Читать книгу Stockwell - Alexander Smokov - Страница 5
ОглавлениеDRITTES KAPITEL
Die rauchgeschwängerte Luft in dem Wohnmobil mit den schwarzgetönten Scheiben war zum Schneiden dick. Hinzu gesellten sich die Ausdünstungen von drei Männern, deren Körper aufgrund reichlich konsumierten Alkohols in Verbindung mit Knoblauchwurst ordentlich ins Schwitzen gerieten. Der Wagen stand in einer kleinen Parkbucht, nahe der Gemeinde Oberbach, an der Straße von Bad Brückenau nach Wildflecken. Bayerische Rhön – eine widersinnige Mischung aus Naturpark und militärischen Sperrgebieten. Und genau an solch einem Sperrgebiet schlängelte sich diese Straße vorbei. Das war für die Männer insofern von großer Bedeutung, weil eine Zufahrt ins Sperrgebiet vom Oberbach aus abzweigte, die bei jenem Komplex endete, in welchem das Projekt N 1 durchgeführt wurde.
„Nun sitzen wir schon mehr als zwanzig Stunden hier und warten darauf, daß der Fuchs seinen Bau verläßt“, maulte Gregor Maslowski, ein ehemaliger Stasi-Unteroffizier polnischer Abstammung, und verzog sein breites Gesicht zu einer mißmutigen Grimasse. „Irgendwann werden wir auffallen.“
„Das glaube ich auch“, schloß sich Wassili Pilajew, vormals Polit-Offizier der Roten Armee, Maslowskis Meinung an. Sein grammatikalisch einwandfreies Deutsch wurde durch den harten russischen Akzent ein wenig getrübt. Als die Sowjets nach der Wiedervereinigung ihre Truppen aus der Ex-DDR abzogen, war er desertiert, weil ihn die tristen Zukunftsperspektiven des Soldatenstandes in der Heimat zutiefst abschreckten. No Future für einen kleinen Hauptmann, der den unbarmherzigen Abrüstungsmaßnahmen zum Opfer fallen würde. Also schloß er sich René Dassler an, mit dem ihn jahrelange berufsbedingte Zusammenarbeit verband. Zwar hatte er schon mehrere kriminelle Anläufe einer erfolglosen Existenzgründung hinter sich, unter anderem auch als Schutzgeldeintreiber bei einer der sogenannten „Balalaika-Banden“, welche russische und jüdische Geschäftsinhaber um ihre Einnahmen brachten, doch als er einen dieser „Schmocks“, wie er seine „Kunden“ zu nennen pflegte, etwas härter anfaßte, was dessen Tod zur Folge hatte, wurde ihm der Berliner Boden zu heiß. Do swidanija, du schöne Metropole! Do swidanija Germanija! Wenn dieser Job durchgezogen war, würde er sich nach den Vereinigten Staaten absetzen – dort gab es für geübte Killer eine jede Menge zu tun. Die Mafia ließe sich bestimmt nicht lumpen. Erfahrung, kombiniert mit Präzision, zahlt sich eben in jeder Hinsicht aus.
„Ich bekomme so allmählich auch meine Bedenken“, gab Dassler zu. „Wir sollten in der Nähe seines Hauses auf ihn warten. Es wäre zwar schön gewesen, ihn auf dieser wenig befahrenen Straße zu schnappen, aber die Gegend hier ist auf die Dauer zu gefährlich, weil Landbewohner im allgemeinen sehr mißtrauisch sind. Dann dürfen wir auch nicht die Militärfahrzeuge vergessen, die regelmäßig herumkurven. Wie leicht könnte da jemand Verdacht schöpfen. Es ist aber auch zu dumm! Diese fanatischen Wissenschaftler sind wirklich unberechenbar! Los, fahren wir nach Bad Brückenau!“
„Was machen wir, wenn er überhaupt nicht kommt?“ fragte Maslowski.
„Das gibt es nicht“, antwortete Dassler bestimmt. „Irgendwann muß er doch seine Wäsche wechseln. Keine Angst, wir kriegen ihn schon!“
„Martin wird einen ordentlichen Haß schieben. Würde mir genauso gehen, wenn ich ganz mutterseelenallein Stockwells Burg bewachen müßte“, sagte Maslowski.
Martin Behrend war der vierte im Quartett und früher ebenfalls Unteroffizier gewesen. Seine Stärke lag im technisch-elektronischen Bereich, daher hatte man ihm die Verantwortung für Waffen und Geräte übertragen.
„Der kann sich dann ein paar Stunden aufs Ohr hauen“, grinste Dassler zu Maslowski gewandt. „Und du bist mit der ersten Wache dran. Ich möchte bloß wissen, was in diesen Kerlen vorgeht, daß sie für ihre Arbeit sogar das freie Wochenende sausen lassen.“
„Das tun wir doch auch“, witzelte Pilajew. „Oder stimmt das etwa nicht?“
„Ist schon richtig“, gab Dassler zu, „aber bei uns geht es ja schließlich um höhere Beträge.“
„Vielleicht denkt Stockwell genauso“, sagte Pilajew. „Immerhin brächte ihm ein sensationeller Durchbruch Ansehen und Reichtum ein.“
„Aber jetzt doch nicht mehr, nachdem das Projekt abgeblasen ist. Da wäre er schön dumm. Würdest du dich noch für die Firma einsetzen, die dich rausgeschmissen hat?“ Dasslers Frage klang belustigt.
„In seinem Fall mag es sogar angebracht sein, wenn er an Erkenntnissen noch so viel wie möglich zu gewinnen versucht“, verteidigte Pilajew seinen Standpunkt. „Er muß ja etwas in der Hand haben, womit er einen neuen Arbeitgeber von seinen Qualitäten überzeugen kann.“
„Von dieser Warte her habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet“, staunte Dassler. „Du verdammter Piroggenfresser bringst mich da auf eine gute Idee!“
„Du meinst, wenn wir ihn einkassieren, sollten wir sein Haus nach gewissen Unterlagen durchsuchen?“ kam ihm Pilajew zuvor. „Daran habe ich schon die ganze Zeit gedacht, weil wir nämlich dafür noch extra Kohle herausschlagen können.“
„Genau das ist es!“ Dassler schlug Pilajew vergnügt mit der Hand auf den Rücken. „Du raffinierter Hund! Das bringt uns zusätzlich noch eine Million ein. Dann hätten wir endgültig ausgesorgt!“
Daß natürlich er am besten ausgesorgt hätte, verstand sich von selbst. Seine Cleverness ließ ihn kurz vor der Maueröffnung den totalen Zusammenbruch des DDR-Regimes erahnen. Zu den Verlierern wollte er keinesfalls zählen. Also tat er sich mit einigen Gleichgesinnten zusammen und verschob volkseigenes Kriegsmaterial in Länder der Dritten Welt. Die so gewonnenen Devisen verwendete er anschließend zum Ankauf von DDR-Währung, weil er spitzbekam, daß noch vor der Wiedervereinigung die DM eingeführt werden sollte. Diejenigen Landsleute, denen er ihr sauerverdientes Geld zum Kurs von zehn zu eins abgeluchst hatte, würden sich bestimmt noch heute vor Wut in den Hintern beißen, denn die Währungsumstellung brachte in der Regel einen Umtausch von zwei zu eins mit sich. Derlei Geschäfte waren so ganz nach seinem Geschmack. Das siebenstellige Bankkonto in der Schweiz half ihm über den Verlust seiner Lebensstellung locker hinweg. Sozialismus ade. Der Staatsratsvorsitzende ist politisch tot – es lebe der Kapitalismus!
Auf einen Wink Dasslers hin begab sich Maslowski in die Führerkanzel des Wohnmobils. Er startete den Motor und der Wagen rollte an. Sie benötigten eine knappe Viertelstunde für die zehn Kilometer bis zu Stockwells Haus. Maslowski parkte schräg gegenüber, so daß sie die Einfahrt gut im Auge behalten konnten. Gleich daneben befand sich ein Jugo-Restaurant, in dem sie Behrendt antreffen würden.
„Es wurde aber auch Zeit“, grummelte dieser in sächsischem Dialekt, als sich die Kumpane an seinem Tisch niederließen. „Die Genossen hier machen schon um Mitternacht dicht. Eine zweite Nacht lang hätte ich mir nicht mehr die Beine in den Bauch gestanden. Bei diesem naßkalten Scheißwetter friert man sich echt den Arsch ab.“
„Nu mach nich gleich so'n Theater!“ äffte Dassler seinen Dialekt nach, was bei den anderen Heiterkeit hervorrief. „Ich habe dich auf diesen Posten gestellt, weil es im Sperrgebiet mehrere Ausfahrten gibt. Ein dummer Zufall hätte dazu führen können, daß Stockwell sich gerade an diesem Wochenende für eine andere Route entscheidet. Wenn er zum Beispiel nach Fulda fährt, um einzukaufen, ist es für ihn angenehmer, das Sperrgebiet zu durchqueren, als es weiträumig zu umfahren, da es von Motten aus nur noch zwölf Kilometer bis ins Stadtzentrum sind. Er wäre dann auf einem anderen Weg zum Haus zurückgekommen und wir hätten in die Röhre geguckt. Deshalb der ganze Aufwand, damit du uns über Funktelefon alarmierst, wenn er sich hier blicken läßt. Hast du das nun endlich begriffen?“
„Ich glaube schon“, antwortete Behrendt kleinlaut. Wenn es um seine geliebte Technik ging, machte ihm so schnell keiner etwas vor. Aber anscheinend war er nur einseitig talentiert, denn er brauchte oft ziemlich lange, um eine Sache richtig zu kapieren. „Wie geht es nun weiter?“ fragte er, um Dassler davon abzubringen, sich weiter auf seine Kosten lustig zu machen.
„Wir haben beschlossen, hier auf ihn zu warten“, gab ihm Dassler zur Antwort. „Es war ein Fehler, sich darauf zu verlassen, daß er pünktlich wie alle anderen Mitarbeiter des Projekts seinen Dienst beenden würde. Dieser Mann ist ein beruflicher Fanatiker. Unberechenbar bis dorthinaus. Aber ich habe es im Urin, daß er bald kommen wird. Du kannst dich einstweilen für ein paar Stunden aufs Ohr hauen.“
* * *
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erinnerte Oberinspektor Guntram Frey daran, daß es eigentlich an der Zeit wäre, zu frühstücken. Scheiß Nachtdienst! Normalerweise würde er jetzt im Schnellimbiß sitzen und sich ordentlich was hinter die Zähne klemmen. Anschließend wäre Matratzenhorchen angesagt. Doch das alles mußte er nun verschieben, weil sich so ein blöder V.I.P. tatsächlich erdreistet hatte, während seiner Schicht den Löffel abzugeben. Aber vielleicht hatten ja die Kollegen von der Mordkommission ein Herz.
Er klopfte an eine Tür mit der Nummer 201 und betrat, ohne das obligatorische „Herein“ abzuwarten, den Raum.
„Ich bin mit Kommissar Grabach verabredet“, erklärte er einer etwas ältlichen Sekretärin und schielte begehrlich auf die volle Glaskanne, die dampfend auf der Warmhalteplatte einer Kaffeemaschine stand. „Mein Name ist Frey.“
„Ach ja“, sagte sie und erhob sich von ihrem Sessel. „Herr Grabach hat mir ihr Kommen angekündigt. Wenn Sie mir bitte folgen wollen...“
Sie führte ihn in ein angrenzendes Büro, das überaus geschmackvoll, ohne aber pompös zu wirken, eingerichtet war. Frey kannte Grabach schon von früheren Begegnungen her, so daß sich die Begrüßung freundschaftlich gestaltete. Beide schätzten jeweils des anderen Kompetenz.
„Tut mir leid, wenn ich Sie um Ihren wohlverdienten Schlaf gebracht habe“, begann Grabach das Gespräch, „aber ich glaube, das ist ein echter Fall für den Verfassungsschutz.“
„Mir tut es auch leid“, grinste Frey etwas müde, „doch was soll ich machen? Im Moment ist Ferienzeit. Wir sind total unterbesetzt. Da muß man schon mal Abstriche in Kauf nehmen, was das Privatleben anbetrifft. Außerdem habe ich das Gefühl, daß ihr euch bloß vor der Arbeit drücken wollt“, fügte er verschmitzt hinzu.
„Wo denken Sie hin!“ verteidigte sich Grabach, auf den Spaß eingehend. Dieser Mord fällt eindeutig in Ihr Ressort. Aber zuerst werden wir einmal Kaffee trinken. Sie haben doch sicher auch Hunger. Ich werde uns aus der Kantine belegte Brötchen kommen lassen.“
Also hatte man doch ein Herz für ihn! Heißhungrig verschlang Frey die Brötchen. Jetzt wußte er auch, warum der Kaffee nicht aus der Kantine geholt wurde: die Sekretärin verstand es ausgezeichnet, ihn zuzubereiten.
„Der Tote heißt Christoph Eichborn und ist Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Er wurde von einem holländischen Urlaubsreisenden auf dem Autobahnrastplatz Kleineichen gefunden, als dieser mal ins Gebüsch ging, um auszutreten. Die Tatwaffe ist mit Sicherheit eine Kalaschnikow, wie sie auch von RAF-Terroristen bevorzugt wird“, eröffnete ihm Grabach den Fall, nachdem die Sekretärin das Geschirr abgeräumt hatte.
„Eine Kalaschnikow sagt noch nichts aus“, gab Frey zu bedenken. „Die kann man jederzeit für ein paar hundert Mark von russischen Waffenschiebern bekommen. Was glauben Sie, wieviele dieser Dinger momentan im Umlauf sind, gerade jetzt, wo die Rote Armee abzieht? Die Brüder wollen doch alle mit vollen Taschen in die Heimat zurückkehren, weil sie nicht wissen, was sie drüben erwartet.“
„Aber die Munition, das haben wir inzwischen schon festgestellt, stammt einwandfrei aus Volksarmeebeständen“, fuhr Grabach sein zweites Geschütz auf. „Und wie wir wissen, wurden die RAF-Terroristen von der DDR mit Waffen und Munition beliefert.“
„Da ist was dran“, sagte Frey stirnrunzelnd. „Auf jeden Fall ist es interessant, festzustellen, wer da seine Finger mit im Spiel hat.“
„Sie dürfen auch nicht vergessen, daß Eichborn ein hohes Tier war“, fügte Grabach hinzu. „Er wurde von hinten erschossen, die Hände auf den Rücken gefesselt. Wie bei einer Hinrichtung. Politische Motive sind da nicht auszuschließen.“
„Dann geben Sie mal den Krempel her“, resignierte Frey. „Ich werde ein paar Leute auf den Fall ansetzen. Wenn es aber ein Windei ist, ziehe ich Sie zur Verantwortung – in Form von zwei Kästen Bier, die Sie in unsere Abteilung liefern.“
„Dafür kann ich garantieren“, sagte Grabach lächelnd und reichte Frey einen Aktenordner. „Hier sind alle Fakten festgehalten. Viel Glück!“
* * *
„Geschafft!“ ächzte Stockwell erschöpft, als er den stabilen Metallkoffer verschloß. Es war ein schönes Stück Arbeit gewesen, einen Beschleuniger zu konstruieren, der von den Maßen her zu dem Minireaktor paßte. Doch zuvor mußte er sich überzeugen, daß der kombinierte Elektronen-Neutronenfluß von den Transformatorstationen auch wirksam weitergeleitet wurde. Das wiederum erforderte neue Experimente, die einiges an Zeit kosteten. So mußte er unter anderem eine Versuchsleitung aufbauen, die in Abständen von Transformatoren verstärkt wurde – wie bei einem richtigen Telefonnetz. Operation gelungen – Meerschweinchen tot. Besser konnte es nicht laufen! Etwas schwieriger war es da schon, den Beschleuniger auf ein Miniformat zu verkleinern. Am Ende kam dabei der Koffer heraus.
Ein weiteres Problem stellte die Impulsstärke dar, für die es einen Mittelwert zu finden galt, da er nicht wissen konnte, von welchem Anschluß das Telefonat per Glasfaser- oder Kupferkabel, möglicherweise sogar kombiniert, weitergeleitet wurde. Der unterschiedliche Widerstand hätte der Grund für ein eventuelles Durchschmoren der Leitung sein können. Doch es war, verglichen mit den anderen Schwierigkeiten, für ihn kein unüberwindliches Hindernis mehr, diesen letzten Versuch erfolgreich zu beenden, auch wenn dabei nochmals zwei Meerschweinchen daran glauben mußten. Diese armen Viecher taten ihm zwar leid, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie ein schnelles Ende fanden – im Gegensatz zu den unnützen, tierquälerischen Experimenten, in den Labors der Pharmaindustrie.
Jetzt mußte er nur noch die Spuren seiner Arbeit beseitigen, aus denen die Kollegen hätten Schlüsse ziehen können, welche Entdeckung ihm an diesem Wochenende gelungen war. Deshalb brachte er zuerst einmal sämtliches Gerät samt Material ins Lager zurück. Dann ließ er die toten Meerschweinchen im Müllschlucker verschwinden. Die Aufzeichnungen und Notizen wanderten zusammen mit den Computerausdrucken in den Reißwolf. Zum Schluß packte er die wichtigsten Disketten in eine Box und versah die restlichen mit einem Virus, der das Betriebssystem der Computer würde „abstürzen“ lassen. Damit war für ihn das Projekt N 1, zumindest in diesem Land, gestorben. Man hatte versucht, ihn zu linken, nun sollten die Herren auch dafür die Konsequenzen tragen! Genugtuung machte sich in ihm breit. Wenn sie vorhatten, später das Projekt wiederzubeleben, würde es mindestens ein bis zwei Jahre dauern, bis der alte Stand erreicht wäre.
Aus einem mannshohen Tresor, dessen Nummernkombination nur er kannte, entnahm er einen zweiten Koffer, in dem sich der Minireaktor befand. Auch den dazugehörigen Plastikordner mit den Konstruktionsunterlagen sowie einige andere Aufzeichnungen, die er als Anfangskapital für eine neue berufliche Zukunft verwenden wollte, holte er heraus. Dann schleppte er alles in den Aufzug und fuhr damit in das sechste Tiefgeschoß, wo sich die Garage befand. Die Koffer hatte ein ziemliches Gewicht und es war für ihn nicht leicht, sie über die hohe Ladekante seines Landrovers zu wuchten. Zur Tarnung drapierte er noch einige herumliegende Utensilien darüber, so daß sie nicht mehr zu sehen waren. Die Wachtposten kontrollierten in letzter Zeit sowieso recht schlampig, weil der monotone Dienst auf Dauer ganz einfach dazu verführte. Von denen hatte er kaum etwas zu befürchten.
Als er gerade in den Wagen steigen und losfahren wollte, fiel ihm ein, daß sein Cassettenrecorder noch im Büro lag. Verdammter Leichtsinn! In dieser Situation durfte er sich nicht den geringsten Fehler erlauben! Flugs ließ er sich vom Lift nach oben tragen und eilte ins Büro. Den Recorder in der Jackentasche, stand er kurz später auf dem Flur, als ihm noch eine andere Sache in den Sinn kam: die Funkwanze! Was war er doch bloß für ein Idiot! Also schnell rein in v. Artenbergs Büro, zu dem er einen Nachschlüssel besaß, und die Wanze entfernt! Bei dieser Gelegenheit kam ihm die Idee, in seines Widersachers Telefonregister nach der Nummer dieses ominösen Velberkamp zu suchen, doch zu seinem Leidwesen fand er nichts dergleichen.
Schade! Die Sache wäre in einem Aufwasch gegangen. Die Privatnummer v. Artenbergs hatte er zwar in seinem Notizbuch eingetragen, aber an die Nummer des BND-Typen zu kommen, dürfte sich äußerst schwierig gestalten. Solche Leute standen in der Regel nicht im Telefonbuch. Aber vielleicht gelang es ihm, ihn in seiner Dienststelle zu erreichen. Ob er jedoch damit Erfolg haben würde, stand in den Sternen. In der Zentrale saß bestimmt eine Telefonistin, die den Auftrag hatte, alle unbekannten Anrufer aus Sicherheitsgründen charmant abzuwimmeln. Einen Herrn dieses Namens gäbe es leider nicht... Aber hinterlassen Sie doch bitte Ihre Telefonnummer... Für alle Fälle... Man würde ihn überprüfen und mißtrauisch werden. Schnapsidee! Ideal wäre es natürlich, an Velberkamps Durchwahl zu gelangen.
Stockwell versuchte sich an das abgehörte Telefonat zu erinnern. Wie lief das doch gleich wieder ab? Ach ja... v. Artenberg hatte Velberkamp angewählt... Aber kurz zuvor hatte er die Aufnahmetaste des Recorders gedrückt... Er hieb sich mit der Hand vor die Stirn. Warum war ihm dieser Umstand nicht schon eher aufgefallen? Einfach bescheuert! Manchmal sah er den Wald vor lauter Bäumen nicht!
Zielstrebig begab er sich in einen Raum, in dem zwei große Studio-Tonbandgeräte standen. Damit wurden Versuche im Bereich der Frequenzmodulation akustisch aufgezeichnet und später ausgewertet. Er verband den Recorder per Kabel mit einem der Geräte und überspielte den Gesprächsanfang auf eine Bandspule. Anschließend ließ er das Band mit der langsamsten Geschwindigkeit ablaufen und siehe da – die Wählimpulse wurden im Lautsprecher deutlich wiedergegeben. Durch die verlängerten Intervalle war es für ihn ein Leichtes, Velberkamps Nummer festzustellen und auf einen Zettel zu notieren. Sorgfältig beseitigte er die Spuren seiner Anwesenheit und ging zum Aufzug. Während ihn der Elevator nach unten beförderte, überlegte er seine nächsten Schritte. Eines aber stand für ihn fest: er hätte beinahe einige gravierende Schnitzer begangen! Derartige Fehler durften ihm nie wieder unterlaufen, wenn er sich weiterhin bester Gesundheit erfreuen wollte!
* * *
Das Schnarchen im Wohnmobil steigerte sich allmählich zu einem Fortissimo, als Wassili Pilajew, der gerade Wache hatte, die Schläfer unsanft aus ihren Träumen riß.
„Los! Aufstehen!“ rief er und schüttete allen dreien aus einer Karaffe Wasser ins Gesicht. „Er ist soeben angekommen!“
Dassler fuhr, ebenso wie die anderen, von seiner Liegestatt hoch. „Bist du verrückt?“ schimpfte er. „Das machst du nicht noch einmal!“
„Jetzt ist keine Zeit, um zu streiten“, sagte Pilajew kurzangebunden. „Ihr solltet möglichst schnell einen klaren Kopf bekommen.“
„Ist ja schon gut“, beruhigte sich Dassler. „Wußte bloß im ersten Moment nicht, was passiert ist. Diese verdammte Wodkasauferei bringt uns noch um den Verstand!“
„Genau den brauchen wir jetzt“, meinte Pilajew. „Es darf keine Panne geben. Denkt an die beiden Amerikaner!“
„Als ob ich das nicht wüßte“, knurrte Dassler. Für seinen Geschmack übernahm Pilajew zu sehr die Initiative. „Schließlich habe ich die Dossiers besorgt.“
„Kannst du sehen, was er macht?“ fragte Maslowski.
„Er hat den Wagen in die Garage gefahren und kehrt nun zurück, um das Gartentor zu verschließen“, antwortete Pilajew.
„Sehr gut“, freute sich Dassler. „Dann hat er auch nicht vor, in der nächsten Zeit wegzufahren. Wie spät ist es eigentlich?“
„Viertel nach zehn“, sagte Behrendt, wobei er nicht den Morgen meinte.
„Bis Montagmittag müssen wir ihn abgeliefert haben“, übernahm Dassler wieder seine Führungsrolle. „Machen wir uns an die Arbeit. Jeder von euch weiß, was er zu tun hat.“
* * *
Müde, aber dennoch zufrieden, verschloß Stockwell die Haustür und genehmigte sich im Wohnzimmer noch einen Whisky, der seine innere Anspannung lösen und ihn zu einem ruhigen Schlaf verhelfen sollte. Die letzten Tage hatten seiner Widerstandsfähigkeit sehr viel abverlangt, doch seine Ausdauer war belohnt worden. Er stellte den Radiowecker auf sieben Uhr und haute sich in die Falle. Nach wenigen Minuten ergriff tiefer Schlaf von ihm Besitz.
Und so bemerkte er nicht, daß kurz darauf drei Gestalten in sein Schlafzimmer eindrangen. Ein äthergetränkter Wattebausch wurde ihm auf das Gesicht gepreßt, während kräftige Arme ihn festhielten und seine aufflammende Gegenwehr im Keim erstickten. Dann erschlaffte er und versank endgültig im Reich der Träume.
Als er nach einigen Stunden, von einem kontinuierlichen Rütteln geweckt, die Augen aufschlug, verhielt er sich erst einmal ruhig. Er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und es fiel ihm schwer, sich an die vorausgegangenen Ereignisse zu erinnern. Doch so nach und nach kehrte sein Denkvermögen zurück. Also hatte man den Montag gar nicht erst abgewartet, sondern darauf gelauert, daß er das Institut verließ und nach Hause fuhr. Aber was hatte dieser Aufwand zu bedeuten? Wenn man ihn schon liquidieren wollte, so hätte man doch dazu die beste Gelegenheit gehabt, als er noch schlief. Oder brachte man ihn nur deshalb an einen anderen Ort, um ihn für alle Zeiten verschwinden zu lassen? Das würde natürlich die Nachforschungen erheblich komplizieren. Vielleicht war man ihm aber auch auf die Schliche gekommen und brachte ihn zum Verhör, mit der Absicht, alles Wissenswerte aus ihm herauszupressen.
Vorsichtig versuchte er, seine Arme zu bewegen, mußte aber feststellen, daß er mit Handschellen gefesselt war. Er schloß die Lider zu einem Spalt und drehte den Kopf unmerklich ein Stück zur Seite, um sich ein Bild über seine Situation zu machen. Was er sah, hatte er insgeheim erwartet: es war das Innere eines sehr geräumigen Wohnmobils. In der Mitte befand sich ein Tisch, an dem zwei Männer saßen. Eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er bemerkte, daß darunter seine beiden Koffer standen. Wie, zum Teufel, waren diese Kerle bloß daran gekommen? Er hatte sie doch in den Keller gebracht und zu all den anderen elektronischen Apparaten gestellt, mit denen er manchmal in seiner Freizeit herumexperimentierte.
Stockwells Blick wanderte wieder zu den beiden Figuren am Tisch. Einer von ihnen hatte vom Gesicht her das typische Aussehen eines Slawen, aber seine schwarzgelockten Haare glichen mehr denen eines Südländers. Den anderen, der sich gerade mit einem Laptop beschäftigte, konnte er allerdings nicht so recht einschätzen. Er war blond und seiner tiefen Bräunung nach ein Fan von Turbo-Sonnenbankstudios. Aber die Diskettenbox neben dem Computer kam ihm doch recht bekannt vor. Verfluchte Hunde! Was hatten sie noch alles entdeckt? War er womöglich dem KGB in die Hände gefallen? Wenn ja, würde man bestimmt darauf achten, daß er mit heilen Knochen nach Moskau kam, denn immerhin hatte er ja was zu bieten. Und genau das war der Punkt, wo er den Hebel ansetzen konnte. So leicht sollten es diese Schweine nicht mit ihm haben!
„Das ist mir zu kompliziert!“ brach der Turboknabe das Schweigen. „Ich blicke beim besten Willen nicht durch.“
Der sächsische Dialekt ließ Stockwell aufhorchen. Mittlerweile war er sehr wohl in der Lage, anhand des Idioms zu bestimmen, aus welcher Ecke Deutschlands jemand stammte. Dieser Vogel kam einwandfrei aus der Ex-DDR. Wahrscheinlich ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, der es immer noch mit dem KGB hielt. Von dieser Sorte lief noch jede Menge unbehelligt frei herum.
„Was ist denn daran so schwierig zu verstehen?“ fragte der slawische Typ spöttisch. „Bist du nun der Elektronikfachmann – oder nicht?“
„Bin ich auch“, erwiderte der Turbo sauer. „Aber das kapierst du primitiver Russenschädel sowieso nicht, wenn ich dir nun erkläre, um was es dabei geht, denn dort, wo du herkommst, reitet man ja noch auf Wildsäuen zur Arbeit.“
„Du kannst gleich eine gewischt bekommen!“ zischte der Russe böse. Die Anspielung auf seine rückständige Heimat hatte seine wunde Stelle getroffen.
„Hört mit der blöden Streiterei auf!“ vernahm Stockwell eine Stimme aus der Führerkabine, deren Besitzer er aber nicht sehen konnte, weil ihm eine Wand mit halbgeöffneter Schiebetür die Sicht versperrte. „Ist das Zeugs denn wirklich so schwer zu begreifen?“
„Worauf du gewaltig einen lassen kannst!“ antwortete der Turbo. „Der verdammte Mist besteht in der Hauptsache aus irgendwelchen Formeln und Zeichen, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann, auch wenn sich dazwischen manche Schaltschemen befinden, die sich wiederum auf Anhieb lesen lassen. Aber insgesamt ergibt es für mich überhaupt keinen Sinn.“
Die Schiebetür ging vollends auf und herein trat ein großer, kräftig anzusehender Mann mit braungewelltem Haar. Sein nach unten gezogener Schnauzbart und die langen Koteletten ließen ihn fast wie einen Zuhälter aussehen, was ihn nicht gerade sympathisch machte. Instinktiv wußte Stockwell sofort, daß er den Anführer der Bande vor sich hatte. Er schloß die Lider und wagte es kaum zu atmen, als er den prüfenden Blick dieses unangenehmen Kerls auf sich gerichtet sah.
„Hast du nicht wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon, was es darstellen soll?“ hörte er den Typen sagen und ein Ächzen der Sitzbank verriet ihm, daß dieser sich niedergelassen hatte.
„Weiß nicht“, kam es von dem Turbo. „Vielleicht ein neuartiges Antriebsaggregat, möglicherweise auch eine Atombombe. Was glaubst du, warum ich an den Dingern nicht herumspiele? Ich habe keine Lust, mit Karacho in die Luft zu fliegen!“
„Dann werden wir es wohl aus ihm herauskitzeln müssen“, sagte der Russe und machte mit dem Daumen eine Geste in Stockwells Richtung. Der Ton in seiner Stimme verhieß nichts Gutes. „Ich werde ihn schon zum...“
„Dazu ist jetzt leider nicht mehr die Zeit“, fuhr ihm Dassler ins Wort. „In ungefähr einer Stunde werden wir ankommen. Dann müssen wir erst das Haus mit dem Anlegesteg finden. Das Umladen und die anschließende Bootsfahrt werden auch noch eine Weile dauern. Außerdem glaube ich nicht, daß du ihn mit Gewalt so einfach zum Reden bringen wirst. Um das zu erreichen, muß man diffizilere Methoden anwenden, aber die brauchen nun mal ihre Zeit.“
„Auf welche Weise können wir sonst noch zusätzliches Kapital aus dem Material schlagen?“ fragte der Russe.
„Ich werde Malanjuk ein wenig unter Druck setzen“, gab sich Dassler optimistisch. „Für ihn tun sich da bestimmt noch neue finanzielle Perspektiven auf, wenn er zugleich auch Ergebnisse mitliefert. Das müßte ihm eigentlich einen Extrabonus wert sein.“
„Dazu kann ich euch nur sagen, daß dieses Material mit Sicherheit eine revolutionäre Erfindung ist“, ließ sich der Sachse vernehmen. „Ich glaube, der Kerl wollte sich absetzen und den Krempel anderweitig verhökern, nachdem das Projekt geplatzt ist. Der Inhalt dieser Koffer ist bestimmt keine Freizeitbastelei, sondern das Modernste vom Modernen. Mich wundert nur, wie er das Zeugs aus dem Institut schmuggeln konnte.“
„Bloß gut, daß wir ihm zuvorgekommen sind“, grinste Dassler. „Ein paar Stunden später – und er wäre weg gewesen.“
„So ist das also!“ dachte Stockwell bitter. „Da bin ich, wie das alte deutsche Sprichwort so schön sagt, vom Regen in die Traufe gekommen! Oder vielleicht doch nicht so ganz? Immerhin wollen sie ja mich und mein Wissen verschachern. Aber dazu muß ich doch am Leben bleiben. Wenigstens sind die Brüder nicht vom KGB, wie ich anfangs befürchtet hatte. Wahrscheinlich ist dieser zusammengewürfelte Haufen ein Stasi-Relikt, der auf eigene Rechnung arbeitet. Daher auch die präzisen Informationen. Dem Reden nach ist dieser Malanjuk ihr Auftraggeber, aber ich möchte nur zu gerne wissen, welche Macht in Wirklichkeit hinter ihm steht. Die Russen? Die Chinesen? Saddam Hussein? Die Ayatollahs? Na ja... Spätestens dann, wenn sie mich ausgeliefert haben, werde ich es erfahren. Die Entführung hat zumindest den Vorteil, daß ich mich nicht mehr ins Ausland durchkämpfen muß. Aber die Kehrseite der Medaille ist ein Leben in Gefangenschaft. Es wird nahezu unmöglich sein, erneut auszubüchsen. Man steckt mich wahrscheinlich in ein komfortables Gefängnis, das gleichzeitig mein neuer Arbeitsplatz ist und verspricht mir das Blaue vom Himmel, um mich zu motivieren. Aber letztendlich wird man mich mit einem anonymen Grab auf dem Armenfriedhof entlohnen. Soweit darf ich es nicht kommen lassen! Ich muß sie unbedingt austricksen!“
Doch soviel er auch nachdachte, es fiel ihm keine brauchbare Lösung ein. Was konnte er denn schon in seinem Zustand gegen vier Leute ausrichten? Informationen bekam er nun auch keine mehr, da sich der Boß wieder nach vorne zu dem Fahrer gesellt hatte und die beiden anderen es vorzogen, sich in Schweigen zu hüllen. So hieß es also für ihn, seine Situation vorläufig zu tolerieren und eine günstige Gelegenheit abzuwarten.
Nach einiger Zeit verlangsamte der Fahrer die Geschwindigkeit. Stockwell wurde eine gute Viertelstunde lang hin- und hergeschüttelt, was ihn zu der Annahme verleitete, daß sie sich nicht mehr auf der Autobahn befanden und das Ziel bald erreicht sein müßte.
Der Wagen wurde angehalten und zum ersten Mal erblickte er den Fahrer, der nach hinten kam, um sich aus der Hausbar zu bedienen. Er war ein gedrungener Mann mit gewaltigen Oberarmen und einem Stiergenick. Der Vergleich mit einem Zuchtbullen drängte sich förmlich auf.
„Den kann ich jetzt ab“, sagte er und goß sich einen Wodka hinter die Binde. „Zurückfahren kann wer will – mir reicht's für heute!“
„Noch sind wir mit der Arbeit nicht fertig!“ Der Anführer hatte unbemerkt die Wohnkabine betreten und nahm dem Bullen die Flasche aus der Hand. „Saufen können wir später, wenn es einen Grund zum Feiern gibt. Sieh' nach, ob er schon wach ist.“
Stockwell wußte, daß es ihm nichts einbrachte, wenn er sich weiterhin schlafend stellte, und so schlug er mit gespieltem Erstaunen die Augen auf, als ihn der Herkules an der Schulter rüttelte.
„Was... Was ist passiert...? Wo bin ich...? Wer sind Sie...?“ stellte er die üblichen Fragen, wie sie in jedem Kriminalroman vorkamen.
„Das geht dich einen Dreck an!“ bekam er von dem Bulligen zu hören. „Wenn du tust, was wir dir sagen, passiert dir nichts.“
„Aber was...?“
„Hören Sie zu“, sagte der Chef der Bande, „wir fragen, Sie antworten. Wenn Sie störrisch sind, drehen wir Sie durch die Mangel.“ Mit einer herrischen Geste deutete er auf die Alu-Koffer unter dem Tisch. „Also, was befindet sich in den Koffern?“
„Eine Mini-Neutronenbombe mit Zünder“, log Stockwell, weil er annahm, daß sie ihm eher glaubten, wenn er dick auftrug. Zudem würden sie die Koffer mit einem Heidenrespekt behandeln.
„Hab' ich's dir nicht gesagt, René?“ rief der Sachse und kicherte irre. „Ich wußte doch, daß das Zeugs arschgefährlich ist!“
„Keine Namen, du Trottel!“ schimpfte der Boß.
„Ach, was kann er uns denn noch groß anhaben?“ fragte der Sachse beleidigt.
„Es geht um das Prinzip, du Spinner! Solche Sitten lasse ich erst gar nicht einreißen! Das ist auf die Dauer zu gefährlich!“ René wandte sich wieder an Stockwell: „Sind die Konstruktionspläne auf den Disketten gespeichert?“
„Teile davon“, antwortete Stockwell und bemühte sich, einen niedergeschlagenen Eindruck zu machen. Seine Rechnung, sogleich eine Wahrheit der Superlative zu präsentieren, schien aufzugehen. Diese ausgebufften Vögel dachten anscheinend nichr einmal im Traum daran, daß er sie womöglich behumbst haben könnte.
„Ausgezeichnet.“ René rieb sich die Hände. „Nimm ihm die Handschellen ab und bring ihn aufs Boot“, befahl er dem Bullen. Dann wandte er sich an den Rest der Bande: „Und ihr tragt ganz vorsichtig die Bombe hinterher.“ Er nahm die Diskettenbox samt einem Ordner, den Stockwell als sein Eigentum erkannte, und ging voraus.
Der Bulle machte Stockwell vom Bett los und zwang ihn mit vorgehaltener Pistole, dem Boß zu folgen. Seine Handgelenke reibend, um die Blutzirkulation anzuregen, kletterte er aus dem Wagen. Das Licht der Morgensonne blendete ihn und für einen Augenblick blieb er stehen. Ein Stoß mit dem Pistolenlauf ließ ihn vorwärtsstolpern.
„Wenn ich dich zwischen die Finger kriege“, dachte er grimmig, „verarbeite ich dich zu Hacksteak – da nützt dir auch deine ganze Bullenkraft nichts mehr, du Stinktier!“
Einen großen Garten durchquerend, vorbei an einer zweistöckigen Villa, kamen sie zu einem Bootsanlegesteg, an dem eine zehn Meter lange Kajütjacht vertäut lag. Stockwell wurde unter Deck gebracht und mit den Handschellen an eine Couch gekettet.
„Ihr beide seht nach, ob der Kahn sauber ist“, bedeutete René den Kofferträgern, die sogleich dem Befehl nachkamen. „Und du gehst in den Führerstand und machst dich schon mal mit den Armaturen vertraut“, scheuchte er den Bullen, bevor dieser es sich in einem Sessel bequem machen konnte. „Du weißt doch mit so einem Ding umzugehen?“
„Aber sicher. Ich war immerhin zwei Jahre lang bei der Marine.“
„Gut. Hier ist der angegebene Kurs.“ René gab ihm einen Zettel. „Wenn alles glatt verläuft, werden wir in eineinhalb Stunden auf die 'San Francisco V' treffen. Dieser feige Sack! Weil er Schiß vor der Polizei hat, ankert er mit seinem Luxuskahn sechzig Kilometer vor der Küste. Wir können für ihn den Kopf hinhalten und er ist fein raus, falls was schiefgeht. Na ja... Wenigstens hat er dafür gesorgt, daß ein Boot bereitsteht. Aber ich... Verdammt! Was war das?“
Eine Serie von Schüssen ließ die beiden herumfahren. Blitzschnell zogen sie ihre Pistolen und rannten zur Kabinentür. Hastig erklommen sie die Stufen zum Deck und waren in Windeseile aus Stockwells Sichtbereich verschwunden. Nach einigen Minuten kamen sie zurück, den Sachsen in ihrer Mitte. Er blutete am linken Unterschenkel und mußte gestützt werden. Sie ließen ihn vorsichtig in den Sessel gleiten. Der Bulle ging zur Schiffsapotheke und holte Verbandszeug heraus.
„Ist nur ein Streifschuß“, stöhnte der Sachse, als der Bulle ihn verarztete. „Es geht mir gleich wieder besser. Was ist mit Wassili?“
„Dem ist nichts geschehen“, antwortete René und überging geflissentlich des Sachsen zweite Unvorsichtigkeit, einen Namen zu nennen. „Einer von den Schweinen lebt noch. Wassili wird ihm ganz genüßlich die Haut abschälen, wenn er nicht ausspuckt, was wir von ihm erfahren wollen. Darauf versteht er sich bestens. Das hat er den Mudjaheddin in Afghanistan abgeguckt.“ Gönnerhaft klopfte er dem Sachsen auf die Schulter. „Hast dich gut geschlagen, Kumpel!“
„Sie hatten sich im Maschinenraum versteckt. Drei Mann mit MP's. Es ging so schnell, daß ich bis jetzt noch nicht weiß, wie wir daß geschafft haben“, erzählte der Sachse und kippte ein Glas Cognac, das ihm der Bulle reichte, hinunter. „Ich dachte schon, mein letztes Stündchen hätte geschlagen.“
Ein weiterer Schuß ertönte und kurz darauf kam Wassili die Treppe herunter. „Sie hatten den Auftrag, uns gleich nach der Übergabe umzulegen und im Meer zu versenken“, erzählte er mit triumphierendem Grinsen. „Exilukrainer. Die mag ich ganz besonders. Dein Freund Malanjuk wollte sich die zweite Million sparen.“
„Diese fette Ratte war noch nie mein Freund!“ Haßerfüllt bleckte René die Zähne. „Dafür bringe ich ihn um! Ich werde ihn in lauter kleine Stücke reißen! Das hat er nicht umsonst gemacht!“
„Was sollen wir jetzt tun?“ fragte Wassili.
„Wir werden die Sache genauso durchziehen, wie sie geplant war“, bestimmte René und seine Augen funkelten böse. „Nur mit dem Unterschied, daß Martin“, er deutete auf den Sachsen, „die Rolle Stockwells übernehmen wird. Malanjuk hat beide noch nie gesehen, also wird er auch keinen Verdacht schöpfen. Wenn wir an Bord sind, knallen wir die Hunde ab – bis auf Malanjuk – den habe ich für eine Sonderbehandlung vorgesehen.“
„Was hast du mit ihm vor?“ wollte Martin wissen.
„Er muß uns seinen Abnehmer preisgeben.“ René schwelgte in Vorfreude. „Dann schneide ich ihm die Eier ab. Wir haben die Million und später verscherbeln wir Stockwell für mindestens um das Zehnfache an Malanjuks Geschäftspartner. Na, wie findet ihr das?“
„Gute Idee!“ lachte Wassili. „Aber da stellt sich das Problem der Kontaktaufnahme. Was ist, wenn der Kunde uns mißtraut? Wir wissen ja auch noch gar nicht, in welches Land wir Stockwell dann ausliefern müssen. Möglicherweise haben wir bei dieser Transaktion mehrere Grenzen zu überwinden – das kann für uns sehr gefährlich werden.“
„Daran habe ich auch schon gedacht.“ René bewies nun, warum er der Anführer war. „Egal, wer Stockwell haben will, ist bereit für ihn zu bezahlen. Also muß man sich wohl oder übel mit uns arrangieren. Gregor wird Stockwell in der Villa bewachen, weil ich nicht möchte, daß ihm bei einem Schußwechsel etwas passiert. Tot läßt er sich sehr schlecht verkaufen. Wir entern die Jacht und halten sie besetzt. Somit sind wir beweglich. In der Zwischenzeit trommelt Gregor noch einige zuverlässige Kameraden der alten Garde zusammen, denn für solch einen Kreuzer braucht man eine gute Besatzung. Wenn sich dann alle eingefunden haben, schipperst du mit dem Boot zur Villa und setzt sie zur Jacht über – einschließlich Stockwell und der Bombe.“
„Wie soll ich mit dir Kontakt aufnehmen, wenn du auf der Jacht bist?“ fragte Gregor. „Und warum muß ich hierbleiben? Soll doch Wassili ihn bewachen!“
„Du Blödmann!“ fauchte René. „Wir haben doch leistungsfähige Walkie-Talkies! Außerdem kennt Wassili unsere Freunde nicht. Und obendrein brauche ich ihn, weil er auch Ukrainisch versteht. Falls es nämlich bei der getürkten Übergabe Komplikationen gibt, ist er der einzige, der uns rechtzeitig warnen kann!“
Gesagt – getan. Stockwell wurde in die Villa geführt und an ein Treppengeländer gefesselt. Die Koffer samt Unterlagen brachte man ebenfalls herein. Er fragte sich, wieso die Schüsse keine Polizei auf den Plan gerufen hatten. Das kam vielleicht davon, daß die Detonationen unter Deck stark abgeschwächt wurden – zudem war ihm schon beim Aussteigen aufgefallen, daß das Anwesen ziemlich isoliert lag. Ein ideales Gelände, um ungestört allerlei düsteren Machenschaften zu frönen. Wo mochte er sich bloß befinden? An der Nordsee? Ostsee? Auf alle Fälle in Deutschland, das hatte sich aus dem Gespräch der Entführer ergeben, so wie er jetzt auch ihre Vornamen kannte. Derjenige, den sie René nannten, war seinem Empfinden nach der gefährlichste von ihnen. Den Russen durfte man zwar auch nicht unterschätzen, doch ihm fehlte das Improvisationsvermögen – ein brutaler Killer, der sich an der Hilflosigkeit seiner Opfer ergötzte, bevor er sie über den Jordan schickte. Wesentlich mehr Format besaß da René, weil er es trotz heftiger Emotionen verstand, bei unvorhergesehenen Zwischenfällen entsprechend zu reagieren. Diese Fähigkeit erhob ihn über die Komplizen und begründete seinen absoluten Führungsanspruch, auch wenn der Russe sich zeitweilig als ein ernsthafter Rivale zu entpuppen schien. Aber ohne Renés produktive Kriminalität wären sie alle aufgeschmissen, denn zum Aufbau einer schlagkräftigen Organisation gehört weitaus mehr, als nur schnell und treffsicher schießen zu können. Martin der Turbosachse und Gregor, der Bulle, waren eher als mehr oder minder verläßliche Mitläufer einzustufen, von denen jeder auf seinem Spezialgebiet glänzte.
Da saß er ganz schön in der Scheiße. Egal, ob dieser Malanjuk ihn einer unbekannten Macht ausliefern würde oder René – seine Chancen standen nicht zum besten. Besonders deprimierend an der Sache war, daß man ihn so kurz vor dem Ziel abgefangen hatte, wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Aber vielleicht ergab sich ja noch eine Gelegenheit, dies zu korrigieren...
***
Gregor verließ das Haus und Stockwell konnte durch die breite Fensterfront beobachten, daß er zum Wohnmobil ging. Probeweise rüttelte er am Geländer, doch es war aus massivem Schmiedeeisen gefertigt und gab nicht nach. Suchend blickte er sich in seinem Gefängnis um, das auf treudeutsche Manier mit Wohnzimmermöbeln in Eiche rustikal eingerichtet war. In der Mitte befand sich eine wuchtige Sitzgruppe mit gefliestem Tisch. Die linke Wand war ausgefüllt von einem Bücherregal, das bis an die Decke reichte. Die rechte Seite wurde unterbrochen von einer Tür, die man mit schweren Beschlägen versehen hatte, so daß sie dadurch ein antiquiertes Aussehen bekam. Eine verspiegelte Hausbar, deren abgerundete Theke einen Meter vor der Tür endete, brachte ein wenig Pfiff in den ansonsten so konservativ ausgestatteten Raum.
Entweder besaß dieser Malanjuk einen Allerweltsgeschmack oder die Villa gehörte einem seiner Geschäftsfreunde, der sie ihm aus Gefälligkeit für ein paar Tage zur Verfügung gestellt hatte. Stockwell nahm Letzteres an, obwohl er Malanjuk nicht kannte. Aber dubiose Geschäftemacher seines Schlages, das war allgemein bekannt, riskierten bei derartigen Unternehmungen selten ihr Hab und Gut.
Mittlerweile hatte Gregor wieder den Raum betreten, unter dem Arm einen Laptop geklemmt. „Die sind gut ausgerüstet“, dachte Stockwell. „Für meine Disketten hatten sie noch einen anderen Computer verwendet.“
Gregor schloß den Computer an einer Steckdose an und holte von der Bar eine Flasche Wodka. Dann flegelte er sich in einen Sessel und schaltete das Gerät ein, das piepsend zum Leben erwachte.
„Ich habe da ein ganz großes Problem“, riß Stockwell ihn aus seiner Konzentration.
„Was willst du?“ fragte Gregor barsch, verärgert über die Störung.
„Ich war seit mindestens zehn Stunden nicht mehr auf dem Klo“, beschwerte sich Stockwell. „Irgendwann einmal muß der Mensch ja. Außerdem könnte ich 'ne ordentliche Portion zum Essen vertragen.“
„Das mit dem Klo geht in Ordnung“, sagte Gregor und stand auf. „Ich möchte nicht, daß du mir noch die Bude vollkackst. Aber das Essen kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Ich habe momentan viel zu tun.“ Er zog seine Pistole und richtete sie auf Stockwell. „Ich werde jetzt die Handschellen aufschließen. Wenn du Kinkerlitzchen machst, puste ich dich aus.“
Er führte Stockwell hinaus auf den Flur, zu einem Badezimmer mit Toilette. Bevor er ihn eintreten ließ, überprüfte er noch den Raum auf eventuelle Fluchtmöglichkeiten. Es gab zwar ein hochliegendes Fenster, doch das war zu klein, als daß sich der Gefangene hätte durchzwängen können.
„Vergiß nicht, ich werde draußen auf dich warten“, hielt ihm Gregor nochmals die Aussichtslosigkeit seiner Lage vor Augen. „Die Tür bleibt unverriegelt. Beeil' dich!“
Stockwell trat ein und sah sich sondierend um. Was er suchte, war ein Gegenstand, den er als Waffe benutzen konnte. Fehlanzeige. Er befand sich in einem stinknormalen Bad. Also setzte er sich zuerst einmal auf die Brille und schmetterte, was das Zeug hielt, denn er hatte wirklich dringend gemußt. „Wenn der Druck in den Gedärmen nachläßt“, sagte er sich, „kehrt auch die Denkfähigkeit wieder zurück“. Viel Zeit hatte er nicht mehr, um einen Ausweg zu finden. Sein Blick richtete sich auf eine Waschmaschine, die mittels eines Verlängerungskabels mit der Steckdose verbunden war. Sofort durchzuckte ihn ein irrer Gedanke. Da ließe sich was machen! Seine Augen wanderten zu einem Spiegelschrank, der über dem Waschbecken hing – nun hatte er die endgültige Gewißheit!
Schnell beendete er sein „Geschäft“ und ohne einen Laut zu verursachen, trennte er das Kabel von Waschmaschine und Steckdose. Dann betätigte er die Spülung, um mögliche andere Geräusche zu übertönen. Mit einer Augenbrauenpinzette, die er im Spiegelschrank fand, schraubte er die Steckerbuchse vom Kabel, so daß die Drähte blank lagen. Gehetzt schaute er zur Tür. Wenn jetzt Gregor hereinkommen würde, wären sämtliche Bemühungen im Eimer.
In Windeseile nahm er den Stecker vom anderen Ende des Kabels und drückte ihn in die Dose des Spiegelschranks, welche für den Anschluß eines Föhns oder Rasierapparates vorgesehen war. Jetzt hieß es beten! Wenn es sich nämlich bei diesem Schrank um ein neueres Modell handelte, stand die Steckdose auch bei ausgeschaltetem Licht unter Strom, aber das wäre für sein Vorhaben nicht dienlich. Zaghaft fuhr er mit der Hand über die bloßgelegten Kabelenden. Glück gehabt – kein Stromschlag! Um Zeit zu gewinnen, drehte er den Wasserhahn auf. Dann ritzte er mit einer Nagelfeile den Isoliermantel des Kabels ein und zerrte an den Drähten, bis sich der Mantel spaltete und die Drähte für seinen Zweck weit genug auseinanderstanden. Er befestigte Plus- und Minuspol an der Türklinke und spritzte eine Menge Wasser auf die Fliesen des Fußbodens. Siedendheiß fiel ihm ein, daß er den Lichtschalter des Spiegelschranks nicht auf seine Funktionstüchtigkeit überprüft hatte! Wenn das Ding defekt war, konnte er sich einsargen lassen! Aber er mußte es riskieren! Lieber gleich krepieren, als langsam in Gefangenschaft dahinzuvegetieren – mit dem ständigen Bild seiner Exekution vor Augen!
Er drehte den Wasserhahn ab und begann würgende Geräusche von sich zu geben, ähnlich denen eines sich Erbrechenden. Dabei hielt er die Tür im Auge, die Hand am Lichtschalter. Seine Taktik hatte Erfolg.
„He, was ist los mit dir?“ rief Gregor.
„Mir ist kotzübel!“ keuchte Stockwell und es wirkte überzeugend. „Die Sache ist mir auf den Magen geschlagen.“
„Ich komme jetzt rein“, kündigte Gregor sein Vorhaben an. „Solltest du ein krummes Ding vorhaben – vergiß es! Ich schieße sofort!“
Das war der Schwachpunkt, den Stockwell schon zu Anfang erkannt hatte: Gregor konnte es sich eigentlich gar nicht erlauben, ihn zu töten. Keine Ware – kein Geld. Das älteste Geschäftsprinzip. Er glaubte auch, in Gregors Stimme einen Touch von Unsicherheit herauszuhören, denn sein Anführer würde ihm gewaltig den Hintern aufreißen, wenn dem Verkaufsobjekt etwas zustoßen sollte.
Der Knall zerplatzender Glühbirnen, hervorgerufen durch den Kurzschluß, verschmolz mit dem der Pistole, die aus einer Reflexbewegung her von Gregor abgefeuert wurde. Der Stromstoß, verstärkt durch die Leitfähigkeit des Wassers am Fußboden, warf ihn zurück in den Flur, wo er regungslos liegenblieb. Stockwell sprang sofort hinterher und brachte sich in den Besitz der Pistole. Doch als er Gregors seltsam verdrehte Gestalt mit den gebrochenen Augen ansah, wußte er, daß die Angelegenheit vorerst ausgestanden war.
„Komisch“, dachte er ungerührt, während er den kleinen Kratzer verpflasterte, den das Projektil an seinem Hals hinterlassen hatte, „die stärksten Männer haben oft die schwächsten Herzen.“