eine erneute Blockbildung im Osten herbeiführen würde. Hinzu käme noch das Damoklesschwert des atomaren Erstschlages, von welchem wir uns, dank ständiger Bemühungen im Bereich der nuklearen Abrüstung, erst in jüngster Zeit befreien konnten. Wollen Sie, verehrter Leser, daß all dies aufs Spiel gesetzt wird, nur damit einige der ewig gestrigen Politiker und Generäle den Segen der Wiedervereinigung dazu mißbrauchen dürfen, den Wahnsinn eines 'Vierten Reiches' und der damit untrennbar verbundenen 'Rassischen Überlegenheit' von neuem aufleben lassen? Für uns eine Schreckensvision! Wir setzen großes Vertrauen in den politischen Weitblick der Bundesbürger, deshalb rufen wir die Öffentlichkeit auf, so lange bei den Verantwortlichen zu intervenieren, bis dieses gemeingefährliche Projekt aufgelöst wird, um der Welt zu beweisen, daß Deutschland es mit seinen Friedensbeteuerungen ernst meint.“
Unter dem Artikel waren noch einige Dokumente aus der Stasi-Akte abgebildet, die bewiesen, daß die Information der Wahrheit entsprach. Stockwell blickte auf das Datum: die Zeitung war vom Vortag. Er verfluchte innerlich seinen Arbeitseifer, der daran schuld war, daß er kaum noch Zeit fand, dem Weltgeschehen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Darum das Getuschel auf dem Flur! v. Artenberg hatte bestimmt die Parole ausgegeben, ihn wegen des Artikels nicht anzusprechen. Er wollte sich den Genuß, ihm die Hiobsbotschaft persönlich zu überbringen, nicht nehmen lassen. So wurde ihm also nichtsahnend die Pille verabreicht, deren bitteren Geschmack er immer noch im Mund verspürte. Was dachten sich denn diese feigen Pfeffersäcke denn eigentlich dabei, ihn so sang- und klanglos verheizen zu wollen? Waren sie wirklich um so vieles besser, daß sie es sich erlauben konnten, Menschen wie Papierhandtücher zu benutzen? Bestimmt nicht! Einen ganzen Tag hatten sie gebraucht, um ohne langandauerndes Palaver eine Entscheidung zu treffen, die seine eventuelle Eliminierung miteinschloß! Wenn es diesen Scheißern an den Kragen ging, vermochten sie sogar, rasch zu schalten. Gottseidank hatte sein Unterbewußtsein ihm geraten, die Wanze zu legen, sonst wäre er gekniffen gewesen.
„Ich muß mir unbedingt etwas einfallen lassen!“ dachte er grimmig. „Dieser verdammten Bagage werde ich nicht erlauben, mit mir Schlitten zu fahren! Bis dahin habe ich zwar leider bloß drei Tage Zeit, aber noch ist nicht aller Tage Abend. Ich bin es leid, immer nur als Spielball der Mächtigen meinen Kopf hinzuhalten! Man wird mich ab heute von einer ganz anderen Seite kennenlernen!“
Mit einem energischen Ruck erhob er sich von seinem Stuhl und begab sich ins Labor, wo sich die Versuchsanlage befand. Er wollte noch die Ergebnisse der letzten Testreihen überprüfen, die durchzuführen er seinen Assistenten beauftragt hatte. Zudem kamen ihm bei der Arbeit auch meistens die besten Ideen – wer weiß, vielleicht fand er ganz urplötzlich die Lösung seines Problems...