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ZWEITES KAPITEL

Seit Stunden schon saß Stockwell über seine Computerausdrucke gebeugt. Er merkte, daß er nun allmählich müde wurde, deshalb ging er an den Kühlschrank, um sich eine Koffeinspritze zu genehmigen. Die kalte Cola brachte seine Lebensgeister auf Touren und sogleich fühlte er sich besser. Jetzt mit der Arbeit aufzuhören, hätte für ihn bedeutet, daß er am nächsten Tag praktisch wieder von vorne anfangen müßte, weil bei ihm der Faden gerissen wäre, wie bei einem Komponisten, der sich mental in sein Werk hineinversetzt und dann durch eine unliebsame Störung brutal aus dem Schöpferprozeß herauskatapultiert wird.

Die Testreihe hatte eine beträchtliche Anzahl aufschlußreicher Faktoren zum Inhalt, deren Perspek­tiven seinen Forschergeist beflügelten. Das Ziel war in greifbare Nähe gerückt! Auch wenn sich sein Traum, nämlich dieses Projekt erfolgreich abzuschließen, nicht mehr erfüllen sollte, so war er in keinster Weise gewillt, die Früchte seiner harten Arbeit dem Staat zu überlassen, nur damit dieser sie einfriert und bei Bedarf wieder aus der Versenkung hervorholt. Ein anderer würde dann die Lorbeeren einheimsen, die eigentlich von rechts wegen ihm zustanden! So hatte er nicht gewettet! Was wußten diese phantasielosen Politiker und Staatsbediensteten schon über die geheimsten Wünsche jener Menschen, welche durch ihre Erfindungen das Antlitz der Welt geprägt hatten? Jener Pioniere, die vor der Engstirnigkeit ihrer eigenen Landsleute ins Ausland flohen, weil sie in der Heimat gnadenlos ausgelacht, diskriminiert und manchmal sogar auch verfolgt wurden. Ottmar Mergenthaler zum Bei­spiel, der die Setzmaschine erfunden hatte und nach Amerika auswanderte, da er in Deutschland keine Chance mehr sah, seine grandiose Erfindung an den Mann zu bringen. Diese Maschine wurde in den USA zum totalen Renner. Als dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Setzmaschinen – natürlich für teueres Geld, versteht sich – nach Deutschland kamen, wurden sie von fanatischen Schriftsetzern, die um ihre Arbeitsplätze fürchteten, zu Klump geschlagen. Und so erging es nicht nur Ottmar Mergenthaler – auch andere Genies versuchten in den Staaten ihr Glück. So geschah es unter anderem, daß der Erfinder der Raupenkette vom Reichskriegsministerium abgeschmettert wurde, weil sich diese Schwachköpfe von Beamten und Offizieren nicht vorstellen konnten, daß man damit die extremsten Unebenheiten im Gelände schnell und mühelos überwinden kann. Die Quittung für ihre grenzenlose Dummheit bekamen sie dann im Jahre 1917, als die Amerikaner in den Ersten Weltkrieg eingriffen und den Deutschen mit ihren „Tanks“ das Fürchten lehrten.

Bei ihm verhielt sich der Fall genau umgekehrt: er wanderte nach Deutschland aus. Und nun stand seine Existenz erneut auf dem Spiel. Das gleiche wie gehabt. Wohin sollte er gehen? Auf welche Art und Weise konnte er sich gegen die Bedrohung seitens des Staates wehren? Die Russen suchten zwar nach wie vor noch Wissenschaftler für waffentechnische Entwicklungen, auch wenn die Leute im Westen glaubten, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der damit verbundenen Einführung der Marktwirtschaft, wäre alles eitel Sonnenschein. Aber an den ehemaligen Genossen störte ihn vor allen Dingen, daß sie ihr Land nicht in den Griff bekamen. Doch bis auch die letzten der alten „Betonköpfe“ ihre Sessel geräumt haben und das Bandenwesen wirkungsvoll eingedämmt wäre, würde noch sehr viel Wasser die Wolga hinabfließen. Aus einem Falken wird nicht plötzlich ein Kanarienvogel, nur weil man ihm statt rohem Fleisch Körnerfutter vorsetzt oder mit gelber Farbe anstrich. Welche Alternative blieb ihm also noch? Der Irak? Saddam Hussein würde ihn sicher mit offenen Armen aufnehmen. Nach dem verlorenen Golfkrieg sann der düstere Kalif bestimmt auf Rache. Was aber dann, wenn der amerikanische Mohr seine Schuldigkeit getan hatte? Orientalischen Machthabern, egal welcher Regierungs­form und Religion sie nach außen hin auch huldigten, konnte man seiner Meinung nach erst trauen, wenn sie zwei Meter tief unter der Erde lagen. Und selbst wenn sie schon ewige Zeiten still vor sich hinmoderten, waren sie immer noch gefährlich, wie die tödlichen Fallen der Pharaonen bewiesen, mit denen sie sich vor Grabräuber schützten.

Was kam also noch in Frage? Israel? Das lag eigentlich am nächsten, wo doch jüdisches Blut in seinen Adern floß, gäbe es da nicht ein Kriterium, das ihn ganz gewaltig störte: die ständigen Reibereien mit den arabischen Nachbarn. Er hatte keine Lust, jeden Tag mit Gasmaske und Uzi schlafen zu gehen. Außerdem hegte er für Begin, Schamir, Perez und Konsorten keine überaus begeisterten Gefühle.

In welches Land er sich auch immer absetzen würde – Angst und Mißtrauen wären seine ständigen Begleiter. Aber vielleicht war es gar nicht notwendig, die Bundesrepublik zu verlassen – er mußte die Sache nur geschickt einfädeln.

Stockwell setzte sich wieder an den Schreibtisch. Wenn er nicht wollte, daß ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann, mußte er einen Gang zulegen. Die Testreihe, das spürte er, bot ihm die Möglichkeit, die bisherigen Erkenntnisse entscheidend zu vervollständigen. Falls er nämlich doch gezwungen wäre, zu fliehen, würde er in seinem neuen Domizil nicht mit leeren Händen dastehen. Seiner Überzeugung nach hatte der Staat mit der Entscheidung, das Projekt aufzulösen, dann Anspruch auf sämtliche bis dato gewonnenen Forschungsergebnisse verwirkt. Diese betrachtete er als sein geistiges Eigentum, auch wenn der Steuerzahler dafür die Mittel bereitstellte. Seit Jahren schon träumte er vom Nobelpreis, aber diesen Traum konnte er wohl für immer begraben. Doch er würde trotz aller Widrigkeiten sein Lebenswerk zu Ende führen und niemand sollte es wagen, ihn daran hindern.

Daß er sein Ziel zu erreichen versuchte, indem er sich auf waffentechnischem Gebiet betätigte, störte ihn nicht besonders. Die Menschheit hatte im Verlauf von Jahrtausenden aus einer Unzahl von dummen Kriegen nichts, aber auch überhaupt nichts gelernt – höchstens, wie man sich gegenseitig noch effektiver abschlachtet. Man würde immer noch mehr schrecklichere Mordwerkzeuge produzieren, so lange, bis man es endgültig geschafft hatte, daß dieser wunderschöne Planet unbewohnbar geworden ist. Warum also den großen Pazifisten markieren? Er allein war nicht in der Lage, dem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Gut – man könnte jetzt dagegenhalten, daß, wenn alle so dächten, die Kriege nie aufhören würden. Aber die Organisationen der Abrüstungsbefürworter hatten keine Chance, noch in diesem Jahrtausend eine merkliche Verbesserung der Verhältnisse herbeizuführen – die Lobby der Rüstungsindustrie war zu übermächtig. In Deutschland mochten die Verhältnisse zwar anders liegen, weil die Wiedervereinigungseuphorie zu einem rapiden Abbau des Feindbildes geführt hatte und man daher keine Notwendigkeit mehr sah, kostspielige Waffensysteme zu installieren, doch die USA würden auf ihren Status als Weltmacht Nr. 1 pochen und weiterhin modernste Kriegsgüter produzieren und sei es auch nur, um damit andere Nationen zu beliefern.

Deshalb ärgerte ihn auch die Frechheit jener Wissenschaftler, die sich wie die Made im Speck in zivile Kernforschungsprojekte eingruben und, weil es Mode geworden war, ihre Kollegen mit pharisäischen Appellen dazu aufriefen, nicht mehr für die Rüstungsindustrie tätig zu sein. Der Gedanke an diese selbstzufriedenen Brüder, die sämtliche Privilegien besaßen, trieb ihm die Galle hoch. Was bildeten sie sich denn bloß ein? Der Löwenanteil an Arbeitsplätzen für Wissenschaftler wurde doch von der Rüstungsindustrie gestellt! Diese Heuchler hatten gut reden! Wenn man verzweifelt einen Job sucht, beurteilt man die angebotene Tätigkeit selten nach ihrem ethischen Wert. Genauso war es auch ihm ergangen, als er nach bestandenem Examen feststellen mußte, daß die Welt nicht gerade mit Enthusiasmus darauf gewartet hatte, daß er ihr nun seine Dienste anbot. Mit jeder Ablehnung seiner Bewerbungen um einen Arbeitsplatz ging auch ein Stück Idealismus in ihm verloren, wurde er der rauhen, ungeschminkten Wirklichkeit wieder um ein Quentchen nähergebracht. Darum hatte er letztendlich auch keine Gewissensbisse, in ein kleineres Projekt miteinzusteigen, bei dem es um die Entwicklung von Computersteuerungen für Kurzstreckenraketen ging. Das war der Anfang seiner Karriere, in deren Verlauf er auch seinen Professorentitel verliehen bekam für herausragende Pionierarbeit auf dem Gebiet der Neutronenforschung.

Stockwell wischte sich mit der Hand über die Stirn. Es war besser, diese Gedanken für den Moment beiseitezuschieben, wenn er etwas Vernünftiges zustandebringen wollte. Es war aber auch nicht leicht, die jüngsten Ereignisse so ohne weiteres zu verdauen! Er atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf seine Berechnungen. Nach ungefähr einer Stunde sprang er wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf. Ungläubig rieb er sich die Augen, aber die Formel auf dem Papier blieb dieselbe. Um sicherzugehen, daß ihm kein Fehler unterlaufen war, rechnete er sie noch dreimal durch, bis er die absolute Gewißheit hatte: ein bemerkenswerter Teilerfolg, auf den er alle zukünftigen Experimente aufbauen konnte, war ihm gelungen!

* * *

Der kalte Nordwestwind, von Island kommend, der durch die Altstadt Kölns fegte und den Nieselregen selbst durch die solideste Kleidung peitschte, ließ Christoph Eichborn am ganzen Leibe erschauern. Doch nicht das miese Wetter, sondern das Wissen um seinen üblen Charakter hätte das Erschauern in ihm auslösen sollen. Zögernd betrat er die Kneipe am Ubierring, in welcher er sich mit seinem Führungsoffizier verabredet hatte. Langsam schritt er durch den Gastraum und blickte suchend umher. In einer Nische fand er den Mann mit dem Decknamen „Waldemar“ und setzte sich zu ihm. Bei der Kellnerin bestellte er ein Pils und nachdem diese es gebracht hatte, fragte er sein Gegenüber:

„Mußte das unbedingt heute noch sein – bei diesem Scheißwetter?“

„Nach alledem, was Sie mir gestern mitteilten – ja“, antwortete Waldemar, von dem Eichborn nicht wußte, daß er René Dassler hieß und Ex-Stasimajor war. „Nächste Woche wäre es vielleicht schon zu spät. Haben Sie das Zeug dabei?“

„Denken Sie, ich würde umsonst hierher fahren?“ fragte Eichborn säuerlich und zog einen Packen in Plastikfolie eingewickelter Fotokopien unter seinem Mantel hervor und reichte ihn Dassler. „Das sind die kompletten Unterlagen über alle Personen, die bei N 1 Führungspositionen innehaben – insgesamt acht Leute. Das war vielleicht ein Nervenkitzel! Wenn man die Akten nicht gerade gebraucht hätte, weil die Abstimmung über das Projekt für alle Beteiligten ein ziemliches Maß an Information erforderte, worauf die Verteidigungsexperten natürlich bestanden, wäre ich niemals an das Material heran­gekommen. Es ist, wie Sie ja schon selber wissen, äußerst brisant und unterliegt daher strengsten Geheimhaltungsbedingungen. Die Forschungsberichte konnte ich leider nicht kopieren, sie waren so umfangreich, daß mir dazu nicht mehr genügend Zeit blieb.“

„Macht nichts. Das Wichtigste haben Sie ja mitgebracht“, sagte Dassler und klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf den Packen. „Gibt es sonst noch irgendwelche Neuigkeiten von Bedeutung?“

„Im Moment wüßte ich keine“, antwortete Eichborn. „Aber wenn Sie mir mal eine Frage gestatten: wie soll es weitergehen? Der Stasi ist doch längst aufgelöst. Wieso fordern Sie von mir immer noch Material an? Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe?“

„Das waren drei Fragen und nicht eine“, stellte Dassler lakonisch fest und grinste zynisch. „Aber ich will sie Ihnen beantworten: Sie sind in der Ex-DDR als Maulwurf ausgebildet worden. Man hat Sie nach 'drüben' geschickt, um der Bundesrepublik Schaden zuzufügen, indem Sie für den Stasi spionieren. Dabei haben Sie, wie geplant, politische Karriere gemacht – sind zum Staatssekretär aufgestiegen und führen ein angenehmes Leben. Hinzu kommt, daß Sie jahrzehntelang von uns ein zweites Gehalt bezogen, das man Ihnen in West-Devisen auf ein Schweizer Nummernkonto überwies – von den Prämien für besonders ergiebige Informationen gar nicht zu reden. Während unsereins, der genauso wie Sie seinem Vaterland diente, nun von der neuen Regierung unbarmherzig in die Pfanne gehauen wird, indem man ihn zum Sozialhilfeempfänger degradiert, sitzen Sie und Ihresgleichen in Amt und Würden. So haben wir nicht gewettet! Deshalb werden Sie uns so lange weiterbeliefern, wie wir es für richtig halten! Oder wollen Sie Ihren schönen Beamtenjob und den damit verbundenen Pensions­anspruch verlieren – womöglich sogar vor Gericht gestellt werden? Ich glaube kaum! Sie fahren auf einem Zug, von dem es kein Abspringen gibt, denn wir müssen uns mit dem Verkauf von Geheiminformationen das nötige Kleingeld beschaffen, um nicht vor die Hunde zu gehen!“

„Das haben Sie schön gesagt, aber für mich ist nun Schluß! Aus! Ende!“ Eichborn bewunderte seine eigene Courage. „Betrachten Sie diese Papiere als Abschiedsgeschenk, denn hiermit kündige ich Ihnen meine Mitarbeit auf!“ Einmal in Fahrt gekommen, fuhr er sogleich fort: „Mein seelischer Zustand ist derzeit in einer solch schlechten Verfassung, daß es mir nichts mehr ausmacht, wenn Sie mich auffliegen lassen. Wie Sie schon richtig bemerkten – ich besitze ein Bankkonto in der Schweiz, das ich im Laufe der Zeit durch geschickte Spekulationen beträchtlich vergrößert habe. Der Pensionsanspruch ist mir also ziemlich egal. Und was die Anklage wegen Hochverrats anbelangt, so bin ich bestens abgesichert. In all den Jahren meiner Agententätigkeit habe ich nämlich zusätzliches Material gesammelt, das ich dem Stasi wohlweislich vorenthielt. Es besteht aus einer Unzahl von Dokumenten, Fotos und Tonbändern, die den halben Bundestag belasten. Lauter nette kleine Schweinereien. Glauben Sie tatsächlich, man würde mir den Prozeß machen? Und letztendlich dürfen Sie nicht vergessen, daß ich Sie sehr genau beschreiben kann, auch wenn ich nicht weiß, wer Sie in Wirklichkeit sind. Eine Denunziation Ihrerseits wäre also für Sie eher von Nachteil.“

„Ich muß gestehen, ich habe Sie unterschätzt“, gab Dassler stirnrunzelnd zu. „In diesem Fall macht es keinen Sinn mehr, Sie weiter unter Druck zu setzen. Beenden wir also unsere Zusammenarbeit.“

„Sehr einsichtig von Ihnen“, lobte Eichborn, ein überlegenes Lächeln im Gesicht. „Damit wäre die Sache wohl erledigt... Und lassen Sie es sich ja nicht einfallen, mich jemals wieder zu kontaktieren!“

Ohne Dassler die Hand zu geben, stand er auf und verließ das Lokal. Als er schon im Wagen saß, fiel ihm ein, daß er die Zeche nicht bezahlt hatte, doch das kümmerte ihn augenblicklich wenig. Er war froh, so gut davongekommen zu sein. Nun würde er Ruhe haben. Zufrieden machte er sich auf den Rückweg nach Bad Godesberg, wo seine Luxusvilla auf ihn wartete.

* * *

Kurz nachdem Eichborn gegangen war, zog Dassler sein. Mobiltelefon aus der Brusttasche seiner Lederjacke. Er wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. Nach mehrmaligem Tuten wurde am anderen Ende abgehoben, doch niemand meldete sich.

„Onkel Stanislaus interessiert sich nicht mehr für seine Familie“, sagte Dassler. Stanislaus war der Deckname Eichborns. „Ich meine, man sollte ihm gut zureden. Er gebärdet sich zwar äußerst uneinsichtig, aber ein Versuch kann ja nicht schaden.“

„Was ist, wenn er sich weigert, in den Schoß der Familie zurückzukehren? fragte eine Stimme, die Dassler gut kannte, weil sie von einem Mann kam, der ebenso wie er dem ehemaligen Stasi angehörte.

„Dann wird die Familie mit ihm für alle Zeiten nichts mehr zu tun haben wollen“, sagte Dassler und sprach damit das Todesurteil über Christoph Eichborn aus.

* * *

„Herzlich willkommen!“ strahlte Victor Malanjuk und kam Dassler mit ausgestreckter Hand entgegen. „Ich hoffe, Sie bringen positive Nachrichten. Was darf ich Ihnen anbieten?“

„Einen doppelten Krepkaja mit Eis“, antwortete Dassler und schüttelte seinem Gastgeber betont reserviert die Hand. Er konnte diesen Schleimbeutel auf den Tod nicht ausstehen, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen – und Malanjuk war ein besonders fettes Exemplar.

Dassler wußte über ihn bis vor kurzem nur, daß er mit jeder erdenklichen Art von heißer Ware handelte, die es sich zu vertreiben lohnte: Waffen, Embargogüter, Rauschgift und sogar auch Menschen, wenn er sich davon ein großes Geschäft versprach. Es gab auf der ganzen Welt keinen Geheimdienst, der nicht eine Akte über ihn geführt hätte, aber komischerweise war niemand erpicht darauf, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Wahrscheinlich lag es daran, daß man sich nur allzugern seiner weitverzweigten Verbindungen bediente, wenn es wieder einmal galt, ein prekäres Problem zu lösen.

Er nahm den dargereichten Wodka in Empfang und kippte ihn mit einem Zug hinunter. Der starke Alkohol explodierte angenehm in seinem Magen. Das Wodkasaufen hatte er sich bei den Kollegen vom KGB angewöhnt, aber im Gegensatz zu den Genossen trank er ihn nur eisgekühlt, weil er davon weniger schnell betrunken wurde. Er machte seinem Gastgeber ein Zeichen, das Glas neu zu füllen und dienstbeflissen wie ein Lakai kam dieser der Aufforderung nach. Wenn es um viel Geld ging, scherte sich Malanjuk einen Dreck darum, ob man ihn wie einen solchen behandelte.

„Der wissenschaftliche Projektleiter ist uns bekannt“, begann Dassler die Verhandlung. „Es liegt jetzt bei Ihnen, zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen sollen.“

„Hm... Er wird sich bestimmt nach einem neuen Projekt umsehen – jetzt, wo das alte aufgelöst ist“, sinnierte Malanjuk. „Man müßte ihm ein gutes Angebot unterbreiten, wie heißt denn der Knabe eigentlich?“

„Halten Sie mich für so beschränkt, daß ich Ihnen das verrate?“ fragte Dassler, verärgert über den plumpen Versuch, ihn zu überrumpeln. Angewidert nahm er noch einen kräftigen Schluck von seinem Wodka. Diese fette Qualle war echt nur in alkoholisiertem Zustand zu ertragen. „Was ist, wenn er ablehnt? Und das wird er mit Sicherheit, solange er vorher seinen Auftraggeber und das Land, in dem er arbeiten soll, nicht erfährt.“

„Bei diesem Status quo muß es auch bleiben“, lächelte Malanjuk listig. „Mein Klient würde es mir nie verzeihen, wenn ich indiskret wäre. Was glauben Sie, warum ich noch am Leben bin?“

„Weil du ein durch und durch mieses Dreckstück bist!“ dachte der Stasimajor grimmig. „Und weil du, im Gegensatz zu Leuten unseres Schlages nicht den geringsten Funken von Selbstachtung besitzt! Was kann man denn schon groß von einem Mann verlangen, dessen Spezialität es ist, Waffen an beiderlei Konfliktparteien zu liefern?“

„Haben Sie eine Idee, wie dieses Problem aus der Welt zu schaffen ist?“ unterbrach Malanjuk seine Gedankengänge.

„Da gibt es nur eine Möglichkeit – Entführung“, antwortete Dassler und registrierte, daß Malanjuk bei dieser Eröffnung keine Miene verzog. „Aber das wird Sie einiges kosten, denn derlei Unternehmungen sind äußerst riskant und müssen daher sorgfältigst geplant werden.“

„Wieviel?“

„Zwei Millionen.“

„Unmöglich!“ lehnte Malanjuk ab. „Dafür bekomme ich ein ganzes Regiment Söldner!“

„Sie vergessen wohl, daß wir im Besitz der Unterlagen sind, die es uns ermöglichen, diesen Coup erfolgreich durchzuführen.“ Dassler genoß seine Überlegenheit. „Da nützt Ihnen nicht mal ein Heer von Söldnern.“

„Mag schon sein“, entgegnete Malanjuk, „aber mehr als eine Million ist nicht drin.“

„Sind wir in einem Basar – oder wie sehe ich das?“ Dassler wurde nun ärgerlich. „Ich kann mir gut vorstellen, daß bei dem Geschäft das Zehnfache an Ihren Schmutzfingern kleben bleibt! Keine lange Debatte – zwei Millionen!“

„Also gut.“ Malanjuk machte eine resignierende Geste. „Das ist zwar Raub, aber ich habe meinem Klienten leider schon zugesagt. Gibt es sonst noch welche Bedingungen?“

„Die gibt es.“ Dassler kostete seinen Sieg voll aus. „Eine Million in bar vorab, die andere wenn wir liefern. Wir stellen die übliche Ausrüstung wie Waffen und Autos, aber für alles, was darüber hinausgeht, kommen Sie auf. Wir wollen ja schließlich nicht, daß unsere Prämie von den Spesen aufgefressen wird.“

„Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an“, gab sich der Ukrainer geschlagen. „Besprechen wir also noch die Einzelheiten der Übergabe.“

* * *

Die gespenstische Stille im Kontrollraum des Versuchsreaktors mochte vielleicht bei einem Außenstehenden ein banges Gefühl erwecken, doch Stockwell störte sich nicht daran. Wie oft schon hatte er hier in einsamen Nächten, wenn alle Mitarbeiter längst in den Federn lagen, bis zum Umfallen gearbeitet! Böse Zungen behaupteten, daß er seine Sexualtriebe auf diese Art und Weise ausleben würde, weil keine Frau der Welt einen derartig fanatischen Wissenschaftler zum Mann haben möchte. Solange die Crew ihren Arbeiten nachkam, verspürte er kein sonderliches Bedürfnis, dem Getratsche ein Ende zu bereiten – sollen sie sich doch die Mäuler zerreißen! Für ihn war einzig und allein wichtig, daß der Betrieb wie ein Uhrwerk lief. Und dem war auch so, denn er wurde von allen akzeptiert, auch wenn man ihn allgemein nur als „Professor Drüsendieb“, dem etwas umgewandelten Namen einer berühmten Comic-Figur, betitelte. Aber dieses spaßige Pseudonym besaß nach seinem Empfinden mehr Aussagekraft, als die Verleihung eines Ehrendoktors irgendwelcher Hinterbänkleruniversitäten, mit dem Ziel, beider Seiten Image durch diese nichtssagende, lächerliche Farce aufzuwerten. Ein beinahe hämisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er sich in Gedanken den feisten, fremdsprachenunkundigen Bundeskanzler im Talar mit Doktorhut und baumelnder Quaste vorstellte. All diese Titel, die ihm auf seinen Staatsbesuchen verliehen wurden, dienten doch in erster Linie nur dem Zweck, auf schlitzohrige Weise Entwicklungshilfegelder aus ihm herauszukitzeln, die dann zumeist für Waffenkäufe verwendet wurden, um die Opposition im eigenen Lande besser unterdrücken zu können. Aber in dieser Hinsicht konnte man den Deutschen keinen Vorwurf machen – hatten ihnen doch die Amis vorexerziert, wie man diktatorische und menschenrechtsverletzende Regimes wirksam unterstützt – Hauptsache, sie schwenkten nicht zum Kommunismus über! Daß diese vom Westen geförderten Mörder wie Pinochet, Marcos, Somoza oder auch Noriega in ihrem Machtbereich tun und lassen konnten, was sie wollten, interessierte die Nation der „Weltpolizisten“ herzlich wenig – die Festung mußte gegen den allesverschlingenden Bolschewismus gehalten werden, was spielten da mehrere hunderttausend ermordeter Andersdenkender für eine Rolle?

Stockwell gab eine Reihe von Zahlen in den Computer ein und ließ den Reaktor anlaufen. Es war kein Kernspaltungsreaktor, sondern ein Fusionsreaktor, der auf dem Prinzip der Kernverschmelzung basierte. Bei der Atomspaltung wird die Kraft zu fünfundneunzig Prozent in Hitze umgesetzt und nur fünf Prozent in harte Strahlung. Die Kernverschmelzung hingegen, wie das Beispiel der Wasserstoff­bombe zeigt, läßt die Energie in fast umgekehrtem Maße freiwerden: ungefähr achtzig Prozent Strahlung und zwanzig Prozent Druck und Hitze. Die Neutronenwaffe funktioniert ähnlich wie eine Wasserstoffbombe, doch hat man die Freisetzung von Druck und Hitze nahezu auf null Prozent reduziert, denn es gibt mehrere Arten von Kernverschmelzungen, die sich durch die Verwendung unterschiedlicher Atome erreichen lassen. Bei der Neutronenbombe werden die Atomkerne des Schwerwasserstoffes Deuterium mit denen des Schwerstwasserstoffes Tritium verschmolzen, aus deren Reaktion sich dann ein Helium-Atomkern bildet, welcher ein Neutron ausstößt. Gleichzeitig wird eine Energie von 17,6 Millionen Elektronenvolt frei, von der sich 14,1 MeV als Bewegungsenergie auf das Neutron übertragen. Den Rest der Strahlung bilden die Heliumkerne mit 3,5 MeV, die man auch Alpha-Teilchen nennt. Diese Alphastrahlung ist „weich“ und in ihrer Reichweite sehr gering. Es genügt schon eine Zeitung, um sie aufzuhalten. Die Neutronenstrahlung jedoch ist die härteste, die man mittels Kernreaktion erzeugen kann, weil ihr Flug nur durch einen Zusammenprall mit anderen Atomkernen gestoppt werden kann. Aber da beim Mikrokosmos nur ein Hunderttausendstel des Raumes von einem Atom ausgefüllt wird, ist die Möglichkeit einer Kollision verschwindend gering. Daher können sie Materie wie Stahl so ungehindert durchdringen, wie eine Gewehrkugel unser Sonnensystem. Die Explosion einer Neutronenbombe läßt also Gegenstände unversehrt und vernichtet nur organisches Leben. Das geschieht, indem die Neutronen ihre Energie an die in den Körperzellen vorhandenen Wasserstoff-Atomkerne abgeben und ihnen dabei einen Stoß versetzen. Die getroffenen Kerne brechen die Molekülverbände auf und zerstören so die Zellsubstanz, weil die ionisierte Neutronen­strahlung den Informationsaustausch, der mittels elektrisch geladener Atome stattfindet, welche durch die sogenannten „Ionenkanäle“ wandern, rigoros unterbindet, so daß der menschliche Organismus regelrecht „versaftet“ wird.

Aber diese Waffe hatte ebenso wie die Atom- oder Wasserstoffbombe den großen Nachteil, daß Freund und Feind gleichermaßen betroffen wären, sollte sie das Ziel auch nur geringfügig verfehlen. Zudem war sie von den Militärs nur als taktische Atomwaffe konzipiert, um damit im Notfall die konventionellen Streitkräfte zu unterstützen. Doch ihr Einsatz hätte womöglich einen Gegenschlag mit schmutzigen A-Waffen zur Folge, weil sich der Feind an die Wand gedrängt fühlen würde, da es sich ja auch um ein Massenvernichtungsmittel handelt. Die Auswirkungen wären eine Eskalation des Krieges mit anschließender Apokalypse.

Als Abschreckungswaffe war die Neutronenbombe demnach keinen Schuß Pulver wert. In den Arsenalen der Weltmächte lagerten Mordinstrumente, mit denen man weitaus verheerendere Zerstö­rungen anzurichten vermochte. Dieses Ding war also eher insofern gefährlich, weil es einen Atomkrieg ungeahnten Ausmaßes heraufbeschwören konnte. Was aber tun, um die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes auszugleichen? Militärexperten kamen auf die Idee, eine Kanone zu ent­wickeln, mit der man in der Lage ist, gezielt Neutronen zu verschießen. Damit wäre das Thema Massenvernichtung vom Tisch. Und so startete die Bundesregierung das Projekt „N 1“, dessen wissen­schaftliche Leitung sie Professor Dr. Walter Stockwell übertrug.

Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens lagen darin, einen Reaktor zu bauen, der klein genug war, um in ein Fahrzeug montiert werden zu können. Gleichzeitig mußte ein Träger entwickelt werden, der die Neutronen an den Zielort zu transportieren, in der Lage sein würde. Das Problem des miniatu­risierten Kernreaktors hatte man mit Bravour gelöst – seine Abmessungen waren vergleichbar mit denen eines Portable-Fernsehapparates. Wenn man bedachte, daß die Reaktoren auf Atom-U-Booten schon recht winzige Ausmaße hatten, nahm sich diese total neuartige Konstruktion dagegen wie ein Stecknadelkopf aus. Es kostete ziemlich viel Zeit und vor allen Dingen auch Geld, bis der Prototyp dieses technischen Wunderwerkes endlich den hohen Ansprüchen gerecht wurde.

Anders verhielt es sich mit dem Bau des Infrarotlasers, der die Neutronen gebündelt an ihren Bestimmungsort bringen sollte. Das warf insofern Probleme auf, weil die Neutronen per Magnetfeld in den Laserstrahl miteingebunden werden mußten, da sie sonst unkontrolliert in alle Richtungen davon­fliegen würden. Aber es gesellte sich noch eine Komplikation hinzu: Laserlicht und Neutronen benötigten eine Beschleunigung, ähnlich wie bei einem abgefeuerten Projektil. Das Laserlicht, weil es genügend an Reichweite erbringen mußte, und die Neutronen, weil sie ohne großen Druck sonst keine feste Materie durchdringen könnten. Um dies zu erreichen, arbeitete man fieberhaft daran, einen Teilchenbeschleuniger zu entwickeln, mit dem es möglich ist, Elektronen (aus denen gewissermaßen das Licht besteht) und Neutronen synchron auf eine hohe Geschwindigkeit zu bringen.

Das Kürzel LASER bedeutet im englischen Sprachgebrauch Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation, was auf Deutsch soviel heißt, wie: Lichtverstärkung durch angeregte Aus­sendung von (Licht-)Strahlen, also ein Lichtverstärker. Seit man im Jahre 1960 den ersten Rubinlaser entwickelte, hatte dieser Forschungsbereich einen ungeahnten Aufschwung erfahren. Man benutzt heutzutage Laserroboter zum Bohren, Schneiden und Schweißen von Kunststoff und Metall – vor allem in der Automobilindustrie. Ohne den Halbleiterlaser gäbe es keine digitale Unterhaltungselektronik. Auch in der Medizin, zur Nachrichtenübermittlung oder auch bei der Erforschung modernster Tech­nologien, wird dieses Wundergerät immer unentbehrlicher. Die universellen Einsatzmöglichkeiten waren bislang nicht im entferntesten ausgeschöpft. Welche Zukunftsaussichten der Laser hatte, würde sich erst im nächsten Jahrtausend, wenn der technische Standard noch höher läge, herausstellen.

Doch die Zukunft hatte für Stockwell schon begonnen. Wenn es ihm gelänge, die letzte Hürde zu nehmen, wäre dies ein elementarer Fortschritt – nicht nur auf dem Gebiet der Waffentechnik. Ungezählte Anwendungsmöglichkeiten im zivilen Bereich würden sich daraus ergeben, deren Ausbau- und Steigerungsfähigkeit alles bisher Dagewesene unbedeutend erscheinen ließe. Sein Name würde mit denen anderer berühmter Erfinder und Wissenschaftler in einem Atemzug genannt werden! Und dann der Reichtum, der hinzukäme! Nie wieder müßte er sich mit irgendwelchen dummen Regierungs­lakaien herumschlagen, weil er nämlich dann finanzielle Unabhängigkeit besäße und sein eigenes Forschungsinstitut errichten könnte. Keiner dieser armseligen Wichte hätte jemals wieder die Macht, ihm Befehle zu erteilen!

Routiniert hantierte er mit Tasten und Schaltern, bis ihm die Kontrollanzeigen verrieten, daß der Reaktor betriebsbereit war. Dann startete er die Experimente, deren Daten er zuvor in den Computer eingegeben hatte. Ruhig und konzentriert verrichtete er seine Arbeit, während die Zeit unbarmherzig verrann. Auf mehreren Monitoren beobachtete er atemlos die jeweils verschiedenen Vorgänge, doch ein Erfolg wollte sich zunächst nicht einstellen. Nach fast zwei Stunden, als schon ein wenig Nieder­geschlagenheit von ihm Besitz ergriff und ihn an der Richtigkeit seiner Berechnungen zweifeln ließ, sah er auf einem der Bildschirme ein Diagramm, dessen Anblick ihn förmlich elektrisierte. Rasch tippte er den Befehl zum Ausdrucken in den Computer und wenig später hielt er das Diagramm in der Hand.

Die Arbeit hatte sich also doch gelohnt! Seine Berechnungen stimmten! Aber trotz der Euphorie wartete er noch, bis das restliche Programm abgewickelt war – man konnte ja nie wissen... Doch es ergaben sich keine neuen Aspekte mehr. Nun war er plötzlich wieder hellwach! Dieses Stück Papier bedeutete für ihn den Schlüssel zur Lösung seiner kniffligen Aufgabe! Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, setzte er sich wieder an den Schreibtisch und verglich das Diagramm mit seinen Berech­nungen.

Es wurden seit dem Bau des allerersten Lasers eine Vielzahl unterschiedlicher Typen von Licht­verstärkern entwickelt, deren Licht sich aus Hunderten von Substanzen erzeugen läßt. So gibt es zum Beispiel Festkörperlaser, Gaslaser, chemische Laser, Moleküllaser und Excimerlaser. Deshalb standen in der Versuchshalle, gleich neben dem Reaktorraum, ganze Batterien dieser Apparate zur Verfügung. Ein jeder war mit einer anderen Substanz bestückt und an den Teilchenbeschleuniger angeschlossen. Dieser bezog seine Energie wiederum vom Reaktor, der natürlich auch die Neutronen produzierte. Aber diesmal hatte Stockwell nicht nur ausschließlich mit den Lasern experimentiert, sondern auch mit verschiedenen Halbleitermaterialien, welche neuerdings bei der Bundespost für gebündelte Daten- und Fernsprechübertragung verwendet werden, wie zum Beispiel Glasfaser. Diese Technologie setzt selbstverständlich den Einsatz von Halbleiter-Laserlicht voraus, weil sich normales Licht nicht schnell genug modulieren läßt.

Glasfaserkabel besitzen gegenüber herkömmlichen Kupferkabeln den großen Vorteil, daß der Energieverlust, hervorgerufen durch den Reibungswiderstand der Elektronen, weitaus geringer ist. So benötigt man zum Ausgleich bei Kupferkabeln alle paar Kilometer eine Verstärkerstation, während der Abstand bei der Nachrichtenübermittlung per Glasfaser hundert Kilometer und mehr beträgt. Ein absolutes Null an elektrischem Widerstand würden natürlich supraleitende Stoffe erbringen, doch diese befinden sich noch im Experimentierstadium. Sie müssen in aufwendigen Verfahren auf Minus­temperaturen um die 150 Grad gekühlt werden, weil der Widerstand mit zunehmender Kälte abnimmt – auf alle Fälle eine Technologie mit vielversprechender Zukunft, auch wenn ihre kommerzielle Auswertung bestimmt noch etliche Jährchen auf sich warten lassen wird.

Gerade der Versuch mit der Glasfaser war erfolgreich verlaufen. Stockwell erhoffte sich davon neue Erkenntnisse, die ihm bei der Lokalisierung der passenden Substanz für den Betrieb des Lasers von Nutzen sein würden, damit Elektronen und Neutronen gleichermaßen durch ein- und denselben Magnetfeldbeschleuniger zu einem weitreichenden Strahl gebündelt werden können. Das Schema, das auf dem Diagramm abgebildet war, zeigte eindeutig den geregelten Fluß beider Teilchenarten. Auch die Geschwindigkeit stimmte überein. Stockwell fragte sich, ob ihm die Synchronisation vielleicht auch bei einem stinknormalen Kupferkabel gelingen würde, ohne die Justierung des Beschleunigers verändern zu müssen. Aber weil man überheblicherweise nicht daran dachte, dieses profane Metall in die Forschung miteinzubeziehen, fand er keine Versuchsanordnung, die Kupfer enthielt.

„Wenn ich momentan nicht andere Sorgen hätte, die mich auf Trab halten, könnten sich am Montag etliche Leute auf einen gehörigen Tritt in den Hintern gefaßt machen!“ dachte er wütend und marschierte zwei Etagen tiefer ins Materiallager. Dort fand er nach kurzem Suchen ein zweipoliges Kupferkabel, das für seine Zwecke geeignet schien. Zurück im Laserraum, schloß er das Kabel an den Beschleuniger an und rollte es circa dreißig Meter weit aus. Dann ging er in den Reaktorkontrollraum und wiederholte den Versuch mit den gleichen Werten. Das ausgedruckte Diagramm zeigte ein mit dem ersten Versuch fast identisches Muster, nur mit dem Unterschied, daß die Zahlen auf dem Monitor einen wesentlich langsameren Teilchenfluß verdeutlichten. Also lag es nur am stärkeren Widerstand. Stockwell erhöhte langsam die Leistung des Beschleunigers, und siehe da, die Teilchen flossen schneller.

Da Reaktor und Beschleuniger unter Minimallast, welche nur vom Computer gemessen werden konnte, liefen, waren die Versuche absolut ungefährlich. Aber nun hatte Stockwell Blut geleckt. Daraus ließ sich ganz gewaltig etwas machen! Eine Idee keimte in ihm auf, die er sogleich kurzentschlossen in die Tat umsetzte, indem er sich aus dem Materiallager einen Telefonapparat, wie man ihn für Nebenstellen verwendete, besorgte. Mit fliegenden Fingern verband er die Zuleitung des Telefons mit dem Kupferkabel. Dann hängte er den Hörer aus und begab sich wieder in den Kontrollraum. Nach einigen Berechnungen am Computer fuhr er die Leistung von Beschleuniger und Reaktor auf die vorgegebenen Werte hoch, ohne aber den Teilchenfluß zu aktivieren. Als er dann per Tastendruck den Impuls auslöste, war sein Augenmerk einzig und allein auf das Telefon gerichtet. Eine gleißende Kugel von der Größe eines Fußballs umhüllte den Hörer, als sich die Neutronen am Ende der Leitung in alle Richtungen entluden. Stockwell jubelte innerlich. Das improvisierte Experiment war geglückt!

Um seinen Triumph zu vervollständigen und gleichzeitig endgültigen Aufschluß über den Wirkungs­grad seiner Entdeckung zu gewinnen, holte er aus der Versuchstierabteilung einen Käfig, in dem sich ein Meerschweinchen befand. Das arme Tier spürte, daß seine Lebensuhr kurz vor dem Ablaufen stand und gebärdete sich dementsprechend. Im Laserraum legte er den Hörer in den Käfig und ließ dann den Versuch erneut anlaufen. Der Kugelblitz warf das Meerschweinchen mit Wucht an das Käfiggitter, wo es reglos liegenblieb. Stockwell schlüpfte in einen Strahlenschutzanzug und untersuchte es gründlich. Die Strahlungsdosis hatte ausgereicht, den Körper in eine geleeartige Masse zu ver­wandeln. Er maß noch die Reststrahlung, welche sich aber als relativ ungefährlich erwies. Dann gönnte er sich auf dem Feldbett den wohlverdienten Schlaf.

Stockwell

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